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ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG: Der Fantasy-Klassiker!
ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG: Der Fantasy-Klassiker!
ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG: Der Fantasy-Klassiker!
eBook333 Seiten4 Stunden

ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG: Der Fantasy-Klassiker!

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Über dieses E-Book

Schwarz wie Tinte, weiß wie Frost – rot wie Blut.

Das Märchen von der guten Stiefmutter und dem bösen Schneewittchen; das Märchen von dem schlafenden Dornröschen, das man besser nicht aufgeweckt hätte; das Märchen vom Roten Tod um Mitternacht, der einfach nicht kommen wollte; und sechs weitere bizarre Geschichten zwischen Fantasy, Horror und Science Fiction – düster-melancholische Märchen, wie sie die Gebrüder Grimm nicht zu erzählen wagten.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum18. Okt. 2017
ISBN9783739690551
ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG: Der Fantasy-Klassiker!

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    Buchvorschau

    ROT WIE BLUT - DIE MÄRCHEN DER SCHWESTERN GRIMMIG - Tanith Lee

    Die Autorin

    Tanith Lee.

    (* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

    Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

    Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

    Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

    Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

    1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

    Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

    Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

    Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

    Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

    Das Buch

    Schwarz wie Tinte, weiß wie Frost – rot wie Blut.

    Das Märchen von der guten Stiefmutter und dem bösen Schneewittchen; das Märchen von dem schlafenden Dornröschen, das man besser nicht aufgeweckt hätte; das Märchen vom Roten Tod um Mitternacht, der einfach nicht kommen wollte; und sechs weitere bizarre Geschichten zwischen Fantasy, Horror und Science Fiction – düster-melancholische Märchen, wie sie die Gebrüder Grimm nicht zu erzählen wagten.

    Der Rattenfänger von Lindendorf

      (Asien: Letztes Jahrhundert v. Chr.)

      An dem späten Sommernachmittag lag der Fluss schmal und seicht zwischen den glattgeschliffenen Steinen Ein junges Mädchen kniete dort und wusch ihr langes schwarzes Haar. Sie hieß Cleci und war vierzehn Jahre alt.

      Oben auf dem linken Ufer standen dicht beieinander einige Linden. Ihre Blätter bedeckte eine feine Schicht von Sommerstaub, der wie Rauch in der Luft hing. Hinter den Bäumen lag die Siedlung, die man nach ihnen benannt hatte - Lindendorf. Es war ein großes, weitläufiges, wohlhabendes Dorf mit vielen engen Straßen und offenen Plätzen und inmitten der eigenen Weizenfelder gelegen. Auf der rechten Seite des Flusses endeten diese Felder an den zu Lindendorf gehörenden Weingärten, wo die roten Trauben an den Stöcken reiften.

    Lindendorf kannte auch den Grund für seinen Wohlstand. Man verehrte dort nämlich Raur, den Rattengott, und dafür hielt Raur sein Volk im Zaume. Mochten andere Ortschaften unter Ungeziefer zu leiden haben, das die Felder heimsuchte und in die Kornspeicher eindrang, nicht aber Lindendorf. In Lindendorf brachte man Raur Geschenke in seinen weißgetünchten Tempel bei der Furt, und nach der Ernte huldigte man ihm dankbar mit Weizengarben, Äpfeln und Wein.

    Beim letzten Frühlingsfest war Cleci, zusammen mit dreißig anderen jungen Mädchen, zur Jungfrau Raurs geweiht worden. Das geschah mit all den zahlreichen Töchtern des Dorfes, sobald sie um die vierzehn Jahre alt waren. Es bedeutet, dass sie das Allerheiligste betreten und zum ersten Mal einen Blick auf Raur werfen durften. Cleci fand ihn wunderschön, denn er war recht groß, aus reinweißem Marmor gemeißelt und hatte Augen aus rosafarbenen Opalen. Sein Rattengesicht wirkte klug und wohlwollend. Die reichen Leute des Dorfes hielten sich weiße Pelzratten in vergoldeten Käfigen, und Cleci hatte beschlossen, sich auch eine solche weiße Pelzratte anzuschaffen, mit der sie reden und spielen konnte. Sie begann die Münzen zu sparen, von denen sie selten genug eine bekam. Sie war die Tochter der Waschfrau, und ihr Vater war tot. Sie holte die schmutzige Wäsche ab, half dabei, sie in den Wannen mit kochend heißem Wasser zu waschen, im Hof zum Trocknen aufzuhängen, und trug sie anschließend wieder in die Häuser zurück, aus denen sie sie abgeholt hatte. Schon jetzt waren ihre Hände rau, und sie versteckte sie hinter ihrem Rücken, wenn sie zum Tempel ging, weil sie an Raurs seidenweiche Pfoten denken musste.

