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Silberstrandsommer: Ein Ostsee-Roman
Silberstrandsommer: Ein Ostsee-Roman
Silberstrandsommer: Ein Ostsee-Roman
eBook345 Seiten5 Stunden

Silberstrandsommer: Ein Ostsee-Roman

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Über dieses E-Book

Bist du bereit, dich für das Unvorhersehbare zu öffnen, wenn die Zukunft anklopft?

Die 31-jährige Jula wurde nicht nur von ihrem Lebensgefährten, sondern auch vom Glück verlassen. Also packt die neuerdings arbeitslose alleinerziehende Mutter ihren VW-Bus und fährt mit ihrem 9-jährigen Sohn Henri an die Ostsee, um einen Neuanfang zu wagen.

Auf einem Campingplatz auf der Insel Fährlangen, der dem charismatischen Dänen Bo gehört, schlägt Jula ihre Zelte auf. Bei Bo findet sie nicht nur Unterkunft und Arbeit, sondern vor allem aufrichtige Zuneigung. Aber Julas schmerzliche Erfahrungen haben sich tief in ihre Seele eingebrannt. Es gilt nicht nur ihr eigenes Herz vor einer erneuten Enttäuschung zu bewahren, sondern auch das ihres Sohnes. Und so trifft Jula eine folgenschwere Entscheidung.

Doch Henri ist damit mehr als unzufrieden und setzt alles daran, seiner Mutter zu trotzen, die nicht ahnt, dass ein weiteres Unglück bereits seinen Lauf nimmt …

SpracheDeutsch
HerausgeberZeilenfluss
Erscheinungsdatum20. Mai 2021
ISBN9783967141429
Silberstrandsommer: Ein Ostsee-Roman

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    Buchvorschau

    Silberstrandsommer - Lurleen Kleinewig

    1

    »Ach, komm schon, Jula, jetzt mach keine Szene. Du hast doch selbst gemerkt, dass die Luft raus ist.« Gero sah sie Beifall heischend an, als erwartete er auch noch Zustimmung von ihr.

    Sie standen sich in der schäbigen, aber gemütlichen Küche ihrer gemeinsamen Wohnung gegenüber wie Schauspieler in einer Theateraufführung. Nur dass das Stück in diesem Fall einer billigen Schmierenkomödie glich, randvoll mit Klischees und abgedroschenen Phrasen.

    Jula war wie erstarrt. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Ihr Herz machte einen Satz bis in den Hals hinauf, steckte kurz fest und rutschte dann wieder in ihre Brust zurück, um dort wild gegen ihre Rippen zu hämmern. Ihre Stimme überschlug sich fast.

    »Ich soll keine Szene machen? Du eröffnest mir, dass du mich nach sieben Jahren Beziehung gegen eine deiner … deiner Trällertussis eintauschst, und ich soll mich hinsetzen und mir die Nägel lackieren, oder wie? Schon klar. Meine Fresse, Gero. Warum rufst du sie nicht gleich an? Dann kann sie herkommen, und wir trinken Sekt und quatschen über deine sexuellen Vorlieben, wie Mädchen das so tun. Vielleicht kann ich von einer Achtzehnjährigen noch was lernen.«

    Jetzt wurde sie sarkastisch. Sarkasmus war ihre letzte Zuflucht vor Gebrüll und Tränenflut. Sie stand ganz oben an einem steilen, glitschigen Abhang und geriet allmählich ins Rutschen. Es war ein langer, langer Weg nach unten, und wer wusste, was sie erwartete, wenn sie erst im Tal angekommen war.

    »Und im Übrigen«, setzte sie hinzu, mühsam um Fassung und Worte ringend, »habe ich nicht gemerkt, dass die Luft raus ist. Vielleicht war ich zu sehr mit Arbeiten und Geldverdienen beschäftigt, um das mitzukriegen!«

    Immerhin hatte Gero den Anstand, ein betretenes Gesicht zu machen. Das mit dem Geldverdienen nahm sie nämlich seit jeher wesentlich ernster als er, und so war sie auch diejenige, die die meisten Rechnungen bezahlte. Während er im Proberaum mit seinen Bandkollegen an neuen Songs tüftelte und seinem großen Traum vom Rockstarleben nachhing, riss sie sich an mindestens sechs Tagen die Woche bei zwei Jobs den Allerwertesten auf. Hätte er an den Wochenenden nicht regelmäßig Auftritte mit einer gut gebuchten Coverband an Land ziehen können, wäre sie mehr oder weniger die Alleinverdienerin in ihrer kleinen Familie gewesen. So konnten sie sich wenigstens die Miete teilen.

