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Die Nachbarn
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eBook397 Seiten5 Stunden

Die Nachbarn

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Über dieses E-Book

Nicolien begrüßt den Zuzug der neuen Nachbarn ins Mehrparteienhaus überschwänglich. Ihr Mann Maarten hingegen beschließt nach nur einer Begegnung, die beiden Männer völlig uninteressant zu finden.

Der Kontakt zu Petrus und Peer ist zunächst bemüht freundlich, nimmt dann zusehends groteske Formen an. Die Auseinandersetzungen zwischen Maarten und Nicolien über die Nachbarn im Speziellen und Außenseiter im Allgemeinen werden immer fundamentaler. In fulminanten Streitszenen schafft J.J. Voskuil das bewegende und vor allem urkomische Porträt einer Ehe im Zeichen einer unlösbaren Frage.

Dieses Puzzlestück aus Voskuils literarischem Universum, wie immer kongenial übersetzt von Gerd Busse, durfte erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht werden. Zu groß war die Sorge, das Porträt der misslingenden Freundschaft könnte die realen Vorbilder verdrießen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Aug. 2023
ISBN9783803143785
Die Nachbarn

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    Buchvorschau

    Die Nachbarn - J.J. Voskuil

    In der Erkundung des Lebens von Maarten und Nicolien lotet J. J. Voskuil jede Ecke und vor allem jede Kante aus. Ihre Auseinandersetzungen über die Nachbarn im Speziellen und Außenseiter im Allgemeinen sind fundamental. Ein wahnwitziges Ehedrama, ein Drahtseilakt ohne Publikum.

    »Jeder hadert schon mal mit den Nachbarn, aber niemand kann darüber ein so treffsicheres, erschütterndes und dennoch humorvolles Buch schreiben wie J. J. Voskuil.«   Gerbrand Bakker

    J.J. Voskuil

    Die Nachbarn

    Roman

    Aus dem Niederländischen

    von Gerd Busse

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    Vorwort

    Im Jahr 2001 hatte mein Mann die Arbeit an Die Nachbarn abgeschlossen und wollte den Roman nun veröffentlichen. Ich las das Manuskript und war nicht so begeistert. Es wurde darin wieder einmal sehr viel gestritten, doch mein größter Einwand war, dass es die Gefühle eines der Hauptprotagonisten verletzen würde. Also sah mein Mann von einer Veröffentlichung ab.

    Als er im Jahr 2008 starb, lebte dieser Hauptprotagonist noch. Vor Kurzem, im Jahr 2011, starb er. Mein stärkster Einwand war damit hinfällig geworden. Ich fühle mich meinem verstorbenen Mann gegenüber deshalb dazu verpflichtet, mich über meinen schwächeren Einwand, die Streitereien zwischen ihm und mir, hinwegzusetzen und das Buch doch noch zu veröffentlichen. Es ist natürlich ein wunderbares Buch.

    Amsterdam, 12. Juli 2011

    Lousje Voskuil-Haspers

    Im Hinterhaus gab es einen Großhandel mit Toilettenschüsseln. Nur ein Mann arbeitete dort. Er kam immer um neun Uhr, wenn ich schon auf der Arbeit war, und ging um fünf, bevor ich wieder nach Hause zurückkehrte. Nicolien hörte ihn beim Spülen. Er ging dann über den kleinen Flur, stieg die neun Stufen zum Hinterhaus hinauf, öffnete die Eingangstür und schloss sie leise. Den Rest des Tages bekam sie nichts von ihm mit, bis er wieder ging. Es fanden sich auch keine Besucher ein.

    »Es ist ein alter Mann, glaube ich«, sagte sie.

    »Hast du ihn denn mal gesehen?«, fragte ich.

    »Nein, das kann ich hören.«

    *

    Es klingelte. Ich öffnete, und dort stand ein alter Mann mit grauem gewelltem Haar in einem schlecht sitzenden, etwas zu großen grauen Anzug.

    »Ich bin der Geschäftsführer von Fecalo, von hier hinten«, sagte er. »Darf ich Sie was fragen?«

    Ich bat ihn herein. Er stellte sich vor, aber ich vergaß seinen Namen gleich wieder. Wir waren gerade dabei, einen Schnaps zu trinken, und ich bot ihm auch einen an. Er lehnte das nicht ab.