    Jeder fünfte Tag war der Verehrung des Gottes gewidmet, aber im Winter, im Frühling und im Spätsommer gab es ein großes Fest. Zu diesen Anlässen schmückte Lindendorf sich mit Bändern und Fahnen. Man aß und trank und tanzte in den Straßen. Raurs verschleiertes Bildnis wurde aus dem Tempel geholt - es war den Lindendorfern nur zu bestimmten Gelegenheiten gestattet, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten -, und die Priester trugen ihn auf ihren Schultern die Straßen hinauf und hinunter. Zu guter Letzt bewegte sich die Prozession über die Felder, um ihnen den Segen des Gottes zuteilwerden zu lassen. Wenn dann die Nacht hereinbrach, gab es Freudenfeuer und Gesang. Cleci freute sich auf das Sommerfest, das inzwischen bis auf einen Tag herangerückt war.

    Deshalb hatte sie sich auch für diese eine Stunde von der Arbeit davongestohlen, um sich die Haare zu waschen. Ihrer Mutter war Sauberkeit bei der Wäsche zahlender Kunden wichtiger. Aber Cleci hatte ihr Haar jetzt ausgespült, saß am Ufer und kämmte es trocken, bis die dunklen Strähnen in den breitgefächerten Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten. Während sie damit beschäftigt war, zählte sie in Gedanken ihre Münzen. Leider waren es nur zehn, und vom Zählen wurden es nicht mehr. Dabei würde sie ungefähr zwanzigmal so viel brauchen, um eine weiße Ratte von den Priestern kaufen zu können.

    Plötzlich verstummten all die Vögel in den Linden. Und ein neuer Vogel begann zu singen.

    Cleci hob den Kopf und fragte sich erstaunt, was das für ein Vogel sein mochte. Seine Stimme war reicher und volltönender als die jedes anderen Vogels, den sie bisher gehört hatte. Und, wenn möglich, noch lieblicher. Dennoch musste eine Vogelkehle diese Triller und perlenden Wasserfälle aus Musik hervorbringen, denn nur die Stimme eines Lebewesens konnte so natürlich klingen, so fremd und so wundervoll. Dann zerfloss die Melodie in eine doppelte Kaskade makellos harmonierender Töne, verfiel in einen wilden, tänzerischen Rhythmus und kam am rechten Flussufer entlang auf sie zu. Sie erkannte, dass es doch kein Vogel sein konnte. Unwillkürlich stand sie auf, um besser sehen zu können. Und so erblickte sie den Flötenspieler.

    Ein- oder zweimal waren in der Vergangenheit Musikanten - Flötenspieler, Lautenschläger - durch Lindendorf gekommen. Aber keiner von ihnen hatte gespielt wie dieser. Oder so ausgesehen wie dieser.

    Sein Haar reichte ihm bis auf die Schultern und war von einem eigenartigen dunklen Rot, wie sie es noch bei niemandem gesehen hatte. Auch wogte es bei jedem Schritt voll und geschmeidig um sein Gesicht, wie Gräser, Wolken oder Rauch im Wind... seine Haut war hell, ohne die mindeste Sonnenbräune und seine Augen so blau wie die Feme. Seine Hosen waren gleichfalls blau, aber blau wie ein stürmischer Himmel, und seine ärmellose Jacke hatte die dunkelrote Farbe von altem Wein. Die Flöte war aus hellem, glattem Holz und hing an einer Schnur um seinen Hals. Er war jung, doch irgendwo im Hintergrund seiner Augen wirkte er viel älter. Sein Lächeln aber zählte nicht mehr Jahre als Cleci.