    Das würde sich jetzt ändern. Gero war so gut wie weg, und sie musste zusehen, dass sie weiterhin den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn Henri bestritt. Bei dem Gedanken daran, wie sie das in Zukunft bewerkstelligen sollte, fiel ihr Magen ins Bodenlose, wie ein Fahrstuhl, dessen Halteseile unvermittelt nachgaben.

    »Was ist mit Henri? Hat er jetzt genauso ausgedient wie ich? Wie soll er das begreifen?«

    Gero blickte sie herablassend an. »Jula. Ich bin nicht sein Vater.«

    Das war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Jula packte den Stuhl, dessen Lehne sie krampfhaft umklammert hatte, und schleuderte ihn in Geros Richtung. »Ach, ist das so? Das fällt dir ja früh ein. Verschwinde bloß zu deiner Bumsbiene, du herztoter Zombie!«, brüllte sie wutentbrannt. Das Weinen kroch ihre Kehle hinauf und würgte sie, doch noch war ihr Zorn größer. »Da kannst du auch bleiben. Lass dich hier nicht wieder blicken, sonst ist ein Stuhlbein im Hintern dein kleinstes Problem!«

    In Geros dunklen Augen flammte es unheilvoll auf, und er schien zu überlegen, ob er den Fehdehandschuh aufheben sollte. Klugerweise entschied er sich dagegen. Seine demonstrativ zur Schau getragene Selbstbeherrschung machte Jula rasend. »Ich komme in ein paar Tagen wieder, wenn du dich beruhigt hast. Vielleicht können wir uns dann vernünftig unterhalten. Ich rede auch noch mit Henri.«

    »Einen Dreck wirst du!«, fauchte sie. »Ich werde es ihm sagen. Ob er danach noch mit dir sprechen will, entscheidet er selbst.«

    Geros Gesicht verriet nichts von dem, was er dachte. Er hob den Rucksack mit seinen Sachen auf, die er klammheimlich hatte zusammenpacken wollen, um sie bei seiner neuen Freundin zu deponieren. Dumm nur, dass Jula ihn dabei erwischt hatte. Wäre sie nicht morgens auf halbem Weg zum Einkaufen noch einmal umgedreht, weil sie ihr Geld auf dem Küchentisch hatte liegen lassen, wäre die Wahrheit vermutlich nicht so bald ans Licht gekommen. Gero hatte erst Farbe bekannt, als sie ihn dazu gezwungen hatte.

    Jetzt nickte er ihr zu wie einer Fremden und wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns.«

    Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, ging Jula in die Knie und umklammerte ihren Kopf mit beiden Händen. Minutenlang kauerte sie auf dem Küchenfußboden und weinte wie von Sinnen. Die Schluchzer schüttelten sie durch, bis sie kaum noch Luft bekam, und Verzweiflung rollte über sie hinweg wie eine gigantische Welle. Das war es also. Aus und vorbei. Ihre Beziehung war zu Ende, und sie blieb allein zurück mit ihrem neunjährigen Kind, das nie einen anderen Vater gekannt hatte als Gero. Was den allerdings nicht mehr sonderlich zu berühren schien – seine blutjunge Backgroundsängerin war ihm offensichtlich wichtiger geworden als sein Ziehsohn oder sie selbst. Wie hatte das passieren können, und wie lange ging das schon so? Was hatte sie sonst noch verpasst, während sie damit beschäftigt gewesen war, sie alle drei durchzubringen? Warum war das Leben so sinn- und grundlos beschissen?

    Okay. Okay. Sie musste durchatmen. Versuchen, ihre Gedanken zu sortieren, damit sie sich einen Plan zurechtlegen konnte. Es gab kein Netz, keinen doppelten Boden für Henri und sie. Niemand würde einspringen, wenn sie, Jula, zusammenbrach und schlappmachte. Henri war voll und ganz auf ihre Stärke angewiesen; dieselbe Stärke, mit der sie immer alles zusammengehalten hatte – bis jetzt. Im Stillen dankte sie dem Universum dafür, dass die Sommerferien noch nicht begonnen hatten und Henri in der Schule war. Wäre er Zeuge der Szene mit Gero geworden, hätte das die Situation nur weiter verschärft. Bevor er nach Hause kam, musste sie sich beruhigt haben und für den Rest des Tages normal funktionieren. Sobald er im Bett war … Nun, dann würde sie weitersehen.

