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Disziplinarrecht: Für die polizeiliche Praxis
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eBook1.287 Seiten13 Stunden

Disziplinarrecht: Für die polizeiliche Praxis

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Über dieses E-Book

Ob eine schuldhafte Verletzung der Dienstpflichten – und damit ein Dienstvergehen – vorliegt oder in welchen Fällen ein Verhalten außerhalb des Dienstes ein Dienstvergehen sein kann, ist in der Praxis mitunter schwer zu beurteilen. Den disziplinaren Umgang mit unterschiedlichsten Fallkonstellationen zu erleichtern, ist Ziel dieses Buches. Dabei können Ermittlungen disziplinarrechtlicher Art jeden Beamten treffen. Einerseits kann er selbst Betroffener eines Verfahrens sein, andererseits mit der Durchführung der Ermittlungen beauftragt werden.
Das vorliegende Buch führt den Leser von der "Einleitung" bis zum Abschluss durch den gesamten Verlauf eines Disziplinarverfahrens. Im Mittelpunkt steht dabei das formelle Disziplinarrecht. Das behördliche Disziplinarverfahren und die Bemessung von Disziplinarmaßnahmen bilden dabei die thematischen Schwerpunkte. Zugrunde gelegt wird nordrhein-westfälisches Landesrecht und Bundesrecht (LDG NRW/BDG). Die Parallelvorschriften der anderen Bundesländer werden in Zusammenhang mit den behandelten Vorschriften des LDG NRW/BDG genannt und auf landesrechtliche Besonderheiten wird bei Bedarf eingegangen.
Die 5. Auflage wurde umfassend überarbeitet und erweitert sowie an die Änderungen und Fortentwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung angepasst. Insbesondere die seit der Vorauflage bekannt gewordenen rechtsextremen Chats bei der Polizei führten zu verschiedenen Fallkonstellationen, die eine Ergänzung des Kapitels zum Rechtsextremismus erforderlich machten. In diesem Zusammenhang wird auch auf das Hinweisgeberschutzgesetz vom 31.5.2023 eingegangen, mit dem die sogenannte EU-Whistleblower-Richtlinie umgesetzt wurde. Außerdem wird der Gesetzentwurf zur Beschleunigung von Disziplinarverfahren in der Bundesverwaltung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften vorgestellt.
Eine tabellarische Übersicht einzelner Disziplinarmaßnahmen, die der schnellen Orientierung dient, schließt das Buch ab. Zudem geben Mustervordrucke Hilfestellung bei der Durchführung des Verfahrens.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Dez. 2023
ISBN9783801109332
Disziplinarrecht: Für die polizeiliche Praxis

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    Buchvorschau

    Disziplinarrecht - Christoph Keller

    1Einleitung

    Während das allgemeine Strafrecht alle strafmündigen Bürgerinnen und Bürger erfasst, wendet sich das Disziplinarrecht an einen begrenzten Personenkreis, nämlich den in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehenden Beamten.¹ Wie die unbedingt notwendige Ordnung im Staat nur dann aufrechtzuerhalten ist, wenn der Bürger nötigenfalls dazu gezwungen werden kann, so ist letztlich auch die Aufrechterhaltung der Ordnung unter den Beamten als „Dienern des Staates" und deren gewissenhafte Pflichterfüllung nur zu gewährleisten, wenn Nachlässige durch disziplinarische Mittel zur gewissenhaften Erfüllung ihrer Aufgabe angehalten und gezwungen werden können. Das ist auch deshalb besonders wichtig, weil das Beamtenverhältnis als Dauerrechtsverhältnis (auf Lebenszeit) ausgelegt ist und die bei den Arbeitnehmern der freien Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes mögliche Entlassung bei diesem Personenkreis bei verliehener Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit ausgeschlossen ist.² Das Disziplinarrecht ist somit kein besonderes Strafprozessrecht, sondern Teil des Beamtenrechts. Es erfüllt eine Ordnungsfunktion.³

    Die Rechtsgebiete „Strafrecht und „Disziplinarrecht sind ihrem Wesen nach unterschiedlich. Zweck des Strafrechts ist die Vergeltung für begangenes Unrecht. Aufgabe einer Disziplinarmaßnahme ist es, den Beamten zur korrekten Pflichterfüllung anzuhalten (Pflichtenmahnung) oder ihn, wenn er nicht mehr tragbar ist, aus dem Dienst zu entfernen (Lösung des Beamtenverhältnisses). Aus diesem Unterschied folgt, dass eine Disziplinarmaßnahme neben einer Kriminalstrafe verhängt werden kann, ohne dass gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen wird.⁴ Disziplinarrecht ist kein Sonderstrafrecht.⁵ Das Disziplinarrecht verfolgt also im Falle von Pflichtverletzungen einerseits das Ziel, die Leistungsfähigkeit der Verwaltung zu sichern und andererseits, das Ansehen des Beamtentums in der Öffentlichkeit zu wahren. Hier zeigt sich der Unterschied zum Strafrecht, welches vom Vergeltungsgedanken und dem Ziel der Generalprävention getragen wird. Straf- und Disziplinarverfahren verfolgen eine unterschiedliche Intention (BVerwG, NVwZ-RR 2006, 553).

    Im Gegensatz zum Strafrecht sucht Disziplinarrecht nicht ein sozialschädliches Verhalten abzuwehren, sondern begnügt sich sektoral damit, die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes zu verteidigen. Gegenstand ist somit (allein) der Interessenschutz des öffentlichen Dienstes, „bar irrationaler Zielvorstellungen".

    1.1Funktionen des Disziplinarrechts

    Überwiegend wird davon ausgegangen, dass die Intention des Disziplinarrechts nicht die Sanktion ist, sondern die „Reinhaltung" des Berufsbeamtentums, die Erziehung des Beamten und die Wahrung, Festigung und Sicherung der Dienstordnung im Interesse der Gesamtheit.

    Die Disziplinarbefugnis dient der Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung ist die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (BVerwG ZBR 2013, 351).

    In einem Disziplinarverfahren soll zum einen eine Maßnahme gefunden werden, durch die ein gestörtes Vertrauensverhältnis zwischen dem Beamten und seinem Dienstherrn wieder aufgebaut werden kann (Erziehungsfunktion). Zum anderen soll festgestellt werden, ob das Vertrauensverhältnis so nachhaltig zerstört ist, dass es nicht wieder hergestellt werden kann, der Beamte also zu entlassen ist (Reinhaltung). Das Disziplinarrecht ist in seiner verfahrensrechtlichen Ausgestaltung zugleich Schutzrecht des Beamten. Es ist nicht dazu bestimmt, die „soziale Repräsentanz des Staates gegenüber der Gesellschaft zu sichern. Ihm haben moralische oder strafrechtliche Maßstäbe ebenso fremd zu sein wie berufsethische Formeln „halb lyrischer, halb theologischer Art. Disziplinarrecht ist Interessenschutz des öffentlichen Dienstes, der die Abwägung der Interessen beider Partner des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses erfordert.

    Ohne Bedeutung sind die allgemein im Strafrecht bekannten Institute wie Fortsetzungszusammenhang, Tateinheit, Tatmehrheit, Versuch und Teilnahme. Zudem ist anerkannt, dass außerdienstliche Straftaten nicht immer zugleich Dienstvergehen darstellen. Auch in den Verfolgungsgrundsätzen unterscheidet sich das Disziplinarrecht vom Strafrecht. Während § 152 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft verpflichtet, gegen alle strafbaren Handlungen einzuschreiten (Legalitätsprinzip), gilt Gleiches nur für die „Aufklärung" durch die nach § 17 Abs. 1 LDG NRW/BDG einzuleitenden Ermittlungen, nicht aber für die weitere Verfolgung/Maßregelung. Insoweit gilt für den Dienstvorgesetzten das Opportunitätsprinzip.

    Aufgabe des Disziplinarrechts ist es somit, mit besonderen Maßnahmen den Beamten anzuhalten, seine Pflicht zu erfüllen und das Ansehen des Beamtentums zu wahren⁹; der Zweck liegt also in folgenden Aufgaben:¹⁰

    –Reinigung von untragbaren Beamten,

    –Erziehung von strauchelnden Beamten, bei denen das Vertrauen in sie noch besteht,

    –Schutz des Beamtentums,

    –Abschreckung von Fehlverhalten.¹¹

    Zu den bedeutenden Funktionen des Disziplinarrechts, die miteinander korrespondieren, zählen die Ordnungsfunktion, die Schutz- und Lösungsfunktion.¹²

    1.1.1Ordnungsfunktion¹³

    Ziel der Ordnungsfunktion ist es, auf das Verhalten von Beamten einzuwirken, damit diese ihr Fehlverhalten einstellen und künftig dieses Fehlverhalten auch nicht mehr an den Tag legen.¹⁴ Insofern handelt es sich um einen Erziehungs- bzw. Pflichtenmahnungszweck. Bleibt das Beamtenverhältnis trotz des Dienstvergehens bestehen, dient die Disziplinarmaßnahme mithin der Erziehung des Beamten zu künftigem pflichtgemäßem Verhalten (BVerwG NJW 1985, 215)

    Die Führung von Beamten in diesem Sinne erfolgt durch den Ausspruch bzw. die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme (§ 5 LDG NRW/BDG). Für das Verständnis des Disziplinarrechts ist es von Bedeutung, dass es sich um kein „Sonderstrafrecht" handelt. Es unterscheidet sich schon dadurch vom Strafrecht, dass es auf einer persönlichen Bindung (Dienst- und Treueverhältnis) in einem konkreten Dienstverhältnis beruht. Im Strafrecht geht es um Vergeltung und Sühne bei festgestellten Rechtsbrüchen. Das Disziplinarrecht unterscheidet sich ganz wesentlich davon, weil es repressive Motive nicht enthalten darf.¹⁵ Das Disziplinarrecht ist auf die Erhaltung und Sicherung einer gesetzmäßigen, geordneten und glaubwürdigen Verwaltung ausgerichtet. Die disziplinarrechtliche Ahndung von Dienstvergehen soll den Beamten ermahnen, sich künftig pflichtgemäß zu verhalten und damit die Integrität und Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums im Interesse der Allgemeinheit aufrechterhalten (OVG Koblenz, RiA 2005, 206). Dies erfolgt primär durch Individualprävention und im Einzelfall durch generalpräventive Überlegungen. Sofern dies nicht ausreichend ist, soll die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung durch Lösung des Beamtenverhältnisses erfolgen. Für das Strafrecht gilt der Resozialisierungsgedanke. Dieser kommt im Disziplinarrecht nur im Rahmen der pflichtenmahnenden Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitation zum Zuge.¹⁶

    1.1.2Lösungsfunktion¹⁷

    Die Lösungsfunktion – als Korrelat zur arbeitsrechtlichen Kündigung¹⁸ – soll das Beamtenverhältnis beenden oder abändern, wenn der Beamte durch ein Dienstvergehen das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis zerstört hat. Sie ist die Ausnahme im System des grundsätzlich auf lebenslange Beziehung angelegten Sonderstatus des Berufsbeamtentums. Sie kann durchaus als Korrelat zur arbeitsrechtlichen Kündigung angesehen werden. Gegenstand disziplinarrechtlicher Reaktion ist dabei nicht eine einzelne Tat, sondern die dadurch gekennzeichnete Gesamtpersönlichkeit des Beamten im Hinblick auf die Frage, ob er für den öffentlichen Dienst noch tragbar ist oder ob seine Erziehung zu künftiger Pflichterfüllung geboten erscheint, um den Eintritt der Untragbarkeit durch erneute Pflichtverletzungen zu vermeiden. Eine an diesen Zielen orientierte Rechtsanwendung schließt es aus, die Prognose künftigen Missverhaltens auf die Gefahr nur einschlägiger Sachverhaltswiederholungen durch den Beamten zu beschränken (BVerwG NJW 1984, 504).