    »Wer bist du?«, fragte er Cleci, nachdem er sie angelächelt und durch dieses Lächeln mit einer unbegreiflichen Freude erfüllt hatte.

    »Ich bin Cleci. Wer bist du?«

    »Wer glaubst du denn, der ich bin?«

    »Ich glaubte, ein Vogel würde singen.«

    »Ach«, sagte der Flötenspieler. Er legte den Kopf in den jungen, starken Nacken und blickte in die Baumkronen hinauf. Und auf einmal flogen drei oder vier Vögel von den Ästen, schwebten über den Fluss und ließen sich, sacht wie Blütenblätter, auf seinen Schultern nieder.

    »Oh«, meinte Cleci. »Oh.«

    »Oh, ja«, sagte der Flötenspieler. Die Vögel küssten ihn mit ihren scharfen, spitzen Schnäbeln auf die Lippen. Andere Vögel kamen herbei und hüpften vor seinen Füßen durch das Gras. Eine Schlange wand sich um sein Bein. Ein Schmetterling flatterte in seinem Haar.  

    »Oh«, seufzte Cleci.

    »Ich sah einen Tempel bei der Furt«, bemerkte der Flötenspieler. »Zu wem betet ihr dort?«

    Cleci blinzelte.

    »Zu Raur«, erwiderte sie mit unwillkürlichem Stolz in der Stimme. »Dem Rattengott.«

    »Warum?«, fragte der Flötenspieler.

    Eine große Stille breitete sich nach dieser Frage aus, als warte alles ringsum auf ihre Antwort.

    »Weil...«, antwortete Cleci. »Weil er seinen Geschöpfen verbietet, uns Schaden zuzufügen. Und weil - er schön ist.«

    »Ist er das?«

    Der Flötenspieler schaute sie an. Plötzlich schämte sie sich. Sie wusste nicht, weshalb. Sie sah zu Boden und sagte: »Entschuldigt mich bitte. Ich muss nach Hause.« Und dann drehte sie sich um und lief, geradewegs durch den seichten Fluss, über die schlüpfrigen Steine und das Ufer hinauf. Sie lief unter den Linden hindurch zum Dorf. Sie hatte Angst.

    Als sie bei dem kleinen Haus ihrer Mutter angelangt war, wurde sie von der Waschfrau gescholten. Weil sie davongelaufen war, weil sie ihr Haar gewaschen hatte. Während der gesamten Strafpredigt dachte Cleci an den Flötenspieler. Während des Abendessens dachte sie an ihn. Und als der Tag durch einen dunkelroten Spalt im Westen verschwand und im Osten das Blau des Abends heraufzog, dachte Cleci immer noch an ihn. Aber inzwischen war ihre Angst verflogen und hatte einer merkwürdigen Enttäuschung Platz gemacht. Sie glaubte jetzt, am Fluss eingeschlafen zu sein und ihn nur geträumt zu haben. Sie wagte nicht, ihrer Mutter davon zu erzählen, denn ihre Mutter würde sie höchstens noch einmal ausschimpfen. Weil sie geträumt hatte, und dann auch noch von einem jungen Mann. Oder war er gar nicht so jung, wie er aussah? Konnte es möglich sein, dass er so alt war wie dieses Etwas in seinen Augen? »Du«, würde ihre Mutter sagen, »hast mit zehn Jahren davon geträumt, eine Prinzessin zu sein. Wenn ich einmal eine Prinzessin bin, hieß es dauernd. Die Arbeit mit der Wäsche hat dich davon kuriert. Dann wolltest du eine Priesterin Raurs werden. Als ob sie dafür jemanden, ob Junge oder Mädchen, nehmen würden, der nicht aus eines reichen Mannes Hause stammt. Dann, als dir an dem Tag deiner Weihe zur Dienerin Raurs im Haus des Müllers eine weiße Ratte zu Gesicht kam, hast du von nichts anderem mehr geredet als davon, eine weiße Ratte anzuschaffen, die wir uns niemals leisten könnten. Und jetzt hast du am Fluss einen wunderschönen jungen Flötenspieler getroffen. Und das soll ich glauben!« Nein. Cleci konnte ihrer Mutter nichts sagen, denn genau das würde ihre Mutter antworten und damit auch noch Recht haben. Der Gedanke, dass er nur ein Traum gewesen war, machte Cleci traurig. Denn es sollte Menschen wie ihn auf der Welt geben.