    »Die Sache ist die, dass wir umziehen«, sagte er, nachdem er einen Schluck genommen hatte, »und da wollte ich Sie fragen, ob Sie mir vielleicht die Post nachschicken könnten, falls etwas eintreffen sollte.«

    »Sie ziehen um!«, sagte ich überrascht.

    Er nickte. »Ende des Monats.«

    »Das ist schade.«

    »Finde ich auch, aber es ging nicht anders.«

    »Weil wir in Ihnen immer einen guten Nachbarn gehabt haben.« Ich sah, Bestätigung suchend, zu Nicolien hinüber.

    »Ja«, sagte sie.

    »Und ich in Ihnen«, erwiderte er höflich.

    Es entstand eine Pause, in der ich die Nachricht verarbeitete.

    »Wo ziehen Sie hin?«, fragte ich.

    »Nach Krommenie.«

    »Krommenie!«

    »Dort sind wir für unsere Kunden besser erreichbar.«

    »Haben Sie denn viele Besuche von Kunden?«

    Er zögerte. »Ziemlich.« Er zögerte erneut. »Aber wir regeln natürlich auch viel telefonisch.«

    »Wie konntest du das bloß fragen?«, sagte sie, als er weg war. »Das ist doch furchtbar peinlich. Er hat nie Besuche von Kunden.«

    »Es ist mir rausgerutscht, bevor ich überlegt hatte.«

    »Du musst wirklich besser überlegen, bevor du mit solchen Dingen herausplatzt.«

    Sie hatte recht. Ich fühlte mich schuldig.

    *

    Nachdem er ausgezogen war, stand seine Wohnung ein paar Monate leer. Eines Morgens, ich rasierte mich gerade im Badezimmer, setzte im Haus plötzlich Lärm ein: eilige Schritte auf der Treppe, laute Stimmen, Geschleppe von Holz. Durch die Mattglasscheibe in unserer Wohnungstür sahen wir, dass Tageslicht in den Flur fiel durch die geöffnete Tür, hinter der sich Fecalo befunden hatte. In diesem Licht gingen Schemen ein und aus, stiegen die Treppe hinauf und hinunter. Eine Dreiviertelstunde später war es wieder still, doch die Tür stand noch offen.

    »Sind sie weg?«, fragte Nicolien und hielt mir die Wohnungstür auf.

    »Sie werden wohl wieder zurückkommen«, prophezeite ich und sah nach oben.

    Sie rief mich auf der Arbeit an. »Sie sind wieder da.« Im Hintergrund hörte ich gewaltigen Lärm.

    »Was machen sie denn?«

    »Sie hämmern und sägen. Und haben das Radio auf volle Lautstärke gestellt. Hörst du das nicht?«

    »Doch, ich höre es.«

    »Furchtbar! Ich weiß einfach nicht, wo ich noch hin soll.« Ihre Stimme klang verzweifelt.

    »Mach doch die Wohnzimmertür zu.«

    »Und was ist mit den Katzen? Die müssen doch rein und raus? Wie stellst du dir das vor? Ich kann ihnen doch nicht ständig die Tür aufmachen? Dann werde ich verrückt.«

    »Es wird schon nicht so lange dauern.«

    Es dauerte ungefähr drei Wochen. Danach wurde es erneut still, bis wir eines Samstagabends, als wir gerade im Bett lagen, auf der Treppe ein Poltern hörten.

    »Hörst du das?«, fragte sie.

    »Ich höre es.«

    »Was könnte das sein?«

    »Keine Ahnung.«

    »Willst du mal nachschauen?«

    Ich stieg aus dem Bett, ging ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Vor dem Haus, im Licht der Laterne, stand ein kleiner Wagen der Fahrzeugvermietung Ouke Baas. Drei oder vier Männer und eine Frau zogen Möbel und Kartons heraus und trugen sie ins Haus. Ich ging zur Wohnungstür. Das Licht im Flur war an. Man hörte sie keuchend die Treppe hinaufkommen, hin und wieder kurz innehalten, gedämpft miteinander reden und herumpoltern. Ich sah ihre Schemen durch die offene Tür ins Hinterhaus gehen.