    Sie schaffte es unter Aufbietung all ihrer Kräfte, den Anschein von Normalität zu wahren, als Henri gegen drei Uhr nachmittags fröhlich zur Tür hereinplatzte. Er stürzte sich mit dem üblichen Bärenhunger auf sein spätes Mittagessen, das diesmal aus Pfannkuchen bestand. Sie waren das Einzige, was Jula sich in ihrem inneren Ausnahmezustand zuzubereiten getraut hatte.

    »Hast du Hausaufgaben auf?«, fragte sie ihren Sohn beiläufig, während sie so tat, als würde sie den Herd und die Arbeitsfläche sauber wischen. In Wirklichkeit war es ihr scheißegal, ob alles voll mit Fettspritzern war. Sie musste ihre Hände beschäftigen und sich ablenken, damit sie nicht losheulte.

    Der Neunjährige sah kauend zu ihr auf. Der Blick seiner blauen Augen unter den langen hellblonden Haarsträhnen war argwöhnisch. »Nur ein bisschen Mathe, und das ist voll leicht. Kann ich danach mit Jan Longboard fahren?«

    Mathe und Longboarden waren Dinge, die Henri liebte. Jula war insgeheim erleichtert, dass er den Rest des Nachmittags wie meistens draußen mit seinem Freund verbringen wollte. So würde er hoffentlich nicht merken, dass etwas nicht stimmte. Es war verdammt schwierig, Henri hinters Licht zu führen. Er besaß ein ausgeprägtes Gespür für ihre Stimmungen und ließ sich nichts vormachen. Sie würde es ihm ohnehin bald sagen müssen, aber erst wollte sie ihre Gefühle wieder einigermaßen unter Kontrolle bringen und sich ihre Worte in Ruhe zurechtlegen. Dafür brauchte sie einen klaren Kopf, und den hatte sie heute nicht. Vor allem musste sie schleunigst herausfinden, wie es ab jetzt weitergehen sollte. Das war das größte Problem, das es zu lösen galt, denn ohne Gero würde sie die Wohnung nicht halten können. Außerdem wäre Henri an den Wochenenden, wenn sie tagsüber arbeiten musste, unbeaufsichtigt.

    »Klar. Sei aber um sieben wieder zu Hause, okay?«

    »Mhm.«

    Nachdem Henri seine Matheaufgaben mit der ihm eigenen Hingabe erledigt hatte und mit seinem alten, zerkratzten Longboard unter dem Arm nach draußen verschwunden war, sank Jula auf das durchgesessene Sofa im Wohnzimmer und schlug die Hände vors Gesicht. Ihren freien Tag hatte sie sich weiß Gott anders vorgestellt. Geros Geständnis hatte sie völlig unvorbereitet getroffen, und sie fragte sich die ganze Zeit, ob sie es hätte kommen sehen müssen. Sicher, sie war in den letzten Monaten oft übermüdet gewesen von zu viel Arbeit und hatte wenig wahrgenommen von dem, was Gero so trieb. Sie wusste, dass er plante, gemeinsam mit einem Freund ein Tonstudio zu eröffnen – zumindest behauptete er das –, und sie hatte seine ständige Abwesenheit diesem Umstand zugeschrieben. Ihr Sexleben war schon vor einer Weile mehr oder weniger eingeschlafen – na ja, zumindest was ihren gemeinsamen Sex anging. Gero hatte sich ja offenbar an anderer Stelle ausgiebig ausgetobt.

    In dieser Nacht lag sie zusammengerollt wie ein Embryo unter der Bettdecke, hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und versuchte verzweifelt, ihr Schluchzen zu unterdrücken, damit Henri nicht aufwachte. Sie hatte ihm erzählt, dass Gero für ein paar Tage hatte verreisen müssen. Ihr Sohn war an Geros unruhiges Berufsmusikerdasein gewöhnt und fragte nicht weiter nach. Sie selbst konnte den Gedanken kaum ertragen, dass ihr langjähriger Lebensgefährte in Wahrheit bei seiner neuen Freundin übernachtete und womöglich gerade die gleichen Dinge mit dieser Frau im Bett anstellte wie früher mit ihr.