    »Du hast dein Abendbrot nicht gegessen«, schimpfte Clecis Mutter. Die Waschfrau packte das Brot und den Käse ein und legte beides für den nächsten Tag beiseite.

    Cleci trat an die offene Tür und blickte auf die enge Straße hinaus. Oben neigten sich die Dächer der gegenüberstehenden Häuser zueinander, und der dunkler werdende Himmel lastete auf dem Zwischenraum.

    Plötzlich begannen alle Hunde in Lindendorf, und es war eine ganze Menge, zu bellen, zu winseln und zu heulen.

    »Was ist denn los?«, wunderte sich die Waschfrau, als sie die Tonlampe entzündete. »Die Biester hören sich an wie ein Rudel Wölfe.«

    Aber die Hunde waren schon wieder still. Denn schmeichelnd wie die kühle Luft strömte Welle auf Welle eine wunderbare Melodie die Straße entlang. Es war ein Abendlied, zart und doch durchdringend wie die ersten Sterne, die am Himmel aufgingen. Die Flöte klang jetzt tiefer, dunkler, so alt wie die Erde oder beinahe so alt.

    Licht fiel über Clecis Schulter auf die Straße. Sie bemerkte, dass die Mutter mit der Lampe in der Hand hinter sie getreten war.

    »Also -« meinte Clecis Mutter, »wer kann das sein? Auf jeden Fall versteht er sein Handwerk, wer immer er auch ist.« Der Flötenspieler schritt so geschmeidig wie ein Luchs die Straße entlang, doch bei jedem fünften oder siebten Schritt machte er einen kleinen Hüpfer, und die Melodie hüpfte mit ihm. Er hielt die Flöte seitlich an die Lippen, und seine Wangen veränderten kaum die Form, während er blies.

    Immer mehr Lichter gingen an, als die Leute an die Fenster und Türen kamen, um nachzusehen, was es gab. Anfangs wurde kein Wort gesprochen, nur geschaut. Aber das änderte sich bald. Denn wie Nebelschwaden folgten dem Flötenspieler fast alle Hunde aus Lindendorf, alle, denen es gelungen war, sich von ihren Leinen zu befreien. Und die Hunde kämpften nicht untereinander, sahen sich nicht einmal an, sondern folgten nur gleitend dem Klang der Flöte - eine buntscheckige, vierbeinige Armee.  

    Entlang der Straße hörte Cleci die Rufe und Flüche, die den merkwürdigen Zug begleiteten. Dann setzte der Strom. der Musik wieder ein und füllte all die Löcher, die diese Geräusche in der Atmosphäre verursacht hatten. Clecis Mutter sprach kein Wort, aber sie stieß einen lauten Seufzer aus, als hätte sie ihr ganzes Leben lang die Luft angehalten und könnte nun endlich ausatmen. Sie legte die freie Hand auf Clecis Schulter, und zum ersten Mal war es eine bewusste und zärtliche Berührung.

    Gerade in diesem Augenblick kam der Flötenspieler an ihrer Tür vorbei. Er legte den Kopf schief und sah sie an, sagte aber nichts. Cleci hätte ihn. gerne berührt, um sich zu überzeugen, dass es ihn wirklich gab. Dann war er vorüber.

    Pfoten glitten über Clecis Füße.

    Die Leute standen auf der Straße und starrten dorthin, wo die wunderbare Musik wie ein zarter Duft verwehte.

    »Wohin geht er?«, hörte sie jemanden fragen. Sie hatten nicht daran gedacht - oder es nicht gewagt -, den Flötenspieler selbst zu fragen.

