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Afrika fluten: Roman
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eBook230 Seiten2 Stunden

Afrika fluten: Roman

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Über dieses E-Book

Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung – und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa.
Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern.
Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum23. Okt. 2023
ISBN9783039730070
Afrika fluten: Roman

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    Buchvorschau

    Afrika fluten - Christoph Keller

    1

    Aber dann machte ich mich auf, Siegwart zu finden.

    Die anderen riefen, »Lovis, aber doch nicht zu Fuß, bei dieser Hitze«, und »Lovis, nimm wenigstens eine Flasche Wasser mit«, aber ich winkte nur zurück, stakste über den sonnengrellen Platz, im Rucksack diesen Packen Papier, Handschriften, über tausend Seiten. Und Briefe, nochmals Hunderte, Pläne und Skizzen.

    Jemand rief noch, »Es fährt sicher ein Bus dorthin«, ich ging einfach weiter.

    Und ließ zurück:

    Die Stadt, zum Meer gewandt wie kaum eine, mit dem weiten Hafen, vom Fort bewacht, dahinter das Museum, den mediterranen Zivilisationen gewidmet. Die mich eingeladen hatte, in ihr aufzugehen, mich eins zu machen mit Sandstein oder Klinker, aufzugehen in einem Portal. So, wie mich andere Städte aufsaugen, wie ich mich in jeder Stadt auflöse, nahm mich auch die Stadt am Meer auf in barock geschnitztes Holz, in ihre Bruchsteinmauern oder ihr spiegelndes Glas.

    Die anderen kannten das.

    Für sie war ich Backstein-Lovis, Granitplatten-Lovis, Beton-Lovis, sie stöberten mich auf, wenn ich verloren ging zwischen den Fugen einer Stadt, wenn ich sekundenschnell verschwand aus der Gruppe, als hätte mich die Fassade verschluckt. Sie fanden mich in einem Hinterhof, in einem Patio, in der Passage des Gebäudes, niederkauernd und eine Kante im Gemäuer nachzeichnend, mein feiner Stift flog über das Notizbuch, ein schwarzes. Und ich erzählte ihnen von den Bruchlinien, die ich entdeckt hatte, den Zusammenfügungen der Zeit, den feinen Grenzen zwischen dem, was wir Epochen nennen. In der Stadt am Meer etwa, an der östlichen Seite des Vieux Port, wo sich ein touristisch aufgemöbeltes Restaurant ans andere reiht, ein billiges Hotel sich die Fassade mit Luxusboutiquen teilt und eine Tiefgarage Autos im Sekundentakt ausspuckt, wurden bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein Galeeren, auch mittelgroße Schaluppen für den küstennahen Transport hergestellt. Nichts erinnert im Stadtbild mehr an den Arsenal des Galères und damit an Zehntausende Zwangsarbeiter, die hier sägten, kalfaterten, drechselten, hämmerten, sich zu Tode schufteten, nichts verweist darauf, dass hier vor vielen Jahren Kriegsgefangene, Sklaven als Ruderer auf die Galeeren gepeitscht wurden. Ihre Spuren verschwanden, als Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Stadtverwaltung entschied, den Arsenal aufzuschütten, und nun gibt es nur noch unsichtbare Schichtungen im Untergrund, wie versiegelte Zeichen der Zeit.

    Ich notierte:

    Schichtungen finden.

    Dem Salzwasser folgen.

    Auch dem Brackwasser.

    Die anderen erzählten das als eine Anekdote in unserer Wohngemeinschaft, wie ich einmal in Neapel, kurz nach dem Eintritt in die Città Sotterranea, im Schatten der Gänge und Galerien einen Zwischengang erwischte. Ihm folgte, den Rest dieses Nachmittags und zwei Stunden in den Abend hinein, über Umwege und verbotene Passagen, vorbei an Kavernen aus griechischen Zeiten, vorbei an stillgelegten Zisternen, vorbei an Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich kletterte über rostige Leitern und gelangte, im letzten Licht des Tages, zu einem Felsvorsprung hoch über dem Meer. Ein Notausgang, ganz offensichtlich, vor Jahrhunderten angelegt, nur jetzt ohne Treppe oder Leiter, also musste ich die anderen anrufen, und die riefen dann die Feuerwehr.

    An diese kleine Geschichte dachte ich auf dem Weg Richtung Hafenbecken, fragte mich, ob ich nicht wieder eine zu komplizierte Abzweigung genommen hatte.

    Vor mir lag, gleißend hell, dieses Kreuzfahrtschiff am Pier, neun Stockwerke hoch, eine dünne Rauchfahne zeigte die Stärke des Mistrals an. Nur eine Sekunde schaute ich hinauf zum Kamin, mein Blick blieb hängen an einem Matrosen, der an der Reling stand und rauchte.

    Dann nahm ich den Weg zwischen einem Container und der Abschrankung zum Fährhafen.

    2

    Ich näherte mich, es war eine langsame Annäherung.

    Stand, nur wenige Stunden später, in Vichy, vor dem Centre Thermal des Dômes, eine Fassade mit blauen Mosaikmustern, eine gerundete Kuppel, die Fassade mit Bögen dekoriert, maurisch angehaucht. Ich habe die Fassade mit meinen Fingern ertastet, die gefügten Steinblöcke, die Mosaike in den Eingangshallen. Die niedrigen Hecken im Vorgarten zu Skulpturen geschnitten, akkurat angelegte Wege, überall hoher Gestaltungwille, und über dem Gelände ein leichter Geruch von Salz und Wasser. Die Quellen heißen Lucas, Du Parc und Célestins, sie heißen Chomel, Grande Grille und Hôpital, enthalten viel Kohlensäure und helfen bei Stoffwechselstörungen, bei Magen- und Darmproblemen, bei Leberleiden und Gallenproblemen, sie lindern Krankheiten der Harnwege.

    Ich las im ausgelegten Prospekt:

    Ein Hotel mit dreihundertzweiundachtzig Zimmern, verteilt auf dreizehn Standorte, das heilende Wasser fließt in Röhren von siebenundzwanzigtausendzweihundertundsechs Metern Länge, es gibt unzählige Wasserkreisläufe, sehr viele Pumpen halten diesen Wasserorganismus am Laufen, alles bei Wassertemperaturen zwischen zweiundzwanzig und zweiundvierzig Grad, der Schwefelgehalt bei dreiundvierzig Prozent, die Grenze zum Letalen liegt bei achtundvierzig, es wird auch in Anhydriten und in mineralisierten Salzlösungen gebadet.

    Ich schrieb auf:

    Durchflussstörungen.

    Arteriosklerotische Plaques.

    Diastolisches Aortenanzapfsyndrom.

    Hier anfangen, in Vichy, wo alles wieder in Fluss kommen soll im Körper, wo die Staustufen gelöst werden, die Blockaden, die Austrocknungen in Gelenken und Gefäßen, in dieser Stadt, die nach Kollaboration riecht, nach Anpassung, auch nach Verrat.

    Nicht zu Fuß bin ich hergereist, aber dann in der Stadt weite Kreise gegangen, bevor ich mich vor dem Centre Thermal wiederfand. Spazierte ziellos umher, als hoffte ich, eine Spur von ihm zu finden, ein Zeichen, hinterlassen an einer Straßenecke, im Café des Copains an der Rue Couturier vielleicht, irgendeinen Hinweis. Ein sinnloses Unterfangen, dennoch umrundete ich den Platz vor dem Rathaus, saß lange in einer Kirche namens St. Blaise, verweilte auf einer Bank im Stadtpark, ging die Allier entlang und schaute den Segelbooten zu, die im Abendwind auf dem schmalen Wasser kreuzten.

    Als könnte ich ihn einkreisen, Siegwart, Bruno, für meine Befragung.

    An diesen Orten, stellte ich mir vor, machte auch er seine Abendspaziergänge, hier hielt er sich auf, wenn er nach Vichy kam, um sein Leiden auszukurieren, ich hätte gerne gewusst, welches. Oder waren es mehrere? Vielleicht Stauvenen, Nierensteine, Gallensteine, alles zusammen, und wo genau trank er seinen Kaffee, oder war ihm das Kaffeetrinken verboten, weil seine Galle das nicht vertrug. Hat er vielleicht das Centre Thermal gar nie verlassen, hat sich ganz auf seine Kur konzentriert, morgens die Trinkhalle, am Nachmittag die Trinkhalle und zwischendurch die Ruhezeiten einhalten, sich hinlegen im großen Garten, in den Schatten, und warten, bis das Natriumhydrogencarbonat in seinem Gedärm wirkt, diffundiert in die Tiefen seiner Körpersäfte und ihn erlöst von einer stechenden Pein. Oder hielt er sich stundenweise in der Bibliothek auf, an einem der langen Tische, ein alter Mann unter vielen, nicht außergewöhnlich in seinem leicht zerknitterten Anzug, das Haar schütter und weißgrau.

    Da sitzt er, der alte Herr, schreibt. Schreibt das nieder, was mich zu dieser Reise getrieben hat, fast auf den Tag hundert Jahre später.

    Bin einem Mann auf der Spur, der nur wenig mehr hinterlassen hat als diesen dicken Stapel Papier in meinem Rucksack, tausendeinhundertsiebenundzwanzig Seiten Manuskript, in einer raschen, eckigen Schrift geschrieben, dazu einen immensen Briefwechsel. Ein Packen Papier, genau genommen enthält er Durchschläge, sowohl des Manuskripts wie auch der Briefe, denn die Originale sind irgendwo verschollen, vielleicht auf einem Dachboden, an seinem letzten Wohnort, in der Stadt Luzern, Innerschweiz. Irgendwann weggeworfen nach seinem Tod, aus Unachtsamkeit, oder war es bewusst, weil die Vergangenheit bei bestimmten Menschen eine Last ist, oder es stellt sich bei den Nachkommen eine Scham ein, wer will schon, dass sich einer aus der Familie mitschuldig gemacht hat oder mitverantwortlich. Die Durchschläge aber lagen in einem Museum in München, im Deutschen Museum, unter falscher Signatur katalogisiert, nicht ihm selber zugeschrieben, sondern dem anderen, der mit seinen hochfliegenden Plänen die Welt auf den Kopf stellen wollte, oder zumindest einen Teil davon. Der, wie mein Protagonist auch, davon träumte, ein Meer auszutrocknen, und sich später anstecken ließ von der Idee, einen halben Kontinent unter Wasser zu setzen.

    Ich notiere:

    Weltenbauen.

    Staustufen.

    Eroberung.

    Wie diese Geschichte erzählen und mich zugleich dieser Sprache verweigern, der Sprache in diesen Texten, die ich mit mir herumtrage? Wie nach Gegenwörtern suchen, nach Gegenzeichen, um den gemauerten Sätzen dieses Mannes etwas entgegenzuhalten, um seine fugenlos aneinandergesetzten Wörter aufzubrechen mit eigenen Bildern? Darüber habe ich nachgedacht. Welche Sprache finden, um seine vielhundertseitigen Ingenieursfantasien wie mit dem Brecheisen zu knacken?

    Dort ansetzen, wo er glänzende, mächtige Maschinen beschreibt, Gefällstufen, Saugüberfälle, Staumauern, gigantische Turbinen, ein neues Weltenwerk. Ich aber müsste den Nebel herabstürzender Wassermassen beschreiben als Vernebelung. Statt vom hydraulischen Potenzial riesiger Stauseen erzählte ich von den gefluteten Städten und Dörfern und anstelle von dem, was in diesem gigantischen Projekt als »Neuland« bezeichnet wird, beschriebe ich kargen, nackten Meeresboden, salzbrackiges Wasser. Stellte also den geplanten fulminanten, futuristischen Neubauten gespenstische Inseln entgegen, wie sie aus schwarzen, versalzenen Gewässern emporragen, und ich schilderte Rinnsale, die an die Stelle von Flüssen treten, dort, wo der Ingenieur Restwassermengen berechnet. Überführte seine Wortkaskaden, die von nichts anderem handeln als davon, gestaute und gelenkte Gewässer in sirrende Elektroden zu verwandeln, sie zu transportieren mit dicken Kabeln, in andere Sprachbilder. Oder sollte ich doch seine Beschreibungen von ausgeklügelten Klappen, von druckhaltigen Rohren und sinnigen Schleusensystemen für sich selber sprechen lassen im Vertrauen, dass seine Gedankenmaschinerie sich ganz von alleine entblößt, wie das Gerippe eines abgewrackten Schiffs.

    Weder das eine noch das andere wird gelingen, vermute ich.

    Also werde ich versuchen, meinem Protagonisten mit möglichst genauen, mit bohrenden Fragen auf die Schliche zu kommen. Bin ihm mit dieser Absicht nachgereist, werde ihm nachstellen, ihm auflauern und ihn überraschen, und dann protokollieren, was meine Fragen an seinem vorbetonierten Denkgebäude anrichten, wenn überhaupt.

    Ich notiere:

    Quellendruck.

    Abszess.

    Durchbohren.

    An einem dieser langen Tische sitzt er also, in der Bibliothek des Centre Thermal des Dômes, Bruno Siegwart.

    Wir schreiben den achten Juni neunzehnhundertneunundzwanzig, in die Chroniken geht der Tag ein, weil an diesem Tag Leo Trotzki in Großbritannien um Asyl nachsucht, James Ramsay MacDonald wird britischer Premierminister, der Vesuv ist ausgebrochen und hat Dörfer zerstört, in Paris ist der Young-Plan unterzeichnet worden, über Vichy fällt leichter Regen.

    Der alte Herr, hohe Stirn, kurz geschnittener Spitzbart und ein schmaler, aber geschwungener Mund, entnimmt seiner Mappe Papier, dann Kohlepapier. Legt alles akkurat übereinander, setzt an, schreibt einen Brief, gerichtet an die Schriftleitung der Münchner Neuesten Nachrichten. Er platziert die Adresse schwungvoll oben aufs Blatt, wie einen Titel oder eine Kapitelmarke, und schreibt:

    Es habe ihm kürzlich ein Zufall die Beilage Fortschritte der Technik in die Hände gespielt, darin sei von einem Projekt die Rede gewesen, und zwar »Das Mittelmeerbecken als Kraftquell«, und dieses Projekt habe ihn, den Unterzeichnenden, im höchsten Grad interessiert. Der alte Herr setzt Wort an Wort und bittet die Schriftleitung in München »höfl.«, ihm doch ein Exemplar dieser Projektbeschreibung übersenden zu wollen, dazu eventuell noch, falls die Diskussion des Projekts weitere Artikel gezeitigt haben sollte, auch die entsprechenden Beiträge. Die entstehenden Kosten seien durch Postnachnahme zu erheben.

    Er schreibt seine Adresse dazu:

    Bruno Siegwart

    bis zum 20. Juni

    poste restante, Vichy, Frankreich

    Dauer-Adresse

    Brüggligasse 2, Luzern, Schweiz.

    Faltet seinen Brief, klebt ihn zu, er greift sich die Beilage Fortschritte der Technik, seit drei Monaten trägt er die Schrift mit sich herum, sie ist an den Rändern leicht zerfleddert. Liest zum wiederholten Mal, was ihn da in den Bann geschlagen hat und ihn in den nächsten Jahren beschäftigen wird, mehr oder weniger Tag und Nacht: das Projekt eines Münchner Architekten, eines ihm bisher nicht bekannten Herman Sörgel.

    Herman Sörgel, der nichts weniger will als das Mittelmeerbecken als »Kraftquell« nutzen, er will einen Damm bei Gibraltar bauen und einen zweiten bei den Dardanellen, auf der Höhe des türkischen Gallipoli, möchte das Mittelmeer von den anderen Meeren abschotten, vom Atlantik, vom Schwarzen Meer, dann mindestens hundert, vermutlich zweihundert Jahre warten, bis das Mittelmeer verdunstet, sich so weit abgesenkt hat, dass die Küsten breiter werden und das entsteht, was Sörgel »Neuland für Europa« nennt. Turbinen sollen im Gefälle zwischen Atlantik respektive Schwarzem Meer und dem abgesenkten Mittelmeer Strom erzeugen, Millionen Kilowattstunden, dazu kommt die Begrünung der Sahara mit Wasser, das aus dem Mittelmeer gepumpt wird, die Wüste soll zur neuen Kornkammer Europas werden. Insgesamt sollen Europa und Afrika, so die Pläne dieses Münchner Architekten, zusammenschmelzen, zu einem neuen Kontinent werden, Atlantropa, und auf diesem neuen Kontinent liefern die Europäer Waren Richtung Süden, die Afrikaner Rohstoffe nach Norden, Afrika wird nochmals kolonisiert, und zwar mittels Technik, wird neuer Lebensraum für die weißen Europäer, um, so die Vorstellung dieses Herman Sörgel, die Überbevölkerung Europas zu mindern. Und eine Eisenbahnlinie verbindet Hamburg mit Kapstadt.

    Ich notiere:

    Neuer Lebensraum.

    Afrika wieder kolonisieren.

    Kilowattstunden.

    Und ziehe einen Stuhl hin zu ihm, zu Bruno Siegwart, der gerade einen Dezimalbruch auf ein leeres Blatt Papier kritzelt, den Kopf in eine Hand gestützt, ich räuspere mich:

    »Sie verzeihen?«

    »Ja?«

    »Darf ich Sie kurz unterbrechen, nur kurz?«

    »Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

    »Ich komme aus der Zukunft, aus Ihrer Zukunft.«

    »Ah, interessant. Wie haben Sie das geschafft?«

    »Das ist im Augenblick gleichgültig, nehmen Sie es als Zauberei, als Zeitreise, was immer Sie wollen.«

    »Existiert beides nicht, entschuldigen Sie.«

    »Keine Ursache, nennen wir es einfach Berufsinteresse. Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass Sie dieses Projekt Atlantropa, wie Sie schreiben, jetzt gerade im höchsten Grad interessiert.«

    »Nun ja, es ist natürlich für einen Ingenieur, der ich ja bin, eine technische Herausforderung, das Mittelmeer an zwei Stellen abzuschließen, wie es in diesem Projekt vorgesehen ist, bei den Dardanellen auf der Höhe von Gallipoli und in Gibraltar, und das Wasser verdunsten zu lassen, damit das Meer sich senkt. Dafür sind zwei Staumauern zu bauen, mitten durch das Meer, in Gibraltar sind das an der schmalsten Stelle vierzehn Kilometer, in Gallipoli wesentlich weniger. Wie soll man das bauen, welche Turbinen braucht es, um Milliarden an Kilowattstunden Strom zu erzeugen bei diesen Staumauern, und was machen wir mit den Städten, den Häfen, wenn das Mittelmeer um hundert, vielleicht zweihundert Meter abgesenkt ist, das weckt mein Interesse im höchsten Grad, als Ingenieur.«

    »Das fast Unmögliche wagen, irgendwie?«

    »Wenn Sie es so sagen wollen, ja.«

    »Aber es geht bei diesem Projekt ja nicht nur um technische, sondern auch um politische Fragen.«

    »Atlantropa, meinen Sie, der neue Kontinent, den Sörgel sich da vorstellt.«

    »Ja, die Verbindung zwischen Afrika und Europa.«

    »Sehen Sie, politische Fragen liegen mir weniger, sind auch schwerer zu lösen als technische, weil man dabei hauptsächlich mit Menschen zu tun hat, die kann man nur schwer berechnen und meistern. Die Technik hat es leichter, weil sie sich mit Energie, mit Kräften und Materie befasst, die allesamt berechnet und in ihren Dienst gezwungen werden können.«

    »Gezwungen?«

    »In den Dienst der Technik zwingen, darum geht es, ja. Und verstehen Sie, ich glaube mittlerweile fest daran, dass nichts auf der Erde den projektierten Kraftwerken bei Gibraltar gleichkommen kann, nichts.«

    »Nun ja, die Zukunft hat noch einige Überraschungen parat.«

    »Wirklich?«

    Er hebt seine Hand, Bruno Siegwart, gebietet mir zu schweigen, wendet sich ab, offenbar ist ihm gerade etwas in den Sinn gekommen, ein neuer Gedanke, der jetzt sofort festgehalten werden muss, weil er sonst davonfliegt.

    Wieder zieht er Papier aus seiner Mappe, auch Durchschlagpapier, legt sich alles zurecht, schreibt erneut an die Münchner Neuesten Nachrichten, schreibt jetzt aber konkreter, auch dringlicher, als wolle er sich einmischen, seine Stimme erheben, vielleicht mit dem Hintergedanken, dass sein Schreiben an den Münchner Architekten weitergeleitet werde, an Herman Sörgel. Seine Hand, die eine schwungvolle Schrift auf das Papier legt und schreibt, es habe sich ihm jetzt gerade eine Frage aufgedrängt, nämlich was mit dem Wasser geschehe, das nicht mehr durch die Straße von Gibraltar aus dem Atlantik einfließen könne, weil es abgeriegelt werde vom großen Staudamm,

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