    Sie biss die Zähne zusammen und spürte heiße Tränen über ihre Wangen rinnen. Irgendwie musste sie es aushalten, den Schmerz und die Erniedrigung. Ein Zurück gab es nicht. Durch Geros Betrug war die Tür zu ihrem alten Leben für immer verschlossen. Selbst wenn sie ihm hätte verzeihen können, würde sie niemals vergessen, dass er sie und in gewissem Sinne auch Henri eiskalt hintergangen hatte, und sie bezweifelte, dass das eine brauchbare Grundlage für einen zweiten Versuch darstellte. Sogar in diesem einsamen, von Trauer erfüllten Augenblick, in dem sie sich insgeheim nichts sehnlicher wünschte, als dass er durch die Tür kommen und sie in die Arme nehmen würde, wurde ihr mit bedrückender Deutlichkeit klar, dass Geros und ihre Beziehung ein für alle Mal Geschichte war.

    Sie hatten sich vor gut sieben Jahren auf einem Heavy-Metal-Festival kennengelernt, bei dem Jula hinter der Bühne im Cateringteam gearbeitet hatte. Henri war damals erst zwei gewesen und Jula vierundzwanzig. Geros Band hatte an jenem glühend heißen Sommertag zu einer undankbaren Uhrzeit im Nachmittagsprogramm gespielt, und Jula war der Sänger mit den dunklen Augen und dem hübschen, trotzigen Mund sofort aufgefallen, als er und seine Musikerkollegen sich nach dem Auftritt ums Büfett geschart hatten. Seinen interessierten Blicken nach zu urteilen war auch sie von ihm nicht unbemerkt geblieben, und später hatte er sie draußen vor dem Cateringzelt abgepasst und nach ihrer Telefonnummer gefragt.

    Sie wurden nur wenige Stunden später ein Paar, denn während ihre gemeinsame Lieblingsband den letzten Song des Abends performte, hatte Gero sie im Schatten des Bühnenaufgangs geküsst. Schon nach drei Monaten waren sie zusammengezogen, in ihre jetzige Wohnung in Geros Heimatstadt. Ihn hatte nie gestört, dass Jula bereits einen Sohn hatte, und auch sonst war das Zusammenleben mit ihm unkompliziert – wenn auch etwas chaotisch – gewesen. Sie waren am Anfang häufig zu Festivals gefahren, entweder mit Geros Band oder nur als Zuschauer, Klein-Henri immer mit dabei. Überhaupt hatten sie in den ersten Jahren ihrer Beziehung ein paar verrückte, wundervolle Dinge angestellt: spontane Wochenendtrips ins Grüne, wo sie in einem billigen Zweimannzelt mitten auf einer Kuhweide kampiert hatten, oder nächtliche Ausflüge in die benachbarte Großstadt, wo Gero auf die eigenwillige Idee gekommen war, ein Fahrrad ›auszuleihen‹ und mit der beschwipsten Jula auf dem Gepäckträger von einem Klub zum nächsten zu radeln.

    Jula selbst hätte nicht zu sagen vermocht, wann ihnen die Unbeschwertheit abhandengekommen war. Nach mehreren Besetzungswechseln ging Geros Band irgendwann die Luft aus. Selbst unter anderem Namen und mit einem neuen Management ließ der große Erfolg auf sich warten. Jula geriet währenddessen mehr und mehr unter Druck, Geld verdienen zu müssen, und arbeitete phasenweise fast ohne Pause, damit sie über die Runden kamen. Für sie als gelernte Buchhändlerin gab es in einer Kleinstadt praktisch keine Jobangebote, und eine Arbeitsstelle im weiteren Umkreis scheiterte von vornherein an den Benzinkosten und der nicht vorhandenen Betreuung für Henri. Sie hätten natürlich in die nahe Großstadt ziehen können, aber das wollte sie ihrem Sohn nicht antun. So jobbte sie, was das Zeug hielt, und jonglierte zu Spitzenzeiten mit drei Stellen gleichzeitig.

    Mittlerweile arbeitete sie dreißig Stunden die Woche fest in einem esoterisch angehauchten Laden namens Tee & Tarot und an den Wochenenden zusätzlich tagsüber im Stadtcafé, wo sie vor allem Frühstücks- und Kaffeegäste bediente. Mit Glück sprang bei dem Ganzen ein freier Tag in der Woche heraus, meistens der Montag, wenn im Tee & Tarot wenig los war und ihr gutmütiger, aber notorisch unorganisierter Chef Mathieu ohne sie zurechtkam. Mathieu war auch derjenige, den sie morgen früh als Erstes fragen würde, ob er bereit war, ihr mehr Stunden zu geben. Sie würde jeden Cent brauchen, wenn sie nach einer neuen Bleibe für Henri und sich suchte. Was auch immer Gero vorhatte, er konnte sich ihre jetzige Wohnung allein genauso wenig leisten wie sie. Wohnraum war knapp und teuer, wenn man in der Peripherie einer Großstadt lebte, selbst wenn es sich dabei nur um ein unattraktives Kaff im südlichen Randgebiet von Niedersachsen handelte.

    »Ach, Jula.« Mathieu sah sie unglücklich an. »Es tut mir wirklich leid, aber ich dachte, du wüsstest, wie es um den Laden steht. Vielleicht schaffen wir es noch bis zum Ende des Jahres, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass wir zum ersten Oktober schon schließen müssen. Ich hätte in den nächsten Tagen sowieso mit dir darüber gesprochen, damit du dir rechtzeitig was Neues suchen kannst.«

    »Was Neues?« Jula lachte leise auf. Es klang bitterer, als sie beabsichtigt hatte. Schließlich konnte Mathieu nichts dafür, dass sie dermaßen in der Scheiße steckte und gerade noch ein Stückchen tiefer einsank. »Du hast Humor. In diesem Kuhdorf sind anständig bezahlte Jobs ungefähr so leicht zu finden wie ein Diamant mit zehn Karat, aber das weißt du ja selber.«

    Mathieu seufzte. »Immerhin hast du noch deine Stelle im Café. Das ist besser als nichts.«

    Als wenn wir davon auch nur ansatzweise leben könnten, dachte Jula. Doch prompt regte sich ihr Gewissen. Es ging hier nicht in erster Linie um sie. Mathieu würde nicht nur seine berufliche Existenz verlieren; der schrullige Laden war überdies seit vielen Jahren sein Ein und Alles. Besonders gut war er nie gelaufen, aber er hatte Mathieu und Jula als seiner einzigen Angestellten immerhin ein bescheidenes Einkommen gesichert. Doch damit war es nun vorbei. So liebenswert verpeilt Mathieu auch sein mochte, er gab Tee & Tarot sicherlich nicht leichtfertig auf. Das Wasser musste ihm bis zum Hals stehen.

    »Was wirst du machen, wenn hier Schluss ist?«, erkundigte Jula sich vorsichtig.

    Ihr Chef zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich bleibt mir fürs Erste nur der Gang zur Arbeitsagentur. Ich bin dreiundfünfzig und seit über zwanzig Jahren selbstständiger Esoterikfuzzi mit einem Faible für erstklassigen Tee. Wo sollte ich mit diesen bemerkenswerten Fähigkeiten unterkommen? Ich denke nicht, dass ich meine Tage als Parkplatzwächter beschließen möchte. Vielleicht mache ich eine Hotline auf und lege den Kunden am Telefon die Karten.«

    Er verdrehte die Augen und zündete sich die wer-weiß-wievielte Zigarette des Tages an. Da er an seinem Stammplatz am offenen Fenster des winzigen Hinterzimmers saß, das Jula und er als Küche und Aufenthaltsraum nutzten, wurden hauptsächlich die Vögel draußen von seiner Kettenraucherei belästigt. Vorn im Laden roch es ebenso penetrant wie angenehm nach Räucherstäbchen und diversen Teesorten, und Jula flüchtete zurück in den Verkaufsraum, um die verheerende Nachricht, dass sie bald ihren Hauptjob los sein würde, zu verdauen.

    Solange sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, gelang es ihr irgendwie, auf Autopilot zu schalten und die Fassung zu bewahren. Als sie jedoch gegen ein Uhr Feierabend machte und sich in ihren VW-Bus setzte, um nach Hause zu fahren, überkam sie der Schock wie ein Tsunami. Sie begann am ganzen Leib zu zittern und brach schließlich in Tränen aus. Den Kopf auf das Lenkrad gelegt, schluchzte sie herzzerreißend und konnte sich nicht beruhigen. Sie hatte das Gefühl, dass alles den Bach runterging. Die zweite Hiobsbotschaft innerhalb von gerade einmal vierundzwanzig Stunden war mehr, als sie verkraften konnte. Was sollte sie jetzt bloß tun?

    Irgendwann hob sie ihr tränenüberströmtes Gesicht, um in ihrer Umhängetasche nach einem Taschentuch zu suchen. Das ganze Lenkrad war nass geweint. Geräuschvoll putzte sie sich die Nase und bemerkte dabei, dass ihr Handy blinkte. In der wilden Hoffnung, es wäre ein Anruf von Gero, starrte sie auf das Display, doch es war eine WhatsApp-Nachricht von ihrer alten Freundin Mikke, die wissen wollte, wie es ihr ging. War das Gedankenübertragung? Wenn sie wüsste!

    Mikke und sie kannten sich seit Julas zehntem Lebensjahr. Sie hatten sich auf einem Ponyhof in der Lüneburger Heide getroffen, wo sie die ersten Reiterferien ihres Lebens verbracht hatten, und dieses unvergessliche Abenteuer hatte sie so eng zusammengeschweißt, dass sie über die Jahre in Kontakt geblieben waren. Mikke war mittlerweile verheiratet, hatte zwei Söhne in Henris Alter und lebte in einem Dorf an der Ostsee. Jula hatte sie zuletzt gesehen, als Henri noch klein gewesen war. Sie texteten sich regelmäßig und telefonierten ab und zu, und es gab Zeiten, da verspürte Jula einen Anflug von Neid auf Mikkes solides Leben. Sie arbeitete halbtags im Sekretariat einer Grundschule, besaß zusammen mit ihrem Mann ein kleines Bauernhaus mit einer Ferienwohnung im Dachgeschoss und hielt ihre drei Pferde in der angrenzenden Scheune. Jula fand die Vorstellung von einem eigenen Hof in unmittelbarer Nähe der Ostsee ungeheuer idyllisch, und jedes Mal, wenn Mikke ihr Fotos schickte, fühlte sie eine vage Sehnsucht nach endlosen Sommertagen am Meer in sich aufsteigen, an denen das Leben so sorgenfrei vor sich hinplätscherte wie die Wellen am Strand.

    Einer plötzlichen Eingebung folgend, tippte Jula auf Mikkes Nummer. Sie hatte das dringende Bedürfnis, jemandem ihr Herz auszuschütten, und Mikke konnte sie sich bedenkenlos anvertrauen. Ihre alte Freundin wusste so ziemlich alles über sie und würde sie nicht verurteilen. Wenn jemand ihr jetzt einen guten Rat geben konnte, dann sie.

    Als Jula mit einer knappen Stunde Verspätung die Wohnungstür aufschloss und in den schmalen Flur stolperte, noch ganz aufgewühlt von den Dingen, die sie mit Mikke am Telefon besprochen hatte, saß Henri schon am Küchentisch und daddelte lustlos auf seinem uralten Tablet herum.

    »Du kommst zu spät«, beklagte er sich und starrte seine Mutter vorwurfsvoll an. »Gibt es heute nichts zu essen?«

    »Doch, natürlich, mein Kleiner.« Jula warf ihre Tasche auf einen Stuhl und knallte einen Topf auf den Herd. Spaghetti, beschloss sie, mit Tomatensoße aus dem Glas. Einmal wird er das überleben. »Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich hatte … Ich musste noch einen wichtigen Anruf erledigen, deshalb hat es länger gedauert.«

    Henri sah sie unverwandt an. Sein von langen Sommernachmittagen im Freien gebräuntes Kindergesicht mit den wachen Augen und den Sommersprossen wirkte ernst. »Ist irgendwas passiert?«

    Oh Gott, dachte Jula. Jetzt schon? Scheiße. Ich brauche noch mehr Zeit, ich …

    Doch dann drehte sie den Herd wieder ab und setzte sich zu ihm. Sie hatte es sich zu einem Grundsatz gemacht, immer ehrlich zu ihrem Sohn zu sein und ihm auch unschöne Wahrheiten nicht vorzuenthalten. Nur weil er ein Kind war, bedeutete das nicht, dass sie ihn anlügen musste. Die Frage war nur: Wie brachte sie ihm das ganze Ausmaß dieses Schlamassels möglichst schonend bei? Und vor allem die Konsequenzen, die sie nun daraus ziehen musste?

    »Sag mal«, begann sie vorsichtig, »was würdest du davon halten, wenn wir die Sommerferien an der Ostsee verbringen?«

    »An der Ostsee?«, echote Henri. »Wo denn da?«

    »Na ja, du erinnerst dich doch an meine Freundin Mikke, oder? Die mit den Pferden.«

    Henri nickte.

    »Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Wir würden sie besuchen und ein paar Tage bei ihr wohnen. Aber für den Rest der Ferien würden wir dann … zelten. Auf einem Campingplatz am, ähh, Meer«, schob sie hastig hinterher, um das Ganze für Henri reizvoller zu machen.

    »Kann ich denn da auch skaten?«

    »Natürlich. Dein Board nimmst du mit. Vielleicht kannst du sogar bei einem Surfkurs mitmachen.«

    Henris Augen leuchteten auf. Er wünschte sich schon lange nichts sehnlicher, als surfen zu lernen. Wenn das Wetter zu schlecht war, um draußen herumzustromern, verbrachte er oft Stunden damit, sich Surfvideos auf YouTube anzuschauen. »Cool. Und wie lange bleiben wir da?«

    Jula schluckte trocken. »Die ganzen Ferien. Und wahrscheinlich sogar länger. Es könnte sein, dass wir – dass wir nicht hierher zurückkommen.«

    Henri horchte auf, und Jula konnte sehen, dass ihm langsam dämmerte, was sie ihm zu sagen versuchte.

    »Kommt Gero auch mit?« Seine Stimme klang piepsig, und der Blick, mit dem er sie musterte, war eindeutig ängstlich.

    Jula, die sich vor dieser Frage am meisten gefürchtet hatte, krümmte sich innerlich. Am liebsten hätte sie ihren Sohn an sich gedrückt und ihm beteuert, dass alles gut werden würde, doch sie ahnte, dass dies der falsche Moment für Versprechungen war. Im Geiste schwor sie Gero ewige Rache, weil er Henri so etwas antat. Und ihr. Dann atmete sie tief ein und wieder aus und sagte: »Nein. Gero kommt nicht mit.«

    2

    »Herrgott, Jula, so ein elender Mist aber auch!« Mikkes aufgebrachte Stimme drang aus dem Smartphone, und einen Augenblick lang fühlte Jula sich von ihrer ehrlichen Anteilnahme getröstet. »Ich fasse es nicht, dass er das getan hat. Wenn ich den in die Finger kriege … Was ist denn bloß in ihn gefahren? Ist das schon die Midlife-Crisis, oder was?«

    »Ich kann es dir nicht sagen.« Jula hörte selbst, wie verzagt sie klang. »Aber es scheint ihm ernst zu sein mit diesem Trällermariechen. Ihr Techtelmechtel läuft mit Sicherheit schon eine ganze Weile, auch wenn er sich gestern geweigert hat, es zuzugeben. Das Schlimmste ist, ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Mathieu macht den Laden in ein paar Monaten dicht, und das bedeutet, ich habe weder einen vernünftigen Job noch eine bezahlbare Wohnung an der Hand. Beides ist hier absolute Mangelware. Ich stecke bis zum Hals im Dreck.«

    »Was wohnst du auch in so einem dämlichen Kaff in der Mitte von Nirgendwo«, knurrte Mikke. »Das habe ich nie verstanden. Ich möchte da nicht tot über der Hecke hängen! Und lass mich raten – die Wahrscheinlichkeit, dass du Gero und seiner Lolita alle naselang über den Weg läufst, liegt bei hundert Prozent, richtig?«

    Jula schniefte. Bei dem Gedanken kamen ihr erneut die Tränen. »Richtig.«

    »Jula. Tu dir das nicht an, okay? Tu euch das nicht an. Ihr müsst da weg, das ist keine Zukunft. Pack deine Siebensachen zusammen und komm hierher. Zu mir. Henri hat doch bald Sommerferien.«

    »In gut zwei Wochen, ja.«

    »Na also. Du brauchst jetzt erst mal einen Tapetenwechsel. Am Ende der Ferien siehst du weiter. Wenn du nicht bleiben willst, ist das völlig in Ordnung, aber ich versichere dir, einen annehmbaren Saisonjob findest du hier allemal. Und wer weiß, vielleicht kommt der miese Drecksack Gero schon bald auf Knien wieder angekrochen … Aber das spielt jetzt keine Rolle. Du musst an dich und dein Kind denken. Wir melden Henri vorsichtshalber schon mal bei uns in der Schule an. Er käme nach den Ferien wahrscheinlich sogar mit Tebbe in eine Klasse.«

    »Moment, langsam. Dafür ist es doch viel zu spät …«

    »Ist es nicht. Ich kümmere mich darum, keine Sorge. Du brauchst nichts zu tun, außer euch zwei hierherzubeamen. Fährst du noch diesen VW-Camper von damals, als ihr den Europatrip geplant hattet?«

    »Ob du es glaubst oder nicht, in der Ratterkiste sitze ich gerade.« Jula seufzte und wischte sich über die Augen.

    »Ha, perfekt! Pack noch ein Zelt ein, und ihr seid für den Sommer gerüstet. Der Campingplatz ist quasi vor meiner Haustür. Die ersten Nächte könnt ihr natürlich bei mir schlafen. Ich würde euch liebend gern sofort in der Ferienwohnung einquartieren, nur ist die blöderweise bis Ende Oktober ausgebucht. Ich habe vereinzelt Lücken von ein paar Tagen, das hilft euch nicht weiter. Aber spätestens ab November musst du dir keine Sorgen mehr wegen einer Bleibe machen. Dann könnt ihr die Wohnung nutzen, solange ihr wollt. Marten frage ich erst gar nicht, er wird nichts dagegen haben.«

    Marten war Mikkes Mann, groß und stark wie ein Bär und eine Seele von Mensch. Jula hatte ihn erst bei Mikkes Hochzeit kennengelernt und auf Anhieb sympathisch gefunden.

    »Aber … Aber was mache ich mit unserer Wohnung hier? Ich kann doch nicht einfach die Tür hinter mir zuknallen und abhauen.«

    »Nicht?«, konterte Mikke trocken. »Im Ernst, gerade hast du mir noch erzählt, dass du dir die Bude allein gar nicht leisten kannst. Und Monsieur Gero ja offenbar noch weniger. Du – oder vielmehr ihr – werdet sie demnach sowieso kündigen müssen. Es sei denn, er plant, seine Neue dort einziehen zu lassen. Vielleicht hat die ja Geld. Das kann dir aber egal sein. Ist nicht mehr deine Baustelle. Steht irgendwas von Wert in der Wohnung?«

    Jula lachte leise. »Schön wär’s. Aber es war ja nie wirklich Kohle da, insofern sind die meisten Möbel nach all den Jahren nur noch gut für den Sperrmüll. Ich würde sowieso nichts davon behalten wollen. Jetzt nicht mehr.«

    Sie schauderte.

    Bruchstücke ihres Gesprächs mit Mikke kreisten in Julas Kopf, während sie Henri so kindgerecht wie möglich zu erklären versuchte, dass Gero und sie sich getrennt hatten. Das war bei Weitem der schwierigste Teil. Nicht der mögliche Orts- oder Schulwechsel, nicht der Abschied von seinen Freunden – nein, das hier ging viel, viel tiefer. Gero war zwar nicht Henris leiblicher Vater, aber der einzige, der für ihn existierte, und nun musste er ihn loslassen. Es war das Schlimmste, was Jula ihrem Sohn jemals hatte begreiflich machen müssen, und sie hasste Gero mit jeder Sekunde mehr für seinen Verrat. Als etwas anderes konnte sie es nicht sehen.

    Henri hörte ihr ungläubig zu und stellte lauter Fragen, die mit ›Warum‹ anfingen. Jula gab sich Mühe, ihm so neutral wie möglich zu antworten und ihre eigenen Gefühle herauszuhalten, doch es war offensichtlich, dass die Neuigkeit ihn verstörte. Als

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