    »Zum Haus des Müllers, wie's scheint.«

    Der Müller war einer der bedeutenden Bürger von Lindendorf, da er zu den Reichsten gehörte. Sein ältester Sohn war einer der Priester des Rattengottes.

    »Habt ihr die Hunde gesehen?«

    »Die Hunde waren hinter etwas Fressbarem her, das er in den Taschen hatte.«

    »Was will er hier?«

    »Woher soll ich das wissen? Warum fragst du mich?«

    »Morgen ist Festtag. Vielleicht will er zum Tanz aufspielen. Und sich eine goldene Nase verdienen.«

    »Ja. So wird es sein.«

    »Ah.«

    Cleci spürte eine seltsame Erregung hinter ihren Rippen, wie Schmerz. Sie wollte schreien oder lachen oder singen. Sie wollte so still sein wie ein Stein.

    »Er ist nur ein Vagabund«, sagte ihre Mutter plötzlich, und Cleci drehte sich um und sah ihre Mutter als eine abgearbeitete Fremde mit rissigen Händen, der das fettige Haar in die todmüden Augen hing. »Nur einer von diesen Bettlern.« Und Cleci hasste ihre Mutter mit einem stumpfen und erdrückenden Hass.

    Ein letzter Hund huschte lautlos die Straße entlang, auf der Fährte der unsichtbaren Flut aus Musik, die dort entlanggeströmt war.

    Cleci nahm ihr weißes Jungfrauengewand aus der Truhe und zog es an. Es war noch nicht hell, deshalb konnte sie einfach übersehen, dass das Weiß verblasst war. Sie legte sich ein rotes Band um die Taille. Die Frau des Bäckers hatte es ihr geschenkt, weil es einen Riss hatte, aber wenn man beim Binden aufpasste, war der Riss nicht zu sehen.

    Ihre Mutter brummte ungehalten, weil sie am heutigen Tag nicht arbeiten durfte.

    Vielleicht einmal in jeder Stunde, jeweils in dem Augenblick, wenn sie in die nächste Stunde überging, war Cleci in dieser Nacht aufgewacht. Sie hatte darüber nachgedacht, was der Müller, der Bäcker und der Schmied und die anderen wichtigen reichen Männer zu dem Flötenspieler gesagt haben mochten. Sie hatte sich gefragt, ob der Flötenspieler Raurs Prozession anführen würde, was gelegentlich den allerbesten Musikanten gewährt wurde.

    Noch bevor die Sonne aufgegangen war, hängte man in Lindendorf Fahnen aus den Fenstern - nur waren die Farben noch nicht zu erkennen - oder auch Bilder von Ereignissen, die mit dem Rattengott zu tun hatten: Raur, der eine Ratten- und Mäuseplage von dem Dorf abwandte, Raur, der gegen eine Riesenkrähe kämpfte, die aussah wie ein schwarzer Drache.

    »Ich muss jetzt gehen«, sagte Cleci zu ihrer Mutter.

    »Es werden genug Jungfrauen da sein«, rief Clecis Mutter geringschätzig. »Dich werden sie kaum vermissen.« Aber Cleci lief aus der Tür und auf die Straße.

    Als sie zum Tempel eilte, stieg die Sonne über das verwinkelte Häusergewirr, und all die Fahnen öffneten sich wie Blumen und strahlten grün und rot und violett im Morgenlicht. Vergoldete Plättchen an langen Bändern sangen in dem leichten Wind, und kleine Abbilder von Raur, die aus Lehm oder Teig geknetet waren, tanzten an ihren Fäden.

    Der Fluss hatte die Farbe des Himmels. Selbst die Linden wirkten wie mit kühlem Gold übergossen. Cleci pflückte eine Blütendolde - tötete sie gedankenlos, nur weil sie schön war - und steckte sie sich ins Haar.

    Lindendorf war fruchtbar, und so gab es viele Kinder, viele junge Männer und Mädchen. Alles in allem hatte Raur in diesem Jahr ein Gefolge von einhundert Jungfrauen, denn ein Mädchen blieb in dieser Gruppe, bis es heiratete, was bei den meisten mit ungefähr fünfzehn Jahren der Fall war. Dann wurde sie eine Matrone Raurs.