    »Sie ziehen ein«, berichtete ich, als ich wieder ins Schlafzimmer kam.

    »Samstagnachts?«, fragte sie verwundert.

    »Vielleicht, weil es dann auf der Gracht ruhig ist?«

    »Waren das denn keine Möbelpacker?«

    »Es waren drei oder vier Männer und eine Frau.«

    »Da wird doch wohl kein Ehepaar einziehen?«

    »Ich habe keine Ahnung.«

    »Denn ich habe keine Lust, hier einen Hausfrauenclub zu eröffnen.«

    »Ach.«

    »Um sich dann sicher gegenseitig zum Kaffee oder Tee einzuladen. Ich denke gar nicht dran!«

    »Das hast du doch selbst in der Hand?«

    »Schrecklich würde ich das finden!«

    »Warte doch erst mal ab«, beschwichtigte ich. »Wenn es so weit ist, kannst du ja immer noch schauen, was du machst.«

    Am Montag darauf rief sie mich wieder auf der Arbeit an. »Sie haben auch ein Klavier mitgebracht.«

    »Dieselben Leute?«, fragte ich ungläubig.

    »Nein, diesmal waren es echte Möbelpacker, aber sie haben das Treppengeländer aus der Wand gerissen. Das hängt jetzt völlig lose daneben.«

    »Und die neuen Nachbarn?«

    »Die habe ich nicht gesehen.«

    Die bekamen wir auch nicht zu sehen. Aber ich entdeckte am nächsten Morgen, als ich zur Arbeit ging, neben der Türklingel ein Namensschild: drs. P. Stallinga. Außerdem hatte jemand das Treppengeländer repariert, ohne dass wir etwas davon mitbekommen hatten. Der Name Stallinga kam mir vage bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht einordnen.

    »Er ist auf jeden Fall Friese«, sagte ich.

    »Woher willst du das denn wissen?« Solche wilden Vermutungen irritierten sie.

    »Weil sein Name auf ein A endet.«

    »Das heißt doch nichts. Deswegen muss er doch kein Friese sein?«

    »Und der Anfangsbuchstabe seines Vornamens ist ein P. Also wird er wohl Pier heißen. Pier Stallinga. Und er ist Doctorandus, also Akademiker.«

    *

    Je mehr Zeit verging, desto sicherer waren wir uns, dass drs. P. Stallinga allein war. Das versöhnte Nicolien mit seiner Anwesenheit. Alleinstehende Männer genossen von vornherein ihre Sympathie.

    »Er wird doch wohl mal vorbeikommen, um sich vorzustellen?«, merkte sie an, als wir nach drei Wochen noch immer nichts von ihm gehört hatten.

    Aber er kam nicht, um sich vorzustellen. Im Gegenteil, wenn er zufällig zeitgleich die Wohnung verlassen wollte und einen von uns im Flur hörte, zog er sich eilends zurück und wartete, bis er unsere Tür zuschlagen hörte. Das war nicht immer einfach, weil er morgens ungefähr zur gleichen Zeit wie ich das Haus verließ und abends auch um dieselbe Uhrzeit heimkam. Außerdem nahm er für den Weg zur Arbeit das Fahrrad, und wenn er es morgens aus dem Souterrain holte, bevor ich die Wohnung verlassen hatte, konnte es geschehen, dass er es gerade auf die Straße stellte, wenn ich die Haustür aufmachte oder mich schon auf der Straße umdrehte, um Nicolien zuzuwinken. In diesen Fällen zog er sich hastig mitsamt seinem Fahrrad zurück, aber nicht schnell genug, um bei mir nicht den Eindruck eines alternden Wichtelmännchens mit dünnem Bärtchen – nicht mehr als ein paar lose Haare – und auffallend schiefem Blick zu hinterlassen. Nachdem das ein paarmal passiert war, wartete er fortan hinter seiner Wohnungstür, bis er mich weggehen hörte. Dieses Verhalten, das mich köstlich amüsierte, verstärkte Nicoliens Sympathie und versöhnte sie mit der neuen Situation.