    1.1.3Schutzfunktion¹⁹

    Das Disziplinarrecht hat daneben (auch) eine Schutzfunktion zugunsten des Beamten; es gewährleistet, dass das Beamtenverhältnis gegen den Willen des Beamten nur bei Nachweis eines schweren Dienstvergehens, nicht aber aus anderen Gründen, beendet werden kann. Der Beamte soll grundsätzlich vor willkürlichen und rechtswidrigen Handlungen des Dienstherrn bewahrt werden.²⁰

    Der vom Disziplinarrecht vorgegebene Katalog zulässiger Disziplinarmaßnahmen beschränkt die Befugnisse des Dienstvorgesetzten auf bestimmte Mittel disziplinarer Einwirkungen. Zum Schutz des Beamten entfalten auch die dienstrechtliche Zwangsbeurlaubung und die disziplinarrechtliche Suspendierung Sperrwirkung, d. h. der Dienst- und Disziplinarvorgesetzte ist gehindert, einen Beamten wegen Vermutungen oder Verdachtsäußerungen von der Dienstausübung abzuhalten. Auch dürfen rein beamtenrechtliche Maßnahmen wie Umsetzung, Versetzung, Abordnung oder Zurückstellung von der Beförderung nicht als versteckte disziplinare Erziehungsmaßnahme an deren Stelle ergriffen werden.²¹ Gerät der Beamte in den Verdacht, eine Straftat oder ein Dienstvergehen begangen zu haben, so kann es allerdings, je nach den obwaltenden Umständen angezeigt sein, ihn bis zur Klärung der Angelegenheit nicht oder jedenfalls nicht bei seiner bisherigen Beschäftigungsbehörde Dienst verrichten zu lassen. Eine solche Maßnahme lässt sich auch ergänzend damit begründen, dass dies auch dem Schutz des Beamten dient.²²

    Dem Beamten wird deshalb ein rechtsstaatlich geordnetes, verwaltungsrechtliches Verfahren mit dadurch gewährleistetem Anspruch auf rechtliches Gehör und der Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung zugestanden. Verhindert werden willkürliche Entlassungen oder Maßregelungen. Das Disziplinarrecht nimmt den Beamten vor Bestrebungen des Dienstherrn im Hinblick auf die Beendigung des Beamtenverhältnisses in Schutz, indem es die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis regelmäßig erst aufgrund eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zulässt (Richtervorbehalt).²³

    Auch kann sich der Beamte gegen unberechtigte Vorwürfe seiner Vorgesetzten durch ein sog. Selbstreinigungsverfahren schützen (§ 18 LDG NRW/ BDG).²⁴

    1.2Bundesrecht

    Zum 01.01.2002 ist das BDG in Kraft getreten.²⁵ Es erfolgt eine (enge) Bindung an verwaltungsrechtliche Vorschriften. Nach der Gesetzesbegründung zum BDG soll die Anwendung vieler strafverfahrensrechtlicher Vorschriften in der Praxis ohnehin nicht selten zu Schwierigkeiten geführt haben.²⁶ Zumindest hat sich das BDiszG immer für die ergänzende Anwendung strafprozessualer Vorschriften ausgesprochen, da es im Disziplinarverfahren (auch) um die Beurteilung menschlichen Fehlverhaltens geht. Das aber ist die Parallele zum Strafrecht.²⁷ Zum 31.12.2003 wurden das BDiszG und die Institution des Bundesdisziplinaranwalts (Einführung 1952²⁸) abgeschafft.

    Andere Bundesländer folgten größtenteils des Muster des Bundesdisziplinargesetzes, weichen aber in einigen Punkten von dem BDG ab.²⁹

    Durch Artikel 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts vom 09.07.2001 (BGBl. I S. 1510), zuletzt geändert durch Gesetz vom 06.12.2011 (BGBl. I S. 2554), traten Änderungen des BDG in Kraft.

    1.3Landesrecht (Nordrhein-Westfalen)

    Das Landesdisziplinargesetz (LDG NRW) ist am 01.01.2005 in Kraft getreten. Das LDG NRW knüpfte an die Rechtsentwicklung des Bundes an. So reagierte das LDG NRW (auch) auf die Entscheidung des Bundesgesetzgebers, die bis dato eigenständige Disziplinargerichtsbarkeit des Bundes aufzulösen und Entscheidungen in (Bundes-)Disziplinarsachen (erst- und zweitinstanzlich) den Verwaltungsgerichten der Länder zu überantworten.³⁰ Verfahrensrechtlich löste sich das LDG NRW aus der traditionellen Bindung an die StPO und wendete sich entsprechend dem Verwaltungsprozessrecht zu. Zu unterscheiden vom Verwaltungsprozessrecht ist das Verwaltungsverfahrensrecht, das das Handeln der Verwaltung regelt. Es ist kodifiziert in den Verwaltungsverfahrensgesetzen (VwVfG) des Bundes und der Länder.³¹

    Konsequenterweise sind zur Ergänzung des LDG NRW/BDG die Bestimmungen des VwVfG NRW und der VwGO anzuwenden (§ 3 LDG NRW/BDG), soweit sie nicht zu den Bestimmungen dieses Gesetzes in Widerspruch stehen oder soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist (§ 3 Abs. 1 LDG NRW/BDG). Kenntnisse zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind somit unentbehrlich.³²

    Das LDG NRW kennt nur die Unterscheidung zwischen dem behördlichen und dem gerichtlichen Verfahren. Auch kann die Zahl der Klagen eines Beamten gegen eine Disziplinarverfügung bei verbreitertem Rechtsweg eine Erhöhung der Belastung der (Verwaltungs-)Gerichte mit sich bringen.³³

    Nach Darstellung der nordrhein-westfälischen Landesregierung hat der tägliche Umgang mit dem zum 01.01.2005 grundlegend novellierten Landesdisziplinargesetz gezeigt, dass einzelne Regelungen einer Änderung bedürften. Insbesondere die Regelung zur Zulässigkeit von Disziplinarverfahren nach Straf- oder Bußgeldverfahren war aufgrund der Rechtsprechung des BVerwG v. 23.02.2005 (1 D 13/04) hinsichtlich der Zurückstufung zu modifizieren. Ferner waren redaktionelle Änderungen erforderlich. So wurde klargestellt, dass das Widerspruchsverfahren durch das Bürokratieabbaugesetz II abgeschafft worden ist.³⁴

    Das novellierte LDG NRW trat mit Wirkung vom 01.01.2010 in Kraft.³⁵

    Durch das „Siebte Gesetz zur Änderung der gesetzlichen Befristungen im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Inneres und Kommunales sowie zur Änderung weiterer Gesetze" v. 02.10.2014 wurde § 84 (Befristung) aufgehoben (GV.NRW. S. 622).

    1Vertiefend zum „öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis" Günther ZBR 2012, 678 ff.

    2Einleitend auch Loos 1992, S. 103 ff.

    3Wichmann/Langer 2017, Rn. 399.

    4Leppek 2019, Rn. 189.

    5Claussen/Benneke/Schwandt 2010, Rn. 11.

    6Vertiefend: Juncker ZBR 2009, 289 (290).

    7Das Disziplinarrecht ist keineswegs ein überholtes Instrument aus der Folterkammer erzkonservativer, ja archaischer Dienstherrenmentalität. Vielmehr bietet es, sachgerecht eingesetzt, als Führungsmittel die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Leistungsstörungen wirksam zu begegnen; vgl. auch Hoffmann Die Polizei 2006, 170 (171); zum „Zweck des Disziplinarrechts" auch Kawik et al 2020, S. 215.

    8Wiewiorra/Gericke, Grundlagen des Beamten- und Disziplinarrechts, in: Schriften zur Fortbildung, PPr Berlin – Mediendienst, 2006, S. 27 (28).

    9Wattler ZBR 1989, 321 (325).

    10Bieler DÖD 1990, 201 (206), Bieler/Lukat 2012, Rn. 2 ff.

    11Dies aber auf der Ebene des Bestehens des Disziplinarrechts an sich und der Drohung, bei Fehlverhalten ist mit einer Disziplinierung nach Maßgabe des Gesetzes zu rechnen, nicht aber in dem Sinne, dass ein erwischter Beamter gleichsam drakonisch zur Verantwortung gezogen wird, um am Beispiel dieses Beamten alle anderen von einem solchen Fehlverhalten abzuschrecken. Dies muss zu einer, auf die Person des Beamten bezogen, unangemessenen Disziplinierung führen, die ermessensfehlerhaft wäre; vgl. Bieler DÖD 1990, 201 (206).

    12Ausführlich Radloff RiA 2007, 204 ff.

    13Baßlsperger 2009, S. 235.

    14Fehlverhalten als abweichendes bzw. deviantes Verhalten, welches nicht mit den geltenden Normen und Werten übereinstimmt; aus soziologischer Sicht Savelsberg Kriminalistik 2010, 463 (464): Werte, und daraus abgeleitete Normen und ihre Umsetzung im alltäglichen Umgang miteinander, stellen einen Gradmesser an Zivilisation einer Gesellschaft dar, da sie erkennen lassen, welche Einstellungen eine Gesellschaft zu Problemstellungen des täglichen Zusammenlebens entwickelt hat.

    15Lenders 2019, S. 29.

    16Lenders 2019, S. 29.

    17Der Begriff „Reinigungsfunktion" gilt indes als überholt; Claussen/Benneke/Schwandt 2010, Rn. 14.; vgl. aber Nokiel DÖD 2018, 297 (304). Disziplinarrecht hat u.a. Reinigungsfunktion.

    18Wichmann/Langer, 2017, Rn. 399.

    19Baßlsperger 2009, S. 235.

    20Radloff/Nokiel 2007, S. 4.

    21Herrmann/Sandkuhl 2021, § 4 Rn. 31.

    22Fiebig/Wolfering, in: Johlen/Oerder, MAH Verwaltungsrecht 2023, § 5 Rn. 36.

    23Allerdings verstößt die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis durch Verwaltungsakt nicht gegen hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums i.S. des Art. 33 Abs. 5 GG. Ein Grundsatz der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nur durch Richterspruch oder nur durch eine vom Dienstvorgesetzten verschiedene Stelle existiere nicht. Auch ist das Lebenszeitprinzip durch die Abschaffung der gerichtlichen Disziplinargewalt nicht verletzt (BVerfG, Beschl. v. 14.01.2020 - 2 BvR 2055/16).

    24Die Schutzfunktion ist der historische, zugleich eigentliche Grund der Entstehung des Disziplinarrechts, vgl. Schwandt 1997, 73. Zur geschichtlichen Entwicklung auch Schnupp/Havers 1994, 336 ff.

    25BT-Drs. 14/5529 v. 12.03.2001; dazu Weiß ZBR 2002, 17 ff.; Rogosch 2001, S. 108 (114).

    26BT-Drs. 14/4659, S. 34. Diese (Gesetzes-)Begründung ist indes so ohne Weiteres nicht nachvollziehbar, da sich die Anwendung der Vorschriften der StPO in praxi durchaus bewährt hat.

    27Müller-Eising NJW 2001, 3587 (3588).

    28Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Dienststrafrechts v. 28.11.1952 (BGBl. I 1952, 749).

    29Zängl ZBR 2006, 321.

    30Gesetzentwurf der Landesregierung, Drs. 13/5220 v. 29.03.2004, S. 77 ff.

    31Das Disziplinarrecht wird als „Ahndungsmittel" für beamtenrechtliche Dienstpflichtverletzungen also enger an das Verwaltungsrecht gebunden, vgl. Baldarelli/Wölke 2002, S. 68 ff.

    32Einen (Kurz-)Überblick zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren gibt Vahle DNP 1992, 291 ff.

    33Dazu auch Schwandt RiA 2001, 157 (165).

    34LT-Drs. 14/9808.

    35GV.NRW. 2009 S. 530.

    2Dienstvergehen

    Das Beamtenrecht benennt zwei entscheidende Begrifflichkeiten: Das Dienstvergehen und die Pflichtverletzung. Maßgebend ist der Begriff des Dienstvergehens, der Grundlage der disziplinaren Verfolgung ist (§ 17 Abs. 1 LDG NRW/ BDG). Die Pflichtverletzung folgt aus dem konkreten Pflichtentatbestand, der in Landesbeamtengesetzen bzw. im Beamtenstatusgesetz, aber auch in einer allgemeinen Verwaltungsregelung oder in einer Einzelweisung enthalten sein kann. Z. B. kann der Beamte gem. § 103 Abs. 2 Satz 1 LBG NRW Anträge und Beschwerden vorbringen; hierbei hat er den Dienstweg einzuhalten.³⁶ Wird der Dienstweg nicht eingehalten, sind dienstliche Maßnahmen gegenüber dem „Absender" möglich.³⁷

    2.1Beamtenstatusgesetz (BeamtStG)

    2.1.1Systematik: BeamtStG und LBG NRW³⁸

    Ausgelöst durch die Föderalismusreform I haben im Jahre 2009 Bund und Länder das Beamtenrecht umgestaltet, der Bund durch Erlass des am 01.04.2009 in Kraft getretenen Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) und des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes (DNeuG vom 05.02.2009).³⁹ Zielrichtung des BeamtStG ist die Festlegung der beamtenrechtlichen Grundstrukturen zur Gewährleistung der erforderlichen Einheitlichkeit des Dienstrechts.⁴⁰ Anders als das Beamtenrechtsrahmengesetz enthält das BeamtStG überwiegend unmittelbar geltende Vorschriften.

    Im Zuge dieser Föderalismusreform I sind die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern durch das Gesetz zur Änderung des GG vom 28.08.2006⁴¹ neu geregelt worden. Im Bereich des Beamtenrechts verfügt der Bund nur noch über eine stark reduzierte Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG. Dagegen können die Länder weite Teile des Beamtenrechts selbst regeln.⁴²

    § 1 Abs. 1 LBG NRW legt den Anwendungsbereich des LBG NRW fest und verweist auf die Regelungen des BeamtStG, die daneben in der Rechtspraxis zu berücksichtigen sind. Daraus ergibt sich aber, dass sehr viele Vorschriften, und zwar insbesondere die grundlegenden Bestimmungen, die bislang im LBG NRW a. F. geregelt waren, sich nur noch im BeamtStG wiederfinden. Dies hat zur Folge, dass der Rechtsanwender gezwungen ist, sowohl das Beamtenstatusgesetz als auch die Neufassung des Landesbeamtengesetzes zu beachten. Damit wird die Anwendung des LBG NRW zumindest erschwert.

    Gem. § 1 BBG gilt dieses Gesetz für die Beamtinnen und Beamten des Bundes, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist.

    2.1.2Dienstpflichten

    Das Beamtenverhältnis und die sich hieraus ergebende Rechtsstellung des Beamten werden – wie sich aus der Gesetzessystematik ergibt – in erster Linie von den beamtengesetzlichen Beamtenpflichten bestimmt.⁴³ Die unlösbar damit verbundene zweite Determinante stellen die in den Beamtengesetzen normierten Beamtenrechte dar (§§ 33 ff. BeamtStG, §§ 42 ff. LBG NRW, §§ 60 ff. BBG), die keine Privilegien, d. h. unverdiente Vorteile, sondern aus dem Beamtenverhältnis entspringende Ansprüche des Beamten sind.⁴⁴

    Die beamtenrechtlichen Pflichten und Rechte wurden durch das Beamtenstatusgesetz einheitlich und abschließend geregelt (§§ 33 bis 53 BeamtStG; Abschnitt 6 des BeamtStG: Die rechtliche Stellung im Beamtenverhältnis). Durch das BeamtStG wurde eine zeitgemäße Pflichtenregelung (§§ 33 ff.) entsprechend den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen konkretisiert. Leitbild der Aufgabenerfüllung bleibt das Wohl der Allgemeinheit. Die „volle Hingabe an den Beruf, die für Beamtinnen und Beamte aus dem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG folgt, wird mit dem Begriff des „vollen persönlichen Einsatzes einem modernen Sprachgebrauch angepasst, ohne dass dies die Intensität der Dienstleistungspflicht verringern soll (§ 34 Satz 1 BeamtStG) oder die besonderen Anforderungen, die der Dienst an einen Dienstberuf stellt. Die Einsatzklausel ist inhaltlich identisch mit der „Hingabepflicht". Gefordert wird ein gesteigerter Einsatz unter Zurückstellung anderer Interessen. Danach reicht eine Erfüllung der allgemeinen Dienstleistungspflicht zur ordnungsgemäßen Berufsausübung des Beamten nicht aus.⁴⁵ Der Beamte muss sich mit vollem Einsatz seinem Beruf widmen, indem er seine volle Arbeitskraft in das Beamtenverhältnis einbringen und sich dem ihm anvertrauten Hauptamt mit voller Hingabe widmen muss (BVerfG NVwZ-RR 2007, 185).⁴⁶

    Ein weiterer Ansatz ist, die Korruption noch wirksamer zu bekämpfen. Daher gilt die Verschwiegenheitspflicht (§ 37 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BeamtStG) nicht mehr, wenn Anhaltspunkte für Korruptionsdelikte bestehen.

    Gem. § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG muss das Verhalten des Beamten innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordert (Wohlverhaltenspflicht). Durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Beamtenstatusgesetzes und des Bundesbeamtengesetzes sowie weiterer dienstrechtlicher Vorschriften v. 29.11.2018 (BGBl. I 2232) wurde Satz 3 der Vorschrift erweitert um die Begriffe „innerhalb und außerhalb des Dienstes". Diese Ergänzung stellt deklaratorisch klar, dass auch das Verhalten der Beamtinnen und Beamten im Anwendungsbereich des BeamtStG innerhalb wie außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden muss, die ihr Beruf erfordert.⁴⁷

    Das BeamtStG zählt „Verhalten außerhalb des Dienstes" zum Feld möglicher Dienstvergehen (§ 47 Abs. 1 BeamtStG).

    Bei einem Verhalten außerhalb des Dienstes (§ 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG) ist der Tatbestand abgeschwächt. Hier macht sich der Wertewandel in der Gesellschaft bemerkbar. Ein Verhalten außerhalb des Dienstes ist nur dann ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen. Der Beamte wird nicht mehr als „immer im Dienst" angesehen.⁴⁸ Im Übrigen hat der Bund bei der Kodifikation des Statusrechts die bisherigen Regeln über das Befolgen fachlicher Weisungen nicht verändert (§§ 35, 36 BeamtStG), weder die materiellen noch die formellen Maßgaben.⁴⁹

    Das BeamtStG enthält überwiegend unmittelbar geltende Vorschriften. Es deckt indes nicht das ganze Beamtenrecht ab. Bei der Bearbeitung von Sachverhalten sind sowohl das Beamtenstatusgesetz als auch die Landesbeamtengesetze zu Rate zu ziehen.

    –zunächst ist auf die Vorschriften des BeamtStG zurückzugreifen.

    –soweit im BeamtStG keine Regelungen enthalten sind oder dem Landesgesetzgeber ein Regelungsspielraum eröffnet wird, ist das Landesrecht heranzuziehen.

    Letztlich ist der Rechtsanwender gezwungen, sowohl das BeamtStG als auch die Neufassung der jeweiligen Landesbeamtengesetze zu beachten.

    BeamtStG: Rechtliche Stellung im Beamtenverhältnis

    LBG NRW: Rechtliche Stellung im Beamtenverhältnis

    (Überblick, exemplarisch)

    2.2Dienstvergehen

    Im Unterschied zum Strafrecht enthält das Disziplinarrecht keine Aufzählung der Pflichten, deren Verletzung ein Dienstvergehen darstellt. Vielmehr werden durch § 47 Abs. 1 BeamtStG (§ 77 BBG) – quasi in Form einer Generalklausel – alle Pflichtverletzungen erfasst.⁵¹

    Voraussetzungen eines Dienstvergehens sind im Überblick folgende:

    Voraussetzungen eines Dienstvergehens (Überblick):⁵²

    –Beamteneigenschaft,

    –Handlung (Tun oder Unterlassen) verstößt gegen eine/mehrere Beamtenpflichten (Dienstpflichtverletzung),

    –Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor,

    –Verschulden,

    –Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit.

    Fehlt eine Voraussetzung, liegt ein Dienstvergehen nicht vor.

    2.2.1Tatbestand

    Kernvorschrift ist § 47 BeamtStG (§ 77 BBG). Die Norm ist auf den Sonderstatus der Beamten zurückzuführen und stellt eine zulässige Einschränkung des Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG dar (BVerfG NVwZ 2003, 73: Es verstößt nicht gegen die Verfassung, die allgemeine – auch außerdienstliche – Gesetzestreue eines Beamten nach wie vor für eine wesentliche Grundlage des Berufsbeamtentums anzusehen).

    § 47 Abs. 1 BeamtStG (§ 77 Abs. 1 BBG):

    Nichterfüllung von Pflichten (1)

    Beamtinnen und Beamte begehen ein Dienstvergehen, wenn sie schuldhaft die ihnen obliegenden Pflichten verletzen. Ein Verhalten außerhalb des Dienstes ist nur dann ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen.

    Zu den Dienstpflichten gehören insbesondere auch alle Pflichten, die sich aus Fachgesetzen, Verwaltungsvorschriften und Einzelweisungen ergeben, also etwa: Erklärungspflichten aus dem Nebentätigkeits-, Reise- und Umzugskostenrecht, Dienstanweisungen bzgl. der Führung von privaten Telefonaten usw.⁵³

    Das Disziplinarrecht gilt auch für Ruhestandsbeamte. Anders als bei aktiven Beamten – hier gilt § 47 Abs. 1 BeamtStG – enthält § 47 Abs. 2 BeamtStG abschließend die Pflichtverletzungen von Ruhestandsbeamten, die disziplinarrechtlich geahndet werden können. Wird gegen Ruhestandsbeamte wegen eines vor dem Eintritt in den Ruhestand begangenen Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren eingeleitet, so greift nicht § 47 Abs. 2 BeamtStG. Von den grundsätzlich möglichen Disziplinarmaßnahmen (§ 5 LDG NRW/BDG) kann gegenüber Ruhestandsbeamten stets nur eine Kürzung des Ruhegehalts (§ 11 LDG NRW/BDG) bzw. die Aberkennung des Ruhegehalts (§ 12 LDG NRW/BDG) ausgesprochen werden.⁵⁴

    Tatbestandsmäßig ergibt sich das Dienstvergehen aus innerdienstlichen und außerdienstlichen Beamtenpflichten, wobei außerdienstlich noch besondere Voraussetzungen vorliegen müssen (§ 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG). Gem. § 34 Satz 1 BeamtStG (§ 61 BBG) haben sich Beamtinnen und Beamte mit vollem persönlichem Einsatz ihrem Beruf zu widmen. Sie haben die übertragenen Aufgaben uneigennützig nach bestem Gewissen wahrzunehmen (§ 34 Satz 2 BeamtStG).⁵⁵

    Ihr Verhalten muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordert. Diese Wohlverhaltenspflicht des § 34 Satz 3 BeamtStG (§ 61 Abs. 1 Satz 3 BBG) wird eingeschränkt durch § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG (§ 77 Abs. 1 Satz 2 BBG). Hiernach ist ein Verhalten außerhalb des Dienstes nur dann ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen.

    Vorsätzliche Verstöße eines zum Schutz der Rechtsordnung berufenen Polizeibeamten gegen elementare Rechtsvorschriften, wie sie die Normen des Strafrechts darstellen, überschreiten regelmäßig in qualitativer und/oder quantitativer Hinsicht deutlich das einer jeden außerdienstlichen Pflichtverletzung innewohnende Maß an disziplinarer Relevanz und weisen deshalb die nach § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG erforderliche Bedeutsamkeit auf. Polizeibeamte haben Straftaten zu verhüten, aufzuklären und zu verfolgen; sie genießen in der Öffentlichkeit eine besondere Vertrauens- und Garantenstellung. Dieses berufserforderliche Vertrauen wird in besonderem Maße beeinträchtigt, wenn Polizeibeamte selbst erhebliche (Vorsatz-)Straftaten begehen (OVG Münster DVBl 2019, 1011: Besitz von Kinderpornografie – Entfernung aus dem Dienst als regelmäßige Ahndung).

    Achtungswürdiges Verhalten wird von den Beamtinnen und Beamten auch außerhalb des Dienstes erwartet. Außerhalb des Dienstes begangene Pflichtverletzungen sind gem. 77 Abs. 1 Satz 2 BBG aber nur dann ein Dienstvergehen, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet sind, das Vertrauen (des Dienstherrn oder der Allgemeinheit) in einer für das Amt oder das Ansehen des Beamtentums bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen.⁵⁶ Bei Länder- und Kommunalbeamten kommt es indes nicht mehr darauf an, ob das „Ansehen des Berufsbeamtentums" durch ein außerdienstliches Dienstvergehen in bedeutsamer Weise beeinträchtigt wurde, denn in dem entsprechenden § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG ist diese Formulierung entfallen. Man wird hierbei aber nicht davon ausgehen dürfen, dass an das außerdienstliche Verhalten und an die dienstrechtliche Wertung dieses Verhaltens unterschiedliche Maßstäbe anzulegen sind. Es wäre nicht nur geradezu absurd und widersinnig, sondern auch rechtswidrig, eine Unterscheidung nach dem jeweils anwendbaren Recht für Bundesbeamte (BBG) oder Landes- und Kommunalbeamte (BeamtStG) vorzunehmen. Dieses Ergebnis findet seine Grundlage in den geltenden hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG. Beamte befinden sich – unabhängig von ihrem Dienstherrn – in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis (vgl. § 4 BBG, § 3 Abs. 1 BeamtStG), aus dem sich hinsichtlich ihrer Verhaltenspflicht innerhalb und außerhalb des Dienstes dieselben Grundsätze ergeben. Damit gilt auch für Landes- und Kommunalbeamte: § 34 Satz 3 BeamtStG betrifft das gesamte (inner- und außerdienstliche) Verhalten des Beamten und § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG bezieht das Ansehen des Beamtentums als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in seinen Anwendungsbereich mit ein.⁵⁷ Die Regelung des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamStG ist in der Praxis nicht einfach zu handhaben, denn nicht jedes achtungs- und vertrauensunwürdige Verhalten ist zwingend ein Dienstvergehen. Wann die Voraussetzungen vorliegen, kann daher nur in jedem Einzelfall bewertet werden (instruktiv BVerfG, Beschl. v. 05.06.2002 – 2 BvR 2257/96, NVwZ 2003, 73: Disziplinarrechtliche Ahndung außerdienstlicher Trunkenheitsfahrten).

    Ruhestandsbeamte sind nicht mehr im Dienst. Ihre Handlungen stellen deshalb insgesamt außerdienstliche Verhaltensweisen dar. Es bestehen jedoch weiter bestimmte Pflichten, die zu einer Ahndung nach den Disziplinargesetzen (Kürzung oder Aberkennung des Ruhegehalts nach § 5 Abs. 2 LDG NRW/BDG und dem entsprechenden Landesdisziplinarrecht) führen können. Auch bei Ruhestandsbeamten kommt nach Beendigung des Beamtenverhältnisses die Verfolgung eines Dienstvergehens in Betracht. Nach § 77 Abs. 2 BBG bzw. § 47 Abs. 2 BeamtStG ist dies allerdings nur unter den dort genannten Voraussetzungen der Fall (zum Beispiel Verstoß gegen Verschwiegenheitspflichten, Vergehen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung usw.). Wegen solcher außerdienstlichen Verfehlungen, die während seines früher bestehenden Beamtenverhältnisses begangen wurden, kann der Ruhestandsbeamte nach § 2 Abs. 2 BBG (und dem entsprechenden Landesrecht) aber immer noch belangt werden.⁵⁸

    Bei der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten des Beamten als dienstlich oder als außerdienstlich einzustufen ist, kommt auf es auf die funktionale Beziehung zum Dienst an.⁵⁹ Dienstliches Verhalten ist gekennzeichnet durch einen funktionalen Zusammenhang mit dem Amt, das dem Beamten übertragen ist. Es kommt nicht auf formale Kriterien an, etwa die Dienstzeit oder den Dienstort.⁶⁰ Ob ein Fehlverhalten innerhalb des Dienstes vorliegt oder dem außerdienstlichen Bereich zuzurechnen ist, richtet sich nach dessen sachlichem Zusammenhang mit dem Dienst. Entscheidend ist mithin die kausale und logische Einbindung eines Verhaltens in ein Amt und die damit verbundene dienstliche Tätigkeit (konkreter Dienstbezug).⁶¹ Ein Verhalten wird nicht dadurch notwendig innerdienstlich, dass es sich während des Dienstes und in den Diensträumen abspielt. Das wird deutlich bei Pflichtverletzungen wie bspw. der unerlaubten Geschenkannahme, der Bestechlichkeit, der unerlaubten Nebenbeschäftigung oder im Falle des Fernbleibens vom Dienst, die sich teilweise, überwiegend oder vollständig außerhalb der Dienstzeit und der Diensträume abspielen. Dadurch allein verlieren sie nicht ihren innerdienstlichen Charakter. Auch ein Beamter, der z. B. nach Beendigung seines Dienstes mit dem ihm anvertrauten Dienstfahrzeug eine „Schwarzfahrt durchführt oder der nach Dienstschluss im Dienstgebäude mit Freunden ein „Zechgelage veranstaltet, begeht keineswegs ein außerdienstliches, sondern ein innerdienstliches Dienstvergehen.⁶²

    Dabei ist ein Dienstbezug nicht allein in den Fällen gegeben, in denen der Beamte auf seinem Dienstposten mit gerade denjenigen Aufgaben befasst war, die Gegenstand des ihm zur Last gelegten außerdienstlichen Fehlverhaltens sind. Es genügt, wenn das außerdienstliche Verhalten Rückschlüsse auf die Dienstausübung zulässt oder den Beamten in der Dienstausübung beeinträchtigt (BVerwG, Urt. v. 24.10.2019 – 2 C 3/18, NVwZ-RR 2020, 362; BVerwG, Beschl. v. 21.12.2010 − 2 B 29/10, NVwZ-RR 2011, 413). Entscheidend ist die materielle Dienstbezogenheit des Verhaltens. Es kommt somit darauf an, ob durch dieses Verhalten innerdienstliche Pflichten verletzt werden. Von Bedeutung für die rechtliche Einordnung des Verhaltens als innerdienstliche Pflichtverletzung ist mithin dessen kausale und logische Einbindung in ein Amt und die damit verbundene dienstliche Tätigkeit (BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 − 2 C 6.14 − NVwZ 2016, 772; BVerwG, Urt. v. 20.02.2001 – 1 D 55.99, NJW 2002, 155; BVerwG, Urt. v. 05.11.1968 − 1 D 19.68 − BVerwGE 33, 199).

    Obwohl bei der Abgrenzung von inner- und außerdienstlichem Verhalten in erster Linie eine materielle Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist, können auch formale Aspekte als Indizien herangezogen werden. Hiernach liegt ein Fehlverhalten außerhalb des Dienstes (nur dann) vor, wenn es „weder formell in das Amt […] noch materiell in die damit verbundene dienstliche Tätigkeit eingebunden war" (BVerwG, Urt. v. 18.06.2015 – 2 C 9/14, NVwZ 2015, 1680; BVerwG, Beschl. v. 28.08.2018 – 2 B 5.18; BVerwG, Urt. v. 20.02.2001 – 1 D 55.99; BVerwG, Urt. v. 19.08.2010 – 2 C 5.10, NVwZ 2011, 303).

    Um ein mit einer Disziplinarmaßnahme zu ahndendes außerdienstliches Dienstvergehen handelt es sich regelmäßig bei dem nach § 184b Abs. 3 StGB strafbewehrten Besitz einer kinderpornografischen Schrift, die nach ihrer Definition gem. § 11 Abs. 3 StGB Ton- und Bildträgern, Datenspeichern, Abbildungen und anderen Darstellungen gleichsteht. Außerhalb des Dienstes begangene schwere Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet worden sind, erfüllen in der Regel auch ohne Bezug auf das konkrete Amt die qualifizierenden Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG für ein außerdienstliches Dienstvergehen (VGH Mannheim, Urt. v. 20.06.2017 – DL 13 S 214/17, NVwZ-RR 2018, 154).

    Außerdienstlich ist mithin jenes Verhalten, das sich als dasjenige einer Privatperson darstellt (BVerwG, Urt. v. 20.02.2001 – 1 D 55/99, NVwZ 2001, 1410).

    Beispiel (OVG Bremen, Beschl. v. 13.07.2018 – 2 B 174/18): Sexuelle Handlungen in einem Whirlpool auf einem Balkon können gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen und die charakterliche Ungeeignetheit eines Polizeikommissaranwärters begründen.⁶³

    Eine innerdienstliche Pflichtverletzung kann außerhalb der Dienstzeit und außerhalb der Diensträume begangen werden, wenn sie in einem funktionalen Zusammenhang mit dem übertragenen Amt des Beamten steht.⁶⁴

    Bei einer Gruppe von typischen Pflichtverletzungen wird deutlich, dass sie zwar ihrer Natur nach außerhalb des Dienstes begangen werden, aber dennoch wegen ihrer engen funktionalen Beziehung zum Amt einen konkreten Dienstbezug aufweisen und damit innerdienstlicher Natur sind. Dies gilt etwa für die Pflichten, eine Nebenbeschäftigung nicht ohne Genehmigung auszuüben, in Bezug auf das Amt keine Belohnungen oder Geschenke anzunehmen oder einen Streik oder ein streikähnliches Verhalten zu unterlassen.⁶⁵

    Während die Rechtsprechung für die Unterscheidung stets auf die materielle Dienstbezogenheit abstellt (OVG Münster, Urt. v. 31.10.2018 – 3d A 229/16.BDG), wird dieser Maßstab beim Betrug zulasten des Dienstherrn nicht angewandt. So wird die Inanspruchnahme von Beihilfeleistungen für eine Handlung gehalten, die in das Amt eingebunden und damit vom dienstlichen Pflichtenkreis eines Beamten umfasst ist (VGH München, Urt. v. 03.05.2017 – 16a D 15.2087).⁶⁸ Hier wird die Einbeziehung in den innerdienstlichen Pflichtenkreis aus der allgemeinen Wahrheitspflicht oder gesetzlich geregelten Anzeigepflichten abgeleitet:

    „Ein Beamter, der im Zusammenhang mit der Gewährung von Fürsorgeleistungen der ihm obliegenden Wahrheitspflicht nicht Rechnung trägt und auf diese Weise seinen Dienstherrn finanziell schädigt, verhält sich in hohem Maße pflichtwidrig. Die Verwaltung ist insbesondere in personalintensiven Einheiten bei ihren Entscheidungen im personellen und fürsorgerischen Bereich auf die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit ihrer Bediensteten angewiesen. Da die Behörde nicht jeden ihrer Beschäftigten sorgfältig überwachen kann, muss sie – auch aus Gründen der Sparsamkeit – bestrebt sein, bei der Betreuung ihrer Bediensteten den personellen und materiellen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Hinzu kommt, dass Fürsorgeansprüche in der Regel ihren Grund in dem privaten Bereich des Beschäftigten finden. Solche Vorgänge können von der Dienststelle in der Regel nur eingeschränkt überprüft werden. Der Dienstherr ist deshalb im besonderen Maße darauf angewiesen, dass der Beamte der Wahrheitspflicht Rechnung trägt. Kommt er dieser Verpflichtung schuldhaft nicht nach, begeht er eine Dienstpflichtverletzung mit erheblichem Gewicht" (BVerwG, Urt. v. 12.09.2000 – 1 D 48.98).

    Diese Auffassung wird indes kritisch gesehen. Es werden Wertungswidersprüche erhoben, wenn die private Geltendmachung von Fürsorgeleistungen gegenüber dem Dienstherrn in den (Kern-)Bereich der innerdienstlichen Dienstpflichten einbezogen wird. So darf nach Auffassung des BVerwG von Beamten, die von Amts wegen nicht mit Besoldungsangelegenheiten dienstlich befasst sind, nur ein „besoldungsrechtliches Grundwissen" erwartet werden (BVerwG, Urt. v. 29.04.2004 – 2 A 5/03). Das OVG Lüneburg nahm eine in diesem Sinne nachvollziehbare Abgrenzung für die Pflichten des Beamten bei Überzahlungen des Dienstherrn vor (OVG Lüneburg, Urt. v. 24.06.2014 – 20 BD 1/14, NdsRpfl 2015, 100). Führt der Beamte eine Überzahlung durch fehlerhafte Angaben und Verletzung der Wahrheitspflicht selbst herbei, liegt ein Dienstvergehen vor. Hingegen bedarf das disziplinarrechtliche Einschreiten einer zusätzlichen Rechtfertigung, wenn die Ursache für die Überzahlung im Bereich des Dienstherrn liegt und der Beamte es nur darauf ankommen lässt, ob der Fehler auch von der zuständigen Behörde entdeckt wird und diese eine Rückforderung veranlasst. Selbst die Annahme grober Fahrlässigkeit versperre in diesem Zusammenhang nur die Berufung auf die Einrede der Entreicherung; eine zusätzliche – disziplinarrechtlich zu ahndende – Pflichtwidrigkeit sei damit nicht verbunden.

    Ein Verhalten außerhalb des Dienstes erfüllt den objektiven Tatbestand eines Dienstvergehens nur dann, wenn die besonderen qualifizierenden Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG erfüllt sind. Ein Verhalten außerhalb des Dienstes ist nur dann ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalls in besonderem Maße geeignet ist, das Vertrauen in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen.

    Beamte sind nicht „immer im Dienst". Sie können sich als Privatperson so wie ein Durchschnittsbürger verhalten. Beamtinnen und Beamte sind nicht die besseren Bürgerinnen und Bürger, ihr Sozialverhalten muss deshalb nicht wesentlich anders sein, als das von jedem Bürger erwartete (BVerwG, Urt. v. 30.08.2000 – 1 D 37/99, NJW 2001, 1080). Die Beamtin und der Beamten sind nicht Vorbilder in allen Lebenslagen, die besonderen Anforderungen an Moral und Anstand unterliegen (BVerwG, Urt. v. 25.03.2010 – 2 C 83/08, NVwZ 2010, 1571). Bloße Bagatellverstöße gegen die Wohlverhaltensklausel (§ 34 Satz3 BeamtStG) außerhalb des Dienstes dürfen also nicht disziplinarrechtlich geahndet werden.

    Beispiel: Das Vorliegen eines Dienstvergehens bei einer außerdienstlich im Straßenverkehr begangenen fahrlässigen Körperverletzung dürfte daher in aller Regel nicht gegeben sein. Nach einer älteren Entscheidung des BVerwG stellt selbst eine im Straßenverkehr begangene fahrlässige Tötung kein Dienstvergehen dar (BVerwGE 33, 58 – NJW 1968, 858). Auch wenn diese Entscheidung des BVerwG von einem Wehrdisziplinarsenat gefällt wurde, kommt man bei der Übertragung dieser Rechtsprechung auf eine von einem Polizeibeamten begangenen fahrlässigen Körperverletzung zu keinem anderen Ergebnis.⁶⁹

    Außerdienstliches Verhalten hat nur dann disziplinarrechtliche Relevanz, wenn es um die Wahrung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Integrität der Amtsführung geht, d. h. wenn die Funktionsfähigkeit des Dienstes beeinträchtigt ist oder gefährdet werden könnte. Nur insoweit vermag das durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützte Interesse an der Funktionstüchtigkeit des öffentlichen Dienstes die im privaten Bereich des Beamten oder Richters wirkenden Grundrechte einzuschränken. Eine tatsächliche Beeinträchtigung muss allerdings nicht nachgewiesen werden. Durch das private Verhalten muss die amtlich übertragene Aufgabe oder Beziehung zur eigenen Behörde konkret und in besonders bedeutsamer Weise tangiert sein – die Beeinträchtigung des Vertrauens „in einer für ihr Amt bedeutsamen Weise erfolgen. Darunter ist eine beachtliche Intensität des Fehlverhaltens zu verstehen, die eine für die Allgemeinheit markante Wirkung entfaltet. Insofern bezieht sich das Merkmal „in bedeutsamer Weise auf den „Erfolg" der möglichen Achtungs- und Vertrauensbeeinträchtigung. Die zur Beeinträchtigung in besonderem Maße geeignete Pflichtverletzung weist diese Bedeutsamkeit dann auf, wenn sie in qualitativer oder quantitativer Hinsicht das einer jeden außerdienstlichen Pflichtverletzung innewohnende Maß an disziplinarrechtlicher Relevanz deutlich überschreitet.

    Eine besondere Vertrauensbeeinträchtigung i. S. des § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG ist nach dem BVerwG insbesondere anzunehmen bei vorsätzlich begangenen Straftaten sowie bei Vorliegen eines Bezuges zwischen dem außerdienstlichen Pflichtverstoß und dem statusrechtlichen Amt des Beamten (BVerwG, Urt. v. 18.06.2015 – 2 C 9/14, NVwZ 2015, 1680).

    Zurückliegend vertrat das BVerwG die Auffassung, dass sich die Beeinträchtigung des Vertrauens entweder auf das Amt des Beamten im konkret-funktionellen Sinne (Dienstposten), d.h. auf die Erfüllung der ihm konkret obliegenden Dienstpflichten, oder auf das Ansehen des Berufsbeamtentums als Sachwalter einer stabilen und gesetzestreuen Verwaltung beziehen (BVerwG, Urt. v. 30.08.2000 – 1 D 37/99, NJW 2001, 1080⁷⁰). Noch 2010 ist der 2. Senat des BVerwG davon ausgegangen, dass sich die Beeinträchtigung der Achtung und des Vertrauens auf das Amt des Beamten im konkret-funktionellen Sinne (also aus dem konkret wahrgenommenen Dienstposten) beziehen müsse (BVerwG, Urt. v. 19.08.2010 – 2 C 5.10, NVwZ 2011, 303: Besitzt ein Lehrer außerdienstlich kinderpornografische Schriften, so ergibt sich die Disziplinarwürdigkeit dieser Pflichtverletzung aus dem Bezug zu seinen dienstlichen Pflichten). Die Rechtsstellung des Beamten wird aber im Wesentlichen durch sein Statusamt geprägt (BVerwG, Urt. v. 11.12.2014 – 2 C 51/13, NVwZ-RR 2015, 465: Die dauerhafte Trennung von Amt und Funktion ist mit dem Anspruch des Beamten auf amtsangemessene Beschäftigung nicht vereinbar). Das Statusamt – nicht der Dienstposten – bestimmt, mit welchem Aufgabenbereich Beamte amtsangemessen beschäftigt und (künftig) verwendet werden können. In der Konsequenz muss die spiegelbildliche Frage, ob der Beamte trotz begangener Pflichtverletzungen noch im Beamtenverhältnis verbleiben kann, daher auf sein Amt als Ganzes und nicht auf die Besonderheiten eines begrenzten Tätigkeitsbereichs bezogen werden. Ansonsten hinge die Möglichkeit der Vertrauensbeeinträchtigung von den Zufälligkeiten des jeweiligen Aufgabenzuschnitts und der Abgrenzung der Dienstposten zum Zeitpunkt der Tatbegehung ab. Der Beamte kann aber jederzeit umgesetzt oder versetzt werden.⁷¹ Die Bezugnahme auf das Statusamt folgt auch aus der materiellen Pflichtenstellung in § 34 Satz 3 BeamtStG.

    Die Regelung nimmt Bezug auf den Beruf, im Unterschied zu § 34 Satz 2 BeamtStG („… nach bestem Gewissen …").

    Folgerichtig nimmt das BVerwG 2015 eine Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung vor:

    (Änderung der Rechtsprechung)

    BVerwG, Urt. v. 18.06.2015 – 2 C 9/14, NVwZ 2015, 1680

    Außerdienstliches Verhalten von Beamten ist nur disziplinarwürdig, wenn es zur Beeinträchtigung des berufserforderlichen Vertrauens führen kann. Dies ist insbesondere bei vorsätzlich begangenen Straftaten sowie bei Vorliegen eines Bezuges zwischen dem Pflichtverstoß und dem Amt des Beamten anzunehmen. Anknüpfungspunkt hierfür ist das Amt im statusrechtlichen Sinn.

    Polizeibeamte haben Straftaten zu verhüten, aufzuklären und zu verfolgen; sie genießen in der Öffentlichkeit eine besondere Vertrauens- und Garantenstellung. Das zur Ausübung dieser Ämter erforderliche Vertrauen wird in besonderem Maße beeinträchtigt, wenn Polizeibeamte selbst erhebliche Straftaten begehen.

    Das BVerwG bestätigt zunächst seine bisherige Rechtsprechung, wonach bei außerdienstlichen Verfehlungen nicht bereits die Pflichtverletzung selbst zur Annahme eines Dienstvergehens ausreicht, und zwar auch dann nicht, wenn hierdurch eine Straftat begangen wird; vielmehr müssen weitere, auf die Eignung zur Vertrauensbeeinträchtigung bezogene Umstände hinzutreten. Eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung nimmt der 2. Senat des BVerwG jedoch im Zusammenhang mit der Aussage vor, dass maßgeblich für die Frage, ob das außerdienstliche Verhalten von Beamten eine Vertrauensbeeinträchtigung darstellt, auch ist, ob der Pflichtverstoß einen Bezug zu seinem Amt hat. Insofern stellt das Gericht nicht auf den Dienstposten (Amt im konkret-funktionellen Sinne) ab. Vielmehr wird auf das verliehene Amt im statusrechtlichen Sinne abgestellt. Insofern ist die Entscheidung konsequent. In funktionaler Hinsicht kann ein außerdienstliches Verhalten von Beamten gerade nicht durch die im Zeitpunkt der Ausübung des Dienstvergehens konkret übertragenen Aufgaben eines Dienstpostens bestimmt sein.⁷² Die Einstufung als außerdienstliches Dienstvergehen darf keine „Momentaufnahme" sein, wie sie die gegenwärtige Aufgabenwahrnehmung durch einen Beamten darstellen kann.

    „Weniger überzeugend ist allerdings die Aussage des BVerwG, dass das außerdienstliche Verhalten des Beamten ‚gerade nicht‘ durch die ihm konkret übertragenen Aufgaben seines Dienstpostens bestimmt ist. Richtig dürfte sein, dass das außerdienstliche Verhalten des Beamten sowohl (immer) durch das statusrechtliche Amt, aber auch durch die konkret übertragenen Aufgaben seines Dienstpostens (mit-)bestimmt ist, eine Vertrauensbeeinträchtigung sich also im Hinblick auf beide Ämter ergeben kann. Im Ergebnis sieht das BVerwG dies aber offensichtlich genauso, indem es in Rn. 20 ausführt, dass sich aus dem sachlichen Bezug des Dienstvergehens zum konkreten Aufgabenbereich eine Indizwirkung ergeben kann, da der Beamte mit dem ihm übertragenen konkreten Amt identifiziert wird."⁷³

    Im Urteil des BVerwG v. 18.06.2015 (2 C 9/14) ging es im Wesentlichen um die Frage, unter welchen Voraussetzungen außerdienstliche Dienstpflichtverletzungen eines Polizeibeamten zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen können. Zugrunde lag in diesem Fall der Besitz von kinderpornografischen Bild- bzw. Videodateien, welcher nicht einer bestimmten Disziplinarmaßnahme im Wege einer Regeleinstufung zugeordnet werden kann, sondern je nach Einzelfall der gesamte Disziplinarmaßnahmekatalog Anwendung findet und bei Polizeibeamten bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen kann.⁷⁴ In dem konkreten Fall hatte der Polizeibeamte darauf hingewiesen, dass er als Streifen- und Verkehrspolizist weder jemals dienstlich Kontakt mit Kindern gehabt habe, noch die Bekämpfung von Kindesmissbrauch oder Kinderpornografie zu seinen dienstlichen Tätigkeiten gehöre. Zu seinen konkret-funktionellen Aufgaben gehöre es vielmehr, schwerpunktmäßig Verkehrsdelikte und Ordnungswidrigkeiten zu ahnden. Er sei kein Kriminalbeamter, der Straftaten aufklärt und verfolgt. Er habe in den vielen Jahren auf seinem Dienstposten noch niemals etwas mit Sexualdelikten zu tun gehabt und schon gar nicht mit Internetstraftaten. Er sei auch kein Vorgesetzter und besitze insofern keine Vorbildfunktion. Rückschlüsse aus dem außerdienstlichen Fehlverhalten des Beklagten auf seine künftige Amtsführung oder eine Beeinträchtigung in der Amtsführung könnten daher nicht gezogen werden.

    Die Abkehr der höchstrichterlichen Rechtsprechung von der bisherigen Bezugnahme schweren außerdienstlichen Fehlverhaltens vom konkret-funktionellen Amt auf das Statusamt des Beamten bedeutet im Ergebnis eine dogmatische Verschärfung, die nicht immer zu überzeugen vermag. Sie bedeutet etwa in der Praxis, dass ein Forstbeamter bei gleicher Schwere des Deliktes wegen des verschiedenen Statusamtes eher einer Entlassung aus dem Beamtenverhältnis entgehen kann, als ein Wasserschutzpolizist, weil es zu den Kernpflichten eines Polizeibeamten – auf welchem Dienstposten auch immer – gehört, Straftaten zu verhüten, aufzuklären und zu verfolgen. Polizeibeamte genießen daher, betont das Bundesverwaltungsgericht, in der Öffentlichkeit – insbesondere auch für schutzbedürftige Personen – eine besondere Vertrauens- und Garantenstellung. Andererseits erstreckt sich diese besondere Vertrauens- und Garantenstellung offenbar nicht auf alle außerdienstlich begangenen Deliktarten, denn nach der Rechtsprechung begründen etwa private Straßenverkehrsdelikte in der Regel kein disziplinarrechtliches Sanktionsbedürfnis (BVerwG, Urt. v. 30.08.2000 – 1 D 37/99 – BVerwGE 112, 19, 23: Disziplinarische Bewertung einer einmaligen außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt). Hier erwartet der Gesetzgeber von Beamten kein wesentlich anderes Sozialverhalten, als von jedem anderen Bürger.⁷⁵ Dass die Vorbildfunktion des Polizeibeamten für die Bürger beim Aufrufen von inkriminierten Dateien am heimischen PC stärker beeinträchtigt wird als bei der Alkoholfahrt auf öffentlichen Straßen, wird als „einigermaßen widersprüchlich⁷⁶ bezeichnet, ist aber angesichts des Charakters des Deliktes „Kinderpornografie gleichwohl nachvollziehbar. Bei der Maßnahmebemessung eines solchen Fehlverhaltens ist als generalpräventive Erwägung vor allem zu berücksichtigen, dass sich Kinderpornografie, insbesondere im Zusammenhang mit der Globalisierung des Datenaustauschs und der Datennutzung im Rahmen des Internets, als ein sehr ernst zu nehmendes Gefahrenpotenzial darstellt (BVerwG, Urt. v. 06.07.2000 – 2 WD 9/00, NJW 2001, 240). Wer kinderpornografische Schriften besitzt, trägt durch seine Nachfrage nach solchen Darstellungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) und damit zum Verstoß gegen ihre Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit bei (OVG Münster, Urt. v. 20.03.2019 – 3d A 4888/18.O, DVBl 2019, 1011).

    Die Entscheidung des BVerwG gibt Hilfestellung bei der Beurteilung der Frage, wann ein außerdienstliches Fehlverhalten von Beamten im Allgemeinen und Polizeibeamten im Besonderen von einem solchen Gewicht ist, dass es eine statusberührende Disziplinarmaßnahme, namentlich die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, rechtfertigt. Der Bedeutung der Entscheidung entsprechend hat das BVerwG diese für die Veröffentlichung in seiner amtlichen Sammlung vorgesehen (BVerwGE 152, 228).

    Abzustellen ist auf das verliehene Amt im statusrechtlichen Sinne, nicht (mehr) auf das Amt im konkret-funktionellen Sinne (Dienstposten).

    Allerdings kann sich aus dem sachlichen Bezug des Dienstvergehens zum konkreten Aufgabenbereich eine Indizwirkung ergeben. Denn die Beamten werden mit dem ihnen übertragenen konkreten Amt identifiziert; dieses haben sie uneigennützig, nach bestem Gewissen und in voller persönlicher Verantwortung für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen wahrzunehmen, § 34 Satz 1 und 2 BeamtStG (BVerwG, Urt. v. 18.06.2015 – 2 C 9/14, NVwZ 2015, 1680).

    Beispiel: Eine außerdienstlich begangene gefährliche Körperverletzung weist einen hinreichenden Bezug zum Amt im statusrechtlichen Sinne eines Polizeibeamten auf. Polizeibeamte haben Straftaten zu verhüten (§ 1 Abs. 1 Satz 1, 2 PolG NRW), aufzuklären und zu verfolgen (§ 163 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dieses berufserforderliche Vertrauen wird in besonderem Maße beeinträchtigt, wenn Polizeibeamte selbst erhebliche Vorsatzstraftaten begehen.⁷⁷

    Zumeist handelt es sich bei außerdienstlichen Verstößen um solche gegen die Pflicht zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten (§ 34 Satz 3 BeamtStG). Hierunter werden insbesondere außerdienstliche Straftaten zu subsumieren sein. Fehlt ein Dienstbezug, weil das außerdienstliche Verhalten keine Rückschlüsse auf die Dienstausübung zulässt oder die Beamtin bzw. den Beamten in der Dienstausübung beeinträchtigt, so ist bei erstmaligem außerdienstlichem Fehlverhalten die Eignung zur Beeinträchtigung des Vertrauens im Hinblick auf das Ansehen des Beamtentums bereits unter Hinweis auf die gesetzgeberischen Wertungen bei der Begehung einer Straftat zum Nachteil des Staates (etwa Steuer- oder Abgabenhinterziehung) oder der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen einer vorsätzlich begangenen schwerwiegenden Straftat angenommen worden. Liegt keine der genannten Fallgruppen vor, ist die Disziplinarwürdigkeit eines erstmaligen außerdienstlichen Verhaltens einer Beamtin bzw. eines Beamten regelmäßig dann anzunehmen, wenn das außerdienstliche Verhalten im Strafgesetzbuch als Vergehen mit einer Freiheitsstrafe im mittleren Bereich belegt ist.⁷⁸

    Je näher daher der Bezug des außerdienstlichen Fehlverhaltens des Beamten zu dem ihm (konkret) übertragenen Aufgabenbereich ist, desto eher kann davon ausgegangen werden, dass sein Verhalten geeignet ist, das Vertrauen zu beeinträchtigen, das sein Beruf (abstrakt) erfordert.⁷⁹ Andere Maßstäbe sind anzulegen bei der Pflicht zur Verfassungstreue (hierzu noch unten Ziff. 6.7.1).

    Das Dienstvergehen ist das Kernstück des Disziplinarverfahrens. Liegt ein entsprechender Verdacht nicht vor, darf der Dienstvorgesetzte auch kein Disziplinarverfahren einleiten.

    § 47 Abs. 3 BeamtStG (§ 77 Abs. 3 BBG)

    Das Nähere über die Verfolgung von Dienstvergehen regeln die Disziplinargesetze.⁸⁰

    Irrelevant im Disziplinarrecht sind sog. Bagatellverfehlungen, auch wenn sie im formellen Sinne die Voraussetzungen einer schuldhaft begangenen Pflichtverletzung erfüllen.

    Beispiele:⁸¹

    –Seltenes oder gar einmaliges Zuspätkommen zum Dienst,

    –Einfacher Fehler bei der Sachbearbeitung aus Unachtsamkeit oder Unkenntnis,

    –Verspätete Eintragung ins Fahrtenbuch (fahrlässig),⁸²

    –Fehleinschätzung der Rechtslage und daraus resultierende falsche Maßnahmen,

    –Unbeabsichtigte Beschädigung eines Dienstkraftfahrzeugs in einer engen Tiefgarage.

    Es handelt sich um „bloße Unkorrektheiten ohne disziplinaren Unrechtsgehalt".⁸³ Auch die Nichteinhaltung des Dienstweges ist eine Pflichtverletzung, gleichwohl nicht von schwerem Gewicht.⁸⁴ Die Landesdisziplinargesetze sehen z. T. außerdem in Bagatellfällen die Möglichkeit vor, von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens abzusehen (vgl. z. B. § 22 Abs. 2 Satz 3 ThürDG); insoweit gilt dann das Opportunitätsprinzip.⁸⁵

    Eine Nichterledigung der dem Beamten übertragenen Aufgaben stellt keine Pflichtverletzung dar, wenn der Dienstherr dem Beamten die für die Arbeiten erforderliche Bildschirmarbeitsplatzbrille nicht in zureichendem Maße zur Verfügung gestellt hat (OVG Lüneburg, Urt. v. 25.02.2014 – 3 LD 1/13).

    Ein Dienstvergehen liegt auch nicht vor, wenn ein an Diabetes leidender schwerbehinderter Beamter während eines Personalgesprächs eine unauffällige Blutzuckermessung durchführt (OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.02.2008 – 3 AD 7/07: Keine Dienstpflichtwidrigkeit, sozialadäquates Verhalten).

    Der Bagatellcharakter der Pflichtverletzung muss aber geradezu auf der Hand liegen, ansonsten sind disziplinare Ermittlungen einzuleiten. Es muss eine Verletzung mit einem Minimum an Gewicht und Evidenz vorliegen, die geeignet ist, das berufserforderliche Ansehen oder Vertrauen zu beeinträchtigen.⁸⁶ Andernfalls überschreitet der Verstoß nicht die Hürde einer Dienstpflichtverletzung und ist disziplinarrechtlich nicht von Bedeutung. Eine derartige Bagatellverfehlung kann etwa bei nur fahrlässiger Begehung des Dienstvergehens, bei einem geringen Schaden oder bei einem fehlenden Bedürfnis nach einem pflichtenmahnenden Einwirken auf den Beamten durch eine Disziplinarmaßnahme der Fall sein (BVerwG, Urt. v. 23.02.2005 – 1 D 1.04; BVerwG, Urt. v. 19.10.2005 – 1 D 14.04; OVG Münster, Urt. v. 25.01.2021 – 3d A 4887/18.O).

    Bloßen Bagatellverfehlungen kommt in aller Regel kein disziplinarischer Unrechtsgehalt zu. Auch die fehlerhafte oder nachlässige Arbeitsweise eines ansonsten gewissenhaften Beamten stellt sich nicht ohne Weiteres als Dienstpflichtverletzung dar. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Dienstausübung hat vielmehr eine im Ganzen durchschnittliche Leistung zum Gegenstand. Ein einfacher Fehler, der jedem einmal passieren kann, ist von einem Dienstvergehen abzugrenzen. Ohnehin verbietet die Alltäglichkeit kleinerer Fehler jegliches Dramatisieren. Die Anforderungen an das dienstliche Verhalten dürfen letztlich nicht überspannt werden. Es gehört auch zur Führungsverantwortung Vorgesetzter, kleinere „Verfehlungen" (Entgleisungen einmaliger Natur) als solche zu erkennen und entsprechend zu bewerten.⁸⁷

    Auch der fähigste und zuverlässigste Beamte ist Schwankungen seiner Arbeitskraft unterworfen und macht gelegentlich Fehler, die eine Verwaltung vernünftigerweise in Kauf nehmen muss (VG Hannover, Urt. v. 13.12.2013 – 18 A 5697/13).⁸⁸ Werden aber dienstliche Belange durch schlechte Leistungen des Beamten beeinträchtigt, so kann dies den Widerruf einer Nebentätigkeitsgenehmigung rechtfertigen (VG Aachen, Urt. v. 19.03.2015 – 1 K 2258/13).

    Ob ein nachlässiges Verhalten eines Beamten die Stufe zur disziplinarrechtlichen Relevanz überschreitet, ist letztlich eine Frage des Einzelfalls.⁸⁹

    Das Schuldprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) gelten auch im Disziplinarverfahren (BVerfG, Beschl. v. 19.02.2003 – 2 BvR 1413/01, NVwZ 2003, 1504).

    Beispiel (BVerwG, Urt. v. 19.10.2005 – 1 D 14.04, DÖV 2006, 352 „Tagebuchkladde"): Ein Vorgesetzter, der in seiner im Dienstschreibtisch aufbewahrten Tagebuchkladde negative Bemerkungen über Mitarbeiter niedergeschrieben hat, begeht allein durch die Tagebucheinträge noch kein Dienstvergehen. Besteht von vornherein nicht die Gefahr einer Verwechslung mit dienstlichen Vorgängen und auch kein Grund zu diesbezüglichem Misstrauen, muss er im Regelfall auch nicht damit rechnen, dass diese Bemerkungen den Betroffenen von dritter Seite unbefugt zur Kenntnis gebracht werden, um ihn und die Betroffenen zu schädigen. Das BVerwG erklärte hier einen Einzelfall einer fahrlässigen Dienstpflichtverletzung, die die Schwelle disziplinarrechtlicher Relevanz im Sinne von § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG noch nicht überschreitet.

    Der Vorgesetzte des Beamten hat das Recht und die Pflicht, den Mitarbeiter systematisch zu beobachten (BVerwG, Urt. v. 27.10.1988 – 2 A 2/87). Nur zufällige Eindrücke sind keine Grundlage für eine Beurteilung. Es darf sich auch nur um unstrukturierte Gedächtnisaufzeichnungen handeln, die anderen nicht zur Verfügung gestellt werden dürfen. Es handelt sich also um persönliche Aufzeichnungen, die vertraulich zu behandeln sind.⁹⁰

    Es kommt mithin auf das „Gewicht der Verfehlung an. Die Anforderungen an das (dienstliche) Verhalten dürfen letztlich nicht überspannt werden. Es gehört auch zur Führungsverantwortung Vorgesetzter, kleinere „Verfehlungen (Entgleisungen einmaliger Natur) als solche zu erkennen und entsprechend zu bewerten. Die Pflichtverletzung darf sich nicht als bloße Unkorrektheit oder Ordnungswidrigkeit offenbaren. Sie muss vielmehr ein Minimum an Gewicht und Evidenz (Klarheit/Offensichtlichkeit) besitzen. Auch im dienstlichen Bereich gibt es Ungeschicklichkeiten, Nachlässigkeiten o. Ä., die – gemessen an dem, was der Beruf erfordert – noch nicht als pflichtwidrig anzusehen sind, z. B. eine geringfügige Verspätung zum Dienstantritt, vergessene Eintragung im Fahrtenbuch, kleinere, unbeabsichtigte Schadensfälle usw. Der Bagatellcharakter der Verfehlung muss sich dem Beurteilenden aufdrängen.⁹¹

    Beispiel (VG Dresden, Beschl. v. 07.05.2004 – 10 D 3013/00: „Gefangenenaufsicht"): Beim Transport eines Gefangenen zwecks Vorführung zu einer psychologischen Begutachtung hatten die begleitenden Polizeibeamten grob fahrlässig gegen ihre Aufsichtspflicht verstoßen, als sie die medizinische Einrichtung – wenn auch nur zeitweise – verließen. Dieses Fehlverhalten überschreitet die Schwelle disziplinärer Erheblichkeit auch dann, wenn der Gefangene keinen Fluchtversuch unternimmt, aber als suizidgefährdet und psychisch auffällig eingestuft ist. Ein bloßes Bagatellvergehen ist hier nicht gegeben. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Pflicht zur Beaufsichtigung des Gefangenen die Kernpflicht des Beamten auf seinem konkreten Dienstposten ist. Vor diesem Hintergrund vermag auch der Umstand, dass es tatsächlich zu keinem Zwischenfall mit dem Gefangenen kam und dieser insbesondere keinen Fluchtversuch unternahm, das Gewicht des Fehlverhaltens nicht so weit zu mindern, dass die Schwelle disziplinarer Erheblichkeit unterschritten würde (Verweis für Polizeibeamten wegen unzureichender Bewachung bei Vorführung eines Untersuchungsgefangenen).

    Dagegen reicht der sich aus der fehlenden Kontrolle eines Beihilfebescheides und der Kontoauszüge ergebende Vorwurf grober Fahrlässigkeit für sich genommen nicht aus, um die Erheblichkeitsschwelle zu überschreiten. Auch wenn dem Beamten die Überzahlung schon aufgrund ihrer Höhe ohne weiteres hätte auffallen können und müssen, wird dadurch nicht die zur Bejahung eines Dienstvergehens erforderliche Erheblichkeitsschwelle überschritten. Das wäre beispielsweise erst dann der Fall, wenn der Beamte die Überzahlung bemerkt und es darauf ankommen lässt, ob der Fehler auch von der zuständigen Behörde entdeckt wird und diese eine Rückforderung veranlasst (OVG Lüneburg DÖD 2014, 226).

    Auch wegen des vergleichsweise geringen gesetzlichen Strafrahmens wird durch eine einmalige außerdienstliche Verbalbeleidigung die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten (VG Meiningen, Urt. v. 20.06.2013 – 6 D 60005/12 Me). Nicht jede anstößige Äußerungen eines Beamten in der Öffentlichkeit ist disziplinarrechtlich relevant.

    Beispiel (VG Wiesbaden, Urt. v. 27.03.2007 – 25 BK 1366/06): Das VG Wiesbaden hat einen Polizeibeamten (Polizeiobermeister) der Bundespolizei von dem Vorwurf freigestellt, er habe seine Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten verletzt. Der Polizeibeamte hatte sich gegen eine Disziplinarverfügung der zuständigen Bundespolizeibehörde gewandt. Darin waren seine Dienstbezüge u.a. deshalb gekürzt worden, weil er in einem Dienstraum des Flughafen Frankfurt/Main in Anwesenheit eines Reisenden eine in der „Bild-Zeitung abgebildete leicht bekleidete weibliche Person mit der Bemerkung: „Mann, hat die große Dinger! kommentiert hatte. Der Dienstherr hatte das Verhalten als Verstoß gegen die Pflicht zu achtungswürdigem Verhalten gewertet, insbesondere weil die Äußerung in Anwesenheit einer polizeifremden Person erfolgt war.

    Der Tatbestand des Dienstvergehens setzt objektiv die Verletzung einer Pflicht und subjektiv ein Verschulden voraus.

    Ein versuchtes Dienstvergehen gibt es nicht (BVerwG ZBR 2001, 39) und damit auch keinen Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB). Verstößt der Beamte durch einen strafrechtlichen Versuch schuldhaft gegen seine Dienstpflichten, so liegt ein (vollendetes) Dienstvergehen vor.⁹² Vorbereitungs- und Versuchshandlungen einer Pflichtverletzung können nicht disziplinarrechtlich geahndet werden.⁹³

    Beispiel:⁹⁴ Ein Polizeibeamter fordert günstige Einkaufsmöglichkeiten im Supermarkt und sagt dafür wiederholte Überwachungen im Rahmen des Streifendienstes zu. Der Geschäftsführer des Supermarktes lehnt dieses ab. Es handelt sich hier um eine Verletzung der Wohlverhaltenspflicht (§ 34 Satz 3 BeamtStG).

    Für das Vorliegen eines Pflichtverstoßes kommt es nicht auf den Charakter als Vorbereitungs- oder Versuchshandlung an. Die begonnene, aber nicht realisierte Pflichtverletzung ist nicht vorwerfbar. Gegenstand eines Dienstvergehens ist immer eine vollendete Pflichtverletzung, auch wenn vielleicht die sachgleiche Straftat selbst unvollendet blieb. Entscheidend für den Pflichtentatbestand ist der Handlungswille, nicht der Erfolg (BVerwG ZBR 1983, 372). Deshalb kann schon in der strafrechtlichen Vorbereitungs- und Versuchshandlung eine selbstständige disziplinarrechtliche Pflichtverletzung liegen. Dabei kommt es dann wieder entscheidend allein auf den Inhalt der einschlägigen Beamtenpflicht an. Die „Verursachung eines bösen Anscheins" allein kann niemals schon einen selbstständigen Pflichtenverstoß darstellen.⁹⁵ Der Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) hat im Disziplinarrecht nicht dieselbe (strafbefreiende) Wirkung wie im Strafrecht. Nichtsdestotrotz kann der Rücktritt objektiv das Gewicht des Dienstvergehens herabsetzen und subjektiv für Einsicht des Beamten und damit für ein geringeres Pflichtenmahnungsbedürfnis sprechen (BVerwG, Urt. v. 17.05.1988 – 1 D 11/87). Die strafrechtlichen Teilnahmebegriffe wie Beihilfe (§ 27 StGB), Anstiftung (§ 27 StGB) und Mittäterschaft (§ 25 StGB) spielen im Disziplinarrecht keine Rolle (BVerwG NJW 1994, 209). Ein Beamter, der einen anderen Beamten zur Verletzung von Dienstpflichten anstiftet oder ihn dabei unterstützt, wird vielmehr dadurch in aller Regel auch eigene Dienstpflichten verletzen und haftet disziplinarrechtlich für diese eigene Dienstpflichtverletzung.⁹⁶

    Beispiel:⁹⁷ EPHK A stiftet seinen Mitarbeiter KOK B zu einer Trunkenheitsfahrt an. EPHK A begeht keine Anstiftung zu einem Dienstvergehen, sondern ein eigenes Dienstvergehen.⁹⁸

    Eine bloße Gehilfenschaft kann aber Milderung zulassen (BVerwG, RiA 1988, 75).

    2.2.2Rechtswidrigkeit

    Ein objektives pflichtwidriges Verhalten indiziert regelmäßig ein rechtswidriges Verhalten, sofern der Beamte keine Rechtfertigungsgründe geltend machen kann, die im Disziplinarrecht indes Ausnahmecharakter haben. Wer gegen Beamtenpflichten verstößt, kommt seiner Dienstpflicht nicht nach. Er handelt dienstrechtlich vorwerfbar, mithin rechtswidrig. Soweit die berechtigte Interessenwahrnehmung im Strafrecht als Rechtfertigungsgrund angesehen wird (§ 193 StGB), findet dies im Disziplinarrecht keine Entsprechung (BVerwG

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