    Die Jungfrauen sammelten sich am Ufer über der Furt wie ein Schwarm weißer Enten. Als nächstes kamen die Jungen, mit Rattenmasken aus dünnem Holz, Holzschwertern, pergamentüberzogenen Tamburinen und Geschrei. Gleich würden die Priester Raur in die Morgensonne hinaustragen, die Jungfrauen und Knaben würden Raur ins Dorf zurück folgen, und dort würde sich die gesamte übrige Bevölkerung ihnen anschließen.

    Kandierte Pflaumen wurden verteilt. Den Jungen bereitete es einige Schwierigkeiten, sie durch die Mundöffnungen ihrer Rattenmasken zu schieben. Die Jungfrauen aßen mit anmutigem Selbstbewusstsein und wischten ihre klebrigen Finger am Gras sauber. Heute war es nicht so wichtig, dass Cleci die Tochter der Waschfrau war. Einige der Mädchen redeten sogar mit ihr. Eine der Töchter des Bäckers bemerkte laut: »Wie hübsch das Band dich kleidet. Den Riss sieht man gar nicht.«

    »Seht! Da ist unser erlauchter Vater!«, rief eine andere Tochter, laut genug, um den allgemeinen Lärm zu übertönen.

    Lindendorfs führende Persönlichkeiten traten aus dem Tempel. Zuerst der Bäcker und der Metzger, dann der Müller, der Schmied und der Wagner. Den Schluss machte der Winzer. Cleci hielt angestrengt nach dem Flötenspieler Ausschau. Vielleicht würde er gleich herauskommen, zusammen mit den Priestern.

    »Wird er nicht«, sagte die Bäckerstochter, und Cleci merkte, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

    »Bestimmt nicht«, fügte die Tochter des Müllers hinzu. »Mein Vater sagt, er könne nicht zulassen, dass eine so unschickliche Musik vor den Ohren des Gottes gespielt werde. Nicht, dass er den Kerl spielen gehört hätte, aber Papa ist so klug, dass er das auch nicht braucht, um zu urteilen.«

    Die kandierte Pflaume, die Cleci gegessen hatte, lag ihr wie ein Stein im Magen. Die Enttäuschung war schlimmer als Zahnschmerzen. Dann fühlte sie stattdessen eine überwältigende Freude. Gleichzeitig geriet die Menge in Bewegung.

    Die Jungfrauen wirbelten herum wie Schneeflocken im Wind. Die Knaben wandten ihre Köpfe mit den spitzen, niedlichen Rattengesichtern. Die Priester, die sich gerade angeschickt hatten, aus der Tür des Tempels zu strömen, gingen schneller und reckten die Hälse, um besser sehen zu können.

    Zwischen den letzten Häusern des Dorfes tauchte ein wunderschöner junger Mann in einer ärmellosen, weinroten Jacke und sturmblauen Hose auf. Seine Finger tanzten über die Flöte, die er seitlich an die Lippen hielt, aber der Tumult der Menge übertönte sein Spiel. Nur - nur fühlen konnte man die Musik, die gleich einer Lanze Luft und Sonnenschein, Blut  und Fleisch und schließlich die Mauem um Herz und Seele durchdrang.

    Das dunkelrote Haar wehte von seiner klaren, bleichen Stirn, und er lächelte, während er blies. Ihm folgte eine Springflut verschiedenartigster Geschöpfe - Hunde, ein Gewimmel kleiner Eidechsen, ein tieffliegender Vogelschwarm und sogar eine summende Wolke aus Insekten, Libellen, Schmetterlingen und Bienen. Da waren auch die zwanzig Esel, die es im Dorf gab, einer mit dem Sattel auf dem Rücken, die anderen mit durchgekauten Haltestricken. Und da waren Ratten - die kleinen, weißen, hüpfenden Ratten, die irgendwie - wie? - aus ihren Käfigen entkommen waren.

    Der Anblick der Ratten, oder vielleicht war es auch die ungehörte, aber gefühlte Lieblichkeit des Flötenspiels, brachte die durcheinanderschwätzenden Stimmen zum Schweigen.

    Und nun war die Musik zu hören.

    Aber es war nicht mehr einfach Musik. Es war wie der Fluss, der Himmel, das Land. Wie der Pulsschlag der Menge, der Trommelwirbel des Lebens selbst und wie die Sonne, die sich auf den Klingen von Zeit und Raum um die eigene Achse drehte. Es war mehr an Musik, als ein einzelner Flötenspieler dem schlanken Rohr einer einzelnen Flöte entlocken konnte.

    Als die Musik verstummte, standen sie alle hilflos da, als hätte ein stilles Meer sie unvermittelt an ein felsiges Ufer geworfen oder als wären sie alle taub geworden.

    Erst jetzt bemerkte Cleci, dass die Statue Raurs aus dem Tempel herausgetragen worden war, und schämte sich, weil es ihr nicht früher aufgefallen war. Nun saß Raur da, auf seiner mit Girlanden geschmückten Bahre, die die Priester auf den Schultern trugen, und war so still wie alle anderen. Als hätte auch ihn die Flöte verzaubert.

    Langsam senkte der Flötenspieler sein Instrument. Er schaute in die Runde. Cleci konnte nicht anders als ihn bewundern für seine gelassene Haltung, Selbstsicherheit und den Charme angesichts der vielen hundert Augen, die auf ihn gerichtet waren. Dann erhob einer der reichen Männer grollend die Stimme und zog damit alle Blicke auf sich. Es war der Müller.

    »Wie«, fragte der Müller, zornrot im Gesicht, ohne eine Spur von Haltung, nicht besonders selbstsicher und ganz bestimmt nicht charmant. »Wie hast du unsere Ratten aus den Käfigen gestohlen?«

    Aus der Menge ertönte zustimmendes Gemurmel, und jemand rief aus dem Hintergrund: »Und wie ist das mit dem Reitesel von meinem Vater und so?«

    Dann ein Durcheinander von Stimmen. Wie dies? Wie das?

    Der Flötenspieler wartete, bis sie schließlich mit dem Geschrei aufhörten.

    Dann sagte der Flötenspieler zu den Einwohnern von Lindendorf, und jeder hörte ihn, obwohl er nicht die Stimme erhob: »Ihr versucht alles in einen Käfig zu sperren. Eure Tiere und eure Herzen. Aber Liebe findet immer einen Weg hinaus. Liebe oder Hass. Irgendwie.«

    Cleci schloss die Augen. Sie umklammerte die Worte wie einen Edelstein. Sie verstand ihre Bedeutung nicht, aber sie hielt sich an ihnen fest. Dann hörte sie den Flötenspieler sagen: »Also entscheidet euch jetzt. Soll ich euch aufspielen oder nicht?«

    Und Cleci schrie mit aller Kraft: »Ja! Ja! Ja!«

    Darin zuckten ihre Hände zu den brennenden Wangen, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Aber ihr Schreck war unnötig, denn die ganze Menschenmenge hatte in genau demselben Moment aufgeschrien wie sie, und di selben Worte.

    Sogar der Müller hatte sich hinreißen lassen, obwohl er verwirrt aussah und sich sofort zu den Priestern umdrehte, um mit ihnen zu sprechen. Der Priester, der der Sohn des Müllers war, nickte, trat vor und hob Aufmerksamkeit heischend die Hände. Mit sichtlichem Unbehagen sprach er den Flötenspieler an.

    »Wir sind willens, dir zu gestatten, zu Ehren des Gottes für uns zu spielen. Aber was verlangst du als Bezahlung?«

    »Was immer ihr glaubt, dass ich es verdient habe.«

    »Nich doch. Das ist eine Aufforderung zum Feilschen.«

    »Habt keine Angst«, sagte der Flötenspieler. »Ich werde nichts fordern, was ihr mir nicht geben könnt.«

    Und er lächelte das Lächeln, das nur vierzehn Jahre zählte, und seine Augen waren viele hundert Jahre alt.

    Einer der Priester quiekte, und Cleci sah, dass

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