    *

    In den Jahren, die Stallinga allein im Hinterhaus wohnte, sah ich ihn nur ein einziges Mal aus der Nähe. Ich kam von der Arbeit und kaufte, so wie jeden Tag, im Athenaeum Nieuwscentrum die Zeitung. Da sah ich Stallinga draußen stehen und sein Fahrrad abschließen, ein kleines, grünes Sportrad. Er sah mich nicht, ging mit steifen, krummen Schritten hinein, hantierte ungeschickt mit seinem Portemonnaie, drehte sich mit der Zeitung in der Hand um und stand plötzlich direkt vor mir. Ich grüßte ihn lächelnd, mit einem leichten Nicken. Er reagierte nicht. Als ich hinter ihm aus der Halle ging, sah ich, wie er, das Fahrrad mit beiden Händen festhaltend, den Nieuwezijds Voorburgwal überquerte, umständlich aufstieg und langsam davonfuhr, tief über den Lenker gebeugt, die Ellbogen weit von sich abgespreizt. Er fuhr so langsam, dass ich eine Weile auf dem Bürgersteig auf der anderen Seite mit ihm Schritt halten konnte. Erst als wir uns dem Königlichen Palast näherten und ich vor der Ampel an der Raadhuisstraat warten musste, gewann er einen Vorsprung und verschwand im Verkehr. Aus der Tatsache, dass ich ihm nie wieder im Nieuwscentrum begegnete, schloss ich, dass er mich wohl gesehen hatte und, um ein zweites Aufeinandertreffen zu vermeiden, fortan irgendwo anders seine Zeitung kaufte.

    *

    Ich stand in der Küche und bereitete mein Müsli für den nächsten Morgen zu, als ich hörte, wie sich bei Stallinga die Tür öffnete. Das Licht auf dem Treppenabsatz ging an.

    »Na denn, tschüss!«, sagte jemand.

    »Tschüss«, sagte eine andere, jüngere Männerstimme. Worauf ein paar schmatzende Küsse folgten. Schritte auf der Treppe nach unten.

    »Tschüss«, sagte die erste Stimme noch einmal, von oben.

    »Tschüss«, antwortete die zweite, dicht vor unserer Wohnungstür. Kurz darauf schlug die Eingangstür des Hauses zu, danach wurde Stallingas Tür leise geschlossen.

    »Stallinga hatte Besuch«, berichtete ich, als ich ins Wohnzimmer kam.

    »O ja?«, fragte sie verwundert. »Den hat er doch sonst nie.«

    »Nein.« Dass sie sich zum Abschied geküsst hatten, behielt ich für mich.

    Als ich nach Hause kam, saßen Freek und sein Freund im Schatten des Hauses vor den offenen Türen des Souterrains, einen kleinen Tisch mit Nüssen und Käse zwischen sich, und tranken ein Glas Wein. Ich blieb stehen. Sie boten mir auch ein Glas an, das ich jedoch ausschlug, weil Nicolien oben wartete, um einen Schnaps zu trinken. Während ich dastand, traf ein junger Mann mit einer Matratze auf dem Rücken ein. Er nickte verlegen, stieg die Treppe zur Eingangstür hinauf und klingelte. »Das geht gut«, sagte Freek, der ihn mit Interesse beobachtet hatte. Der junge Mann lachte ein wenig, durch die Matratze über seinem Kopf in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ich schätzte ihn auf zwischen dreißig und vierzig. Er hatte ein ausdrucksarmes Gesicht mit ungesunder, blasser Haut. »Petrus!«, rief er in den Gegensprecher. Die Tür sprang auf, und er ging ins Haus.

    »Wer ist das?«, fragte ich.

    »Ich glaube, der neue Freund von Stallinga«, antwortete Freek.

    »Ich wusste gar nicht, dass er einen Freund hat«, sagte ich erstaunt.

    »Nein, eine gesunde Situation ist es da nicht.«

    Sein Freund musste darüber genüsslich lachen.

    »Stallinga hat einen Freund«, erzählte ich.

    »Wie kommst du darauf?«, fragte sie.

    »Da ist ein junger Mann nach oben gegangen, der eine Matratze auf dem Rücken trug.«

    »Aber das muss doch noch kein Freund sein?«

    »Freek zufolge ist das sein Freund.«

    »Ja, Freek! Der findet das natürlich lustig, so was zu sagen. Der glaubt, dass jeder homosexuell ist. Das hätte er gern.«

    »Was denn dann?«

    »Das kann genauso gut ein Neffe sein, der eine Stelle in Amsterdam bekommen hat und jetzt bei ihm wohnt, bis er ein Zimmer gefunden hat?«

    »Das ist möglich, scheint mir aber nicht wahrscheinlich.«

    »Immer gleich zu sagen, dass einer homosexuell ist«, sagte sie. »Auf mich wirkt er überhaupt nicht wie ein Homosexueller. Er ist ein alleinstehender Mann, so wie Frans Veen. Über den sagst du doch auch nicht, dass er homosexuell ist?«

    Vielleicht war es also sein Neffe, aber eine Stelle hatte er sicher nicht. Er verließ die Wohnung selten. Und wenn er rausging, meist nachmittags und nur für kurze Zeit, wartete er an der Wohnungstür, genauso wie Stallinga, bis es still war. Das einzige Mal, an dem Nicolien etwas bemerkte, hörte sie ihn fast geräuschlos vorbeilaufen, so als würde er auf Pantoffeln gehen.

    Dass er kein Logiergast war, zeigte sich nach ein paar Monaten unzweideutig. Als ich nach Hause kam, fand ich an der Klingel und dem Postfach Stallingas neue Namensschilder vor: Petrus Stallinga – Peer de Graaf.

    »Siehst du jetzt, dass er überhaupt nicht Pier heißt?«, sagte Nicolien. »Er ist also gar kein Friese.«

    *

    Wir kamen spät nach Hause. Als wir gerade die Wohnung betreten hatten und ich die Betten aufschlug, klingelte es.

    »Wer kann das denn so spät noch sein?«, fragte Nicolien.

    Ich öffnete die Wohnungstür und sah Stallinga und seinen Freund vor mir auf dem Treppenabsatz stehen. Beide trugen eine große, flache Mütze auf dem Kopf, so dass ich sie nicht gleich erkannte. In ihren Jacken, Stallinga mit einem Täschchen, das an einem Lederriemen quer über seiner Brust hing, ähnelten sie zwei etwas zu groß geratenen Wichtelmännchen. Sie grinsten.

    »Die Schlüssel«, sagte Stallinga und zeigte auf die Tür. Mein Schlüsselbund steckte noch im Schloss. »Das ist gefährlich.«

    »Sehr gefährlich«, echote sein Freund.

    »Vielen Dank«, sagte ich verblüfft und zog die Schlüssel aus dem Schloss.

    Stallinga hatte sich bereits abgewandt und stieg die Treppe hoch zu seiner Wohnungstür.

    »Schlafen Sie gut«, sagte der Freund noch.

    »Was war das?«, fragte Nicolien, die in den Flur kam.

    »Die Stallingas. Ich hatte den Schlüssel im Schloss stecken lassen.«

    »Wie nett«, fand sie. »Du hast dich hoffentlich bei ihnen bedankt?«

    *

    Sie rief mich am späten Nachmittag auf meiner Arbeit an. »Du rätst nie, wo ich gewesen bin!« Ihre Stimme klang aufgeregt.

    »Nein«, gab ich zu.

    »Bei Stallinga und seinem Freund. Ich habe da Tee getrunken.«

    »Hey.«

    »Du sagst das so uninteressiert. Überrascht dich das nicht?«

    »Doch, schon. Natürlich.«

    »Warum reagierst du dann nicht anders?«

    »Tja, das weiß ich nicht.« Ich war nicht allein im Raum und versuchte so neutral wie möglich zu antworten.

    »Na, dann leg ich mal wieder auf«, sagte sie verstimmt. »Dann erzähle ich es eben nicht, wenn du kein Interesse daran hast.«

    »Gut, dann bis später.«

    »Bis später«, sagte sie böse.

    Ich legte den Hörer auf, wartete ein paar Minuten und verließ dann den Raum. Aus einem leeren Arbeitszimmer rief ich sie zurück. »Du weißt doch, dass ich nicht reagieren kann, wenn ich nicht allein bin. Das würde dir genauso gehen. Das habe ich doch bestimmt schon hundertmal gesagt.«

    »Deine Arbeit ist sicher wieder wichtiger.«

    »Meine Arbeit ist nicht wichtiger, aber wenn jemand in der Nähe ist, kann ich nun mal nicht über persönliche Dinge reden.«

    Sie schwieg.

    »Was war denn nun?«

    »Jetzt habe ich keine Lust mehr, es zu erzählen.«

    »Erzähl schon. Es interessiert mich.«

    »Ich habe Peer auf dem Flur getroffen«, sagte sie unwillig, »und er fragte, ob ich auf eine Tasse Tee vorbeikommen wolle. Das ist alles.«

    »Und Stallinga?«

    »Der war natürlich auch dabei.«

    »War er denn nicht auf der Arbeit?«

    »Nein, er ist vorigen Monat in Rente gegangen.« Die Worte kamen nur widerwillig heraus.

    »In Rente!«

    »Es sind unheimlich nette Leute!«

    »Das ist schön.« Es klang pflichtschuldig, aber ich wusste nicht, wie ich es anders sagen sollte.

    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Ich habe gefragt, ob sie heute Abend vorbeikommen wollen, um etwas zu trinken«, sagte sie daraufhin, »weil sie dich dann auch kennenlernen können. Ist das für dich in Ordnung?« An ihrer Stimme konnte ich hören, dass sie sich nicht sicher war.

    »Natürlich ist das für mich in Ordnung!« Ich hatte zwar wenig Lust darauf, fand, dass es nicht zu ihr passte, und nach dem, was ich von den beiden gesehen hatte, hatte ich auch kein Bedürfnis, ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Aber es war nicht der Moment, mir das anmerken zu lassen.

    »Petrus Stallinga«, sagte er und streckte die Hand aus, noch bevor er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte. Ohne irgendetwas um ihn herum zu beachten, ging er vor mir her durch den Flur, während Peer neugierig betrachtete, was im Flur und im Wohnzimmer an der Wand hing.

    Nicolien war aufgestanden. »Schön, dass ihr da seid«, sagte sie verlegen und gab ihnen die Hand.

    »Setzt euch«, sagte ich.

    »Dann werde ich mich mal hierhin setzen«, beschloss Stallinga. Er nahm den größten Sessel, in dem Nicolien vorher gesessen hatte, legte seine Schultertasche ab und stellte sie neben sich auf den Boden.

    »Ihr Wohnzimmer ist größer als unseres, nicht wahr, Petrus?«, bemerkte Peer.

    »Natürlich!«, sagte Stallinga. »Sie wohnen nach vorne raus!«

    »Wollt ihr Kaffee?«, fragte Nicolien.

    Während sie in der Küche war, sprachen wir über das Haus. Stallinga hatte dazu, wie er angab, eine Literaturrecherche durchgeführt. Umständlich erzählte er, was er herausgefunden hatte. Sein Ton war so trocken und unbeteiligt, als würde er ein Referat vorlesen. Zusätzlich hatte er ein unangenehmes, etwas mürrisches Gesicht mit merkwürdig schrägen Augen; sein gelber Teint gab ihm etwas Asiatisches. Dieser Eindruck wurde durch ein dünnes Ho-Chi-Minh-Bärtchen noch verstärkt. Unter dem Bart trug er eine Fliege sowie eine Strickjacke mit Taschen über einem gestreiften Hemd. Peer war in ein T-Shirt und eine weite Pluderhose gekleidet. Erneut fiel mir auf, dass er eine fahle, ungesunde Hautfarbe hatte, auch wenn er sicher zwanzig Jahre jünger war als Stallinga. Jetzt, wo ich ihn besser sehen konnte, machte ich auch etwas Unreinliches an ihm aus und einen seltsam unstetigen Blick. Während Stallinga dasaß und redete, sah er sich um, ohne zuzuhören.

    »Bist du eigentlich Friese?«, fragte ich, als Nicolien wieder im Raum war.

    »Natürlich bin ich Friese!«, sagte Stallinga, als würde allein die Vermutung, dass dem nicht so wäre, seine Empörung wecken.

    Das amüsierte mich – ein kleiner Triumph. Weil du nicht Pier heißt, wollte ich noch sagen, aber diesen teuflischen Gedanken behielt ich für mich. »Aus welchem Teil Frieslands?«

    »Nein, ich bin nicht in Friesland geboren.«

    »Wo denn?«

    Er zögerte. »In Den Haag.«

    »Da kommen wir auch her«, sagte ich überrascht.

    »Ich komme aus Rotterdam!«, protestierte Nicolien.

    »Nicolien ist in Rotterdam geboren«, korrigierte ich. »Als sie drei war, sind ihre Eltern nach Den Haag gezogen.«

    »Aber ich bin eine Rotterdamerin!«

    Stallinga reagierte nicht darauf. Er machte nicht den Eindruck, dass es ihn interessierte.

    »Wo in Den Haag hast du gewohnt?«, fragte ich.

    Wieder zögerte er.

    »Wir haben in der Vruchtenbuurt gewohnt«, half ich.

    »Im Bezuidenhout«, sagte er unwillig.

    »Dann hast du die Bombardierung mitgemacht.«

    »Nein«, er schüttelte träge den Kopf, »denn zu dem Zeitpunkt saß ich im Versteck.«

    »In Brabant, nicht wahr Petrus?«, sagte Peer. »Wo ich herkomme.«

    »Ja, aber da warst du noch nicht geboren.« Sein Gesicht hatte sich plötzlich verändert. Der Blick, mit dem er Peer ansah, war freundlich.

    »Nein, ich war noch nicht geboren.« Er lachte genüsslich.

    »Wo warst du untergetaucht?«, fragte ich.

    Er sah mich an. Die Freundlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Meine Fragen weckten seinen Argwohn. »Dazu müsste ich Namen nennen, und das tue ich lieber nicht.«

    »Ich meine: bei Bauern oder in einem Dorf?«

    »Auf dem Land.«

    »Deswegen geht Petrus auch immer noch zur Totengedenkfeier auf dem Dam«, sagte Peer.

    »Nicht deswegen«, korrigierte Stallinga. »Das würde ich sowieso machen.«

    »Nein, wegen des Krieges natürlich«, kam ihm Peer entgegen.

    »Hältst du das nicht für ein Kasperletheater?«, fragte ich.

    Petrus sah mich verständnislos an. »Warum sollte ich das für ein Kasperletheater halten?«

    »Wenn man sieht, wer da alles hingeht.«

    »Mit anderen habe ich nichts zu schaffen.«

    »Ärgerst du dich nicht über die Sensationsmacherei?«

    Verärgert schüttelte er den Kopf. »Ich finde, dass es unsere Pflicht ist, der Opfer zu gedenken.«

    »Das ginge auch anders.«

    »Wenn sie nicht für unsere Freiheit gekämpft hätten, würden wir jetzt nicht hier sitzen.«

    »Ich bin auch früher nicht gegangen«, sagte Peer, »aber jetzt denke ich genauso darüber.«

    Ich sah ihn amüsiert an. »Aber du bist doch nicht befreit worden? Du warst noch nicht mal geboren.«

    Darüber musste er herzhaft lachen. »Nein, ich tue es auch für Petrus.«

    »Du tust es nicht für mich«, verbesserte ihn Stallinga. »Du tust es, weil du erkannt hast, was wir ihnen zu verdanken haben.«

    »Ja, natürlich«, sagte Peer. »Das natürlich auch.«

    »Du musst Petrus nicht so viel fragen«, sagte Nicolien, als sie gegangen waren. »Ich glaube nicht, dass ihm das angenehm ist.«

    »Aber ich muss das Gespräch doch am Laufen halten.«

    »Das geht auch, ohne solche persönlichen Fragen zu stellen?«

    »Ich fand das nicht persönlich.«

    »Du kannst doch auch über etwas anderes reden?«

    »Worüber denn?«

    »Über Gott und die Welt.«

    »Das kann ich nicht.«

    »Bei mir zu Hause wurde immer über alltägliche Dinge geredet. Das fand ich gerade so gemütlich.«

    »Dein Vater hat ansonsten nie etwas gesagt.«

    »Nein, aber er saß immer mit dabei und hat dann gelacht. Ganz anders als dein Vater. Der hat einