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Benzin aus Luft: Eine Reise in die Klimazukunft - Reportagen und Essays
Benzin aus Luft: Eine Reise in die Klimazukunft - Reportagen und Essays
Benzin aus Luft: Eine Reise in die Klimazukunft - Reportagen und Essays
eBook329 Seiten3 Stunden

Benzin aus Luft: Eine Reise in die Klimazukunft - Reportagen und Essays

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Über dieses E-Book

Die Klimastreiks haben geschafft, was bislang noch kein politisches Gipfeltreffen erreicht hat: Die Klimakrise ist in den Köpfen angekommen. Zumindest in sehr vielen Köpfen. Ein Umdenken scheint möglicher denn je.
Tatsächlich gibt es unzählige Wege, um nachhaltig, sozial, intelligent in die Zukunft zu schreiten. Wissenschaftler, Unternehmer und Aktivistinnen auf der ganzen Welt haben diesbezüglich schon ziemlich gute Ideen entwickelt. Dieses Buch führt uns dahin, wo diese Zukunft bereits heute sichtbar wird. Eine Reise an Orte, wo aus Luft Treibstoff gemacht wird, zu grünen Dächern über der Großstadt, zu Dörfern, die ihre Energie mehr als nur decken, zu Zementwerken, die aus Altbeton neuen Werkstoff machen. Ein Besuch auch bei Menschen, die sich einer anderen Denkweise verschrieben haben – dem Denken in Zyklen, in Kreisläufen, in komplexen, aber auch nachhaltigen Systemen.
Dazu liefert es ein paar grundsätzliche Überlegungen zur Frage, wie wir in eine bessere, unverbrannte Zukunft gehen können. Morgen schon, wenn wir nur wollen.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum18. Sept. 2019
ISBN9783858698582
Benzin aus Luft: Eine Reise in die Klimazukunft - Reportagen und Essays

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    Buchvorschau

    Benzin aus Luft - Christoph Keller

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    Teil I

    Besichtigung der Katastrophen

    Beim Gletscher

    Alle nur noch arme Seelen

    Gletscher sind das größte Wasserreservoir der Alpen, und sie verschwinden. Bis 2100, so die Prognosen, werden alle Gletscher in den Alpen weggeschmolzen sein, von den größten werden ein paar Eisfelder übrigbleiben. So auch vom Aletschgletscher, dem mächtigsten Gletscher der Alpen. Dass er schwindet, hat nicht nur Auswirkungen auf den Tourismus, auf die Wasserversorgung, auf die Landschaft. Es kommt auch ein Stück alpiner Kultur abhanden. Gletscher sind das Gedächtnis vieler Jahrtausende.

    Tags zuvor hatte ich im Hotel Belalp gefrühstückt, mit Blick auf die Gletscherzunge.

    Sie sah schmal aus, weit entrückt, hinten im Tal, und der Gletscher selber mit seinen schwarzen Streifen ruhig. Noch immer mächtig, und doch ganz anders, als auf den Fotos im rundum verglasten Restaurant zu sehen. Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen der Gletscher bis fast ans Hotel heranreicht, eine hohe, breite Eismasse, die das Tal bis zu den Rändern auffüllt, man sieht Touristen mit breiten Hüten und weiten Kleidern, die in tiefer Kontemplation versunken sind. Aletschbord, so heißt der Felsvorsprung, auf dem das Hotel Belalp gebaut wurde.

    Heute muss man wandern, um den Gletscher zu erreichen, den Aletschgletscher, den größten Gletscher der Alpen.

    Ich machte mich auf die Suche nach ihm, wollte einen Weg finden, um ihn aus der Nähe zu sehen. Der Bergflanke entlang, auf einem gut ausgebauten, steilen Weg, die Treppenstufen hinab zur Üssers Aletschi, wo der Gletscher aber schon nicht mehr zu sehen war. Auch nach dem Aufstieg, durch Felsen und Geröllhalden hinauf über Oberaletsch und dann weiter zum schmalen Einschnitt mit dem tosenden Bach suchte ich den großen, den noch immer mächtigen Aletschgletscher vergebens. Fand mich aber dann zuunterst in diesem schroffen Seitental auf einer Brücke wieder, die den Blick freigab auf den Oberaletschgletscher, oder genauer: auf das, was von ihm übrig ist.

    Das Eis zugedeckt mit einer dicken Geröllschicht, die Eisdecke dünn und brüchig, und wie aus einem Springbrunnen floss das helle, klare Wasser aus ihm heraus. Schäumendes Gletscherwasser, das tosend ins Tal strömt; man kann hier, auf dieser Brücke, zusehen, wie der Gletscher davonschmilzt. Nicht der Abfluss, den jeder Gletscher hat, sondern viel zu viel Wasser, als würden die Eismassen ausgepresst.

    Ich stand lange auf Brücke, schaute den schäumenden Fluten zu und sah ein kahles, trockenes Tal, staubig und dürr. So würde es in einem oder zwei Jahrzehnten hier aussehen.

    Den großen Aletschgletscher bekam ich dann nicht mehr zu sehen an diesem Tag, obwohl ich noch weiter wanderte, fast bis hinauf zur Tällihütte.

    Am nächsten Tag versuche ich es von der anderen Seite, mit der Seilbahn von Mörel hinauf zur Riederalp. Wer an der Seilbahnstation aussteigt, hoch über dem Tal, findet sich in einem stillen Dorf wieder. Hier, auf der anderen Seite des Aletschwalds mit Blick zum Tal, sind im Herbst die Chalets geschlossen, die Gartenzwerge schlafen, die Fahnenstangen stehen flaggenlos, im einzigen Laden sind keine Kunden anzutreffen. Einzig oben auf dem Weg gibt es Wanderer. Die einen steigen hinauf zum Eggishorn, um von da aus zum Gletscher zu gelangen. Die anderen marschieren hoch zur Riederfurka, dann durch den Aletschwald über die neue, spektakuläre Hängebrücke hinüber zur Belalp.

    Den alten Weg über den Gletscher gibt es nicht mehr.

    Ich aber habe zunächst ein anderes Ziel. Die Villa Cassel steht an der Bergkante auf 2000 Meter über Meer und ist schon von weitem zu sehen. Sie beherbergt heute das Pro Natura Zentrum Aletsch, ein einzigartiges Dokumentationszentrum für das Jungfrau- und Aletschgebiet, ein Weltnaturerbe der UNESCO. Dort will ich herausfinden, was es bedeutet, wenn derjenige, der diese Landschaft ausmacht, sie prägt, sie über Jahrtausende bestimmt hat, langsam verschwindet. Ein Gletscher, der sich von der Jungfrauregion bis zum Aletschwald erstreckt, 22 Kilometer lang ist er noch, aber jeden Tag wird er kürzer, schmilzt dahin mit dramatischer Geschwindigkeit. Dieser mächtigste Gletscher der Alpen, gespiesen vom absterbenden Oberaletschgletscher und anderen kleineren Gletschern, wird bis zum Ende dieses Jahrhunderts noch ein kümmerliches, geröllübersätes Eisfeld sein. Und das würde sich auch nicht ändern, selbst wenn die Menschheit morgen und von einem Tag auf den anderen keine Treibhausgase mehr ausstoßen würde. Zu diesem Befund kam der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich und der Universität Freiburg aufgrund neuester Studien; seine Prognose wurde im Sommer 2017 publiziert, sorgte ein paar Tage lang für Aufsehen, dann gab es wichtigere Ereignisse, über die zu berichten war.

    Aber die Villa Cassel, mit ihrer Riegelfassade, den Türmchen und Spitzen, der ausladenden Terrasse, thront über der Riederfurka, als könnte ihr die Zeit nichts anhaben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt sich der Bankier Sir Ernest Cassel auf der Riederfurka auf und war vom Anblick des mächtigen Aletschgletschers so ergriffen, dass er beschloss, sich hier einen Zweitwohnsitz zu bauen. Ein Feriendomizil so nahe am Gletscher, dass bei Windstille sein Knarren, sein tiefes Rauschen, sein Brummen zu hören sein würde. Bald gingen in der Villa Cassel die Notabeln aus aller Welt ein und aus, Winston Churchill und andere, Lady Mountbatten residierte in der Villa, und jeden Morgen brachte ein Laufbursche frische Brötchen von Mörel über 1300 Meter den Berg hinauf, damit den Herrschaften beim Frühstück auf der Terrasse nichts fehlte, die Sonne im Gesicht und den Gletscher in Sichtweite.

    Heute hat jemand anderer hier das Sagen. Elisabeth Karrer, stellvertretende Leiterin des Pro Natura Zentrums, ist Umweltnaturwissenschaftlerin. Sie begrüßt im einladenden Foyer, vor den Auslagen mit Prospekten für Exkursionen zum und rund um den Gletscher, sie lacht viel, während sie spricht, die kurzen, dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht. Wir setzen uns nach draußen an den massiven Tisch, es gibt Tee und Kuchen, und ich halte nach dem Gletscher Ausschau. Aber er ist nicht mehr zu sehen, zwischen den Tannen und Arven geht mein Blick über geschrundete Bergflanken, über Geröllfelder, über nackten Fels.

    »Wo ist er?«, frage ich Elisabeth Karrer.

    »Eine halbe Stunde talaufwärts, etwas mehr vielleicht, muss man schon gehen, um ihn zu sehen.«

    »So viel?«

    »Jedes Jahr ein paar Minuten mehr.«

    Ich frage Elisabeth Karrer, was ihr diese Präsenz des Gletschers bedeute, was es für sie heißt, den Sommer über in seiner Nähe zu leben. Sie zögert kurz, sagt dann, dass der Gletscher ihr nah sei, man könne auch sagen »ein Familienmitglied«. Oder genauer »ein Freund, ein Vertrauter«, und jedes Mal, wenn sie zu Beginn der Saison hierher hinaufkomme, schaue sie nach, ob er noch da sei, »und ja, er ist noch da«.

    »Wenn auch immer etwas weiter weg.«

    »Das stimmt, und doch gibt mir seine Anwesenheit ein gutes Gefühl. Gletscher sind jahrtausendealt, das ist eine große Unendlichkeit. Während wir nur ganz kurz da sind, ich gerade mal achtunddreißig Jahre, und deshalb, vielleicht, bin ich ihm zugewachsen: weil er schon so lange da ist.«

    »Jetzt verschwindet er langsam.«

    »Ja, die Unendlichkeit der Gletscher wird allmählich zu einer Endlichkeit, das stimmt mich traurig.«

    Der Gletscher schmilzt als Schmelzwasser davon, weil die mittleren Temperaturen im Alpenraum bereits zwei Grad über dem vorindustriellen Zeitalter liegen. Zwei Grad, weil die mittlere Konzentration an CO2 in der Atmosphäre von 280 Teilchen pro Million Partikel auf aktuell fast 420 gestiegen ist, weil diese Zunahme um 140 parts per million den Treibhauseffekt verursacht; das sind total 36 Milliarden Tonnen pro Jahr, die durch das Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas zu viel in die Atmosphäre gelangen, den natürlichen Kreislauf von CO2 belasten, die Erde in nie dagewesener Geschwindigkeit erwärmen.

    Der Aletschgletscher und die großen und kleinen Gletscher in den Alpen und weltweit gehören zu den ersten Opfern dieser Erwärmung.

    Dass der Aletschletscher sich zurückzieht, schrumpft, bringt für Elisabeth Karrer und das Pro Natura Zentrum Aletsch neue Herausforderungen. Sie und ihr Team müssen den Besucherinnen und Besuchern erklären, was da draußen vor dem Haus gerade passiert. Dass nichts mehr so ist, wie früher, weil die Hänge rutschen und abbrechen, man muss aufpassen, wenn man auf Wanderungen geht. Dass manches Gebäude heute auf unsicherem Grund steht, weil der Permafrost auftaut, der früher sicheren Halt gab. Dass der Gletscher schwindet und darum eines Tages die Suonen, die jahrhundertealten, kunstvollen Wasserkanäle versiegen werden. Gefährdet sind auch der Tourismus, die Existenz von Hoteliers, von Ferienwohnungsvermietern und Seilbahnen.

    Früher konnte man von der Villa Cassel mehr oder weniger direkt zum Gletscher spazieren. Aber seit den Hangrutschungen, die sich an der Ostflanke des Gletschers ereignen, unterhalb der Moosfluh, ist das nicht mehr möglich. Auch hier taut der Permafrost auf, und wenn der Gletscher sich zurückbildet, werden auch die Flanken immer instabiler. »Jetzt«, sagt Elisabeth Karrer, »müssen wir von der Riederalp hinauf über die Moosfluh und von dort hinunter zum Gletscher.« Was früher ein Spaziergang war, ist heute eine Tagestour.

    Bei den Gletschertouren, die Elisabeth Karrer organisiert, wird jetzt nicht mehr nur erklärt, dass der Gletscher immer im Fluss ist, langsam fließendes Eis. Man erläutert auch nicht mehr nur, woher die beiden schwarzen Streifen auf dem Gletscher stammen. Man muss auch erklären, wie die Klimaerwärmung vor sich geht, man spricht die Gründe an, warum sich die Gletscher zurückziehen. Die Frage, welche Rolle der Mensch dabei spielt, wird wichtiger denn je.

    Elisabeth Karrer ist beeindruckt, wie schnell das alles ging. »Das Rutschgebiet unterhalb der Moosfluh war immer schon in Bewegung, seit vielen Jahrhunderten. Es stand deshalb auch unter Beobachtung, man hat Veränderungen von wenigen Millimetern festgestellt. Aber nun, innert zwei Wochen, waren es plötzlich siebzig Zentimeter, zack. Mittlerweile sind wir bei mehreren Zentimetern pro Tag. Es bricht also ab. Das ist schon beeindruckend, aber gleichzeitig muss ich sagen – das ist die Natur. Sie waltet, verändert, und jetzt reißt sie eben siebenhundertjährige Bäume mit sich.«

    Wer still ist, kann es hören, draußen, vor dem Haus. Dann und wann ein Donnern, ein Grollen, abbrechende Felsen.

    Der Aletschgletscher, immer öfter blankes Eis, nur noch selten liegt auch im Sommer eine Schneeschicht, er wird eines Tages aussehen wie der Oberaletschgletscher: nur noch Geröll, Felsen, darunter irgendwo noch Reste von Eis.

    Wir gehen die Nordflanke der Riederalp entlang, in den Wald hinein. Der Aletschwald, früher Holzschlaggebiet für die Bauern in der Umgebung, ist dank Pro Natura unter Schutz gestellt und darf nur auf den markierten Wanderwegen betreten werden. Wir gehen dem Gletscher entgegen. Unterwegs bleibt Elisabeth Karrer immer wieder stehen. Sie macht auf Veränderungen aufmerksam, zeigt hinüber zu den Hanggletschern, die sich dramatisch zurückgezogen haben. Hanggletscher sind von der Erwärmung des Klimas als Erste betroffen, denn je kleiner die Gletscher, desto schneller schmelzen sie. Elisabeth Karrer zeigt auf die Seitenmoränen, die Schürfungen, die Furchen von früher, als die Hanggletscher noch groß waren und mächtig, der Driestgletscher und die anderen. Überall sind die Schürfungen in der Landschaft sichtbar, dort, wo einst die Zungen der kleineren Gletscher endeten.

    Dann sind wir da, am Felsvorsprung, von dem aus man den Aletschgletscher endlich sieht. Zwischen den Bäumen hindurch, aber doch in seiner ganzen Breite, seiner Macht. Er strahlt eine Ruhe aus, eine Erhabenheit, als erzählte hier ein jahrmillionenaltes Wesen seine Geschichte, still, flüsternd.

    Wir stehen für ein paar Minuten da, still.

    Der Legende nach wurden die Toten, die zu Lebzeiten gesündigt haben, dazu verdammt, auf dem Gletscher auszuharren und langsam, qualvoll ins Eis einzusinken, über Jahrzehnte, über Jahrhunderte hinweg. Ein langer, schmerzhafter zweiter Tod für die armen Seelen, und man höre ihr Geheul und Gejammer, erzählt Elisabeth Karrer, nicht nur dann, wenn der Gletscherwind pfeift.

    »Aber was ist, wenn es den Gletscher einmal nicht mehr gibt, wo sollen all die armen Seelen hin?«, frage ich.

    »Das wird dann schwierig«, sagt Elisabeth Karrer und lächelt dabei.

    Mit dieser unbeantworteten Frage kehre ich zurück ins Tal, mit der Seilbahn hinunter nach Mörel, dann mit der Bahn nach Brig. Auch hier im Tal, wo die Herbstsonne warm an den Fassaden abstrahlt, dickrädrige, hoch gebaute Autos ihr Kohlendioxid in die Luft pusten, wo Betonmauern um die Wette wachsen, auch hier scheint er anwesend, der Gletscher. Besonders in Naters, das halb ein Dorf ist, halb ein Vorort von Brig. Hier befindet sich, in einem kristallförmigen, modernen Bau, das World Nature Forum, das Dokumentations- und Besucherzentrum des UNESCO-Welterbes Jungfrau-Aletsch, Informationszentrum und Ausstellung zugleich, und natürlich steht hier der Gletscher im Mittelpunkt.

    Mario Gertschen, Informationsbeauftragter des World Nature Forums, hat ein offenes, zugewandtes Lächeln, er trägt Kurzbart, hat dunkle Augen. Er steht vor dem großen Relief im Eingangsbereich, das zeigt, wie weit sich der Gletscher erstreckt, und er gibt gleich zu verstehen, was das World Nature Forum will, nämlich erstens erklären, »was ein Weltnaturerbe ist, wieso gerade dieses Gebiet hier zum Weltnaturerbe ausgerufen wurde«, und zweitens, »warum es sich lohnt, sich für diese Gegend, diese Landschaft einzusetzen«.

    Es lohne sich, sagt Mario Gertschen, weil das Aletschgebiet mehr sei als ein Gletscher, mehr als eine Landschaft. Es sei auch ein Kulturraum, mit den vielen Flurnamen, die beim Aufgang über die Treppe aufgeführt sind, Witi-Chummä, Sulzacher, Oberi Wildi, Schluuchfärrich, Bietschi, Ze Steinu und wie sie alle heißen, die dafür stehen, dass sich hier Kultur und Landschaft, Sprache und Klima, Brauchtum und Vegetation zu einem Ganzen verdichten.

    Ein Modell zeigt den Aletschgletscher im Querschnitt. Noch immer ist er ganz oben am Konkordiaplatz über 900 Meter dick, ein gewaltiger Eiskoloss, der so leicht nicht davonschmilzt, denkt man sich. Geht man weiter durch die Ausstellung, wird aber vor allem sein Schwinden thematisiert. Schaubilder, interaktive Elemente, dreidimensionale Klimasimulationen, sie alle sollen den Besuchern nahebringen, dass der langsame Tod des Aletschgletschers weitreichende Auswirkungen haben wird. Weil die Gletscher im Wallis wichtige Wasserspender sind, unverzichtbar für die Landwirtschaft, und weil die Gletscher im Alpenraum auch die Flüsse speisen, sind sie für ganz Europa zentral. Weil das Schmelzen der Gletscher den Meeresspiegel anheben wird, dramatisch, und weil Bergstationen, die auf Permafrost gebaut sind, ins Rutschen kommen werden. Weil das alles kosten wird, alle die Schäden in der Landschaft, an der Infrastruktur.

    Man kann im World Nature Forum in einem alten Wagen der Jungfraubahn virtuell hinauf zum Jungfraujoch fahren, mitten durch eine animierte Landschaft. In einer eindrücklichen Filmdokumentation kann der Wechsel der Jahreszeiten erlebt werden, hautnah. Man kann spielerisch ermitteln, wie groß unser Fußabdruck auf die Umwelt und aufs Klima ist.

    Im besten Fall, sagt Mario Gertschen, komme die Besucherin oder der Besucher zur Einsicht, »dass wir die Naturkräfte überhaupt nicht im Griff haben« und dass so etwas wie Respekt geboten sei. Gut, wenn am Ende der Ausstellung klargeworden sei, dass gerade hier im Wallis der geringe Niederschlag, die steigenden Temperaturen, das fehlende Wasser existenziell seien. Und vielleicht erscheine manchem der Aletschgletscher als ein Opfer des Klimawandels, zugleich aber auch als ein Mahnmal dafür, dass etwas getan werden muss. Beides soll uns daran erinnern, sagt Mario Gertschen, »dass wir die Verantwortung für das gemeinsame Erbe übernehmen müssen«.

    Die Frage, die mir auf den Lippen brennt, ich will sie Mario Gertschen noch stellen.

    »Was ist mit den armen Seelen, die jetzt auf dem Gletscher langsam versinken, was wird mit ihnen, wenn der Gletscher nicht mehr ist?«

    Mario Gertschen überlegt nicht lange und sagt:

    »Wenn die Gletscher einmal nicht mehr sind, dann sind auch wir nur noch arme Seelen«.

    Gletscher schwinden nicht nur in den Alpen, sondern überall auf der Welt, und die GlaziologInnen müssen ihre Prognosen immer wieder nach unten korrigieren; die Schmelze geht schneller, als die letzte Prognose eben gerade errechnet hat. Neueste Zahlen berechnen den jährlichen Verlust an Eis auf 335 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr, das Abschmelzen der Gletscher (außerhalb von Arktis und Antarktis) hat nicht nur schlimme Folgen für die Versorgung mit Trinkwasser, das geschmolzene Eis dieser Gletscher allein lässt den Meeresspiegel um dreißig Zentimeter steigen. Der Verlust der Gletscher ist kaum aufzuhalten, selbst wenn bis 2050 die weltweiten Treibhausgasemissionen auf netto Null sinken, denn insbesondere CO2 verbleibt bis zu tausend Jahre in der Atmosphäre; die Temperatur nehme dann nicht mehr ab, der Meeresspiegel steige weiterhin, sagt der Klimaforscher Reto Knutti von der ETH Zürich.

    Am Meer

    Die geflutete Stadt

    Der Meeresspiegel steigt. Ein paar Millimeter jährlich, seit Beginn der Industrialisierung sind es etwa zwanzig Zentimeter. Das ist an manchen Orten kaum zu spüren, an anderen aber sind die Folgen dramatisch, nicht nur auf den Inseln der Südsee, die sich nur wenige Meter über dem Meeresspiegel erheben, sondern auch an der Küste Westafrikas. Dort frisst sich das Meer in atemberaubender Geschwindigkeit landeinwärts, das Wasser reißt ganze Dörfer mit sich, es bedroht auch die Stadt Saint-Louis. Aber weder die Stadtverwaltung noch der senegalesische Staat haben die Ressourcen, um etwas gegen den Küstenfraß zu tun.

    »Das macht uns Angst, große Angst. Ich spreche hier vor allem vom Meer, und dass es immer näherkommt, und dass Saint-Louis eines Tages von der Karte Senegals verschwindet.«

    Der Museumspädagoge und Künstler Ali Ouattara Kébé sitzt beim Centre Culturel Français an einem einfachen Holztisch, er betreut hier eine Ausstellung zur Klimaerwärmung. Ein paar einfache Schautafeln, ein paar Diagramme, sie sollen hier, in einem nüchternen, etwas kahlen Raum am Rande der Stadt Saint-Louis, Schülerinnen und Schüler auf die Gefahren der Klimaerwärmung aufmerksam machen. Draußen vor den abgedunkelten Fenstern fließt ruhig und träge der Fluss Senegal vorbei, auf den Straßen sind hier, im nördlichen Teil der Stadt, auf einer Insel mitten im Fluss gebaut, nur Wenige unterwegs. Das Meer, um das es auch in der Ausstellung geht, ist nicht zu sehen, es liegt hinter der schmalen Landzunge, die den Fluss vom Meer trennt, hinter den eng aneinandergebauten Häusern.

    Ali Ouattara Kébé spricht aus, was in Saint-Louis viele denken. Dass die Stadt, die nur von einem schmalen Streifen Land, der Langue de Barbarie, vom tosenden Atlantik getrennt ist, bald einmal vom Meer geflutet werden könnte. Saint-Louis, die ehemalige Hauptstadt der französischen Kolonie Westafrika, einst stolze Kolonialstadt mit einem Wasserflughafen für die Postflugzeuge, die von Paris her weiterflogen übers Meer nach Brasilien, heute ein Magnet für Touristen, die durch die Straßen flanieren und sich an den Häusern im Kolonialstil erfreuen, die nach und nach renoviert werden. Saint-Louis, die Stadt mit einem berühmten Lycée, der Kaderschmiede für die Kolonialbeamten, die von den Franzosen unter den einheimischen westafrikanischen Männern rekrutiert wurden.

    Auf der Brücke zwischen der kolonialen Stadt und dem Stadtteil Guet N’Dar:

    Linker Hand liegen die Häuser der Altstadt mit ihren filigranen Balkonen, im Erdgeschoss Ladenflächen, Magazine, da und dort auch Paläste. Zwischendrin Ruinen, zerfallende Mauern, der alte Hafen; dort, wo früher die Lastschiffe anlegten, vom Oberlauf des Senegal herkommend, gibt es heute Bars, Restaurants, Tanzflächen, Galerien. Einzig der luxuriöse Flussdampfer Bou el Mogdad, mit dem Touristen den Senegal hinauffahren, in bequemen Kabinen, der ganze Stolz des Hotelbesitzers Jean-Jacques Bancal, legt noch ab und zu an den Hafenmauern an.

    Von hier aus starten auch die Touristenreisen ins Landesinnere, ins zweitgrößte Vogelschutzgebiet der Welt an der Grenze zu Mauretanien; dieser Teil der Stadt lebt von den Besuchern, die sich in den Sumpfgebieten am Oberlauf die Pelikankolonien ansehen möchten, die Flamingos, die Krokodile und Warane, die sich träg am Ufer sonnen. Und wer will, kann sich auf dem Platz vor dem Hotel des Aviateurs ein Taxi nehmen, um sich flussabwärts zu einem der vielen luxuriösen Campements fahren lassen, Bungalowsiedlungen in stillen, stilvollen Arrangements, mit Blick aufs Wasser.

    Anders rechter Hand, zum Meer hin: Dort liegt das lebendige, dicht besiedelte Guet N’Dar, es quillt förmlich über, in den Gassen ein Gewirr von Menschen, Eselskarren, Lastwagen, und in den Querstraßen die bunt bemalten Fischerboote, die Pirogen. Unter der Brücke hindurch kehren sie heim, einige nur halb, viele aber prall gefüllt mit dem Fischfang der vergangenen Nacht. Große Sardinen, Goldbrassen, Makrelen, Thunfische, manche Boote haben eine Nacht auf hoher See verbracht, andere eine Woche, viele noch länger. In Guet N’Dar dreht sich alles um die Fischerei.

    Mokhtar Fall, das Gesicht gegerbt, tiefe Furchen unter den Augen, ledrige Hände, zeigt mir, wie die Pirogen gebaut sind. Wir befinden uns unten, am Flussufer, zwischen Fischerhütten, den Körben für den Fang, Plastikabfall und streunenden Hunden. Er erläutert, wie die Planken mit Werg und Teer abgedichtet werden, er zeigt die traditionellen Kästen, in denen der Fisch auf hoher See aufbewahrt wird, die Netze, die Leinen mit den Haken für den Thunfischfang. Mokhtar Fall kennt sich aus, er fährt auch mit sechzig Jahren noch immer zur See, er weiß genau, wie viele Pirogen es gibt in Saint-Louis, viertausendsechshundertachtzig. Fast alle liegen sie hier am Ufer des Flusses Senegal, wo auch die Kühllastwagen bereitstehen, um den Fisch ins Hinterland und bis nach Burkina Faso zu transportieren.

    Aber viele Pirogen stehen auch mitten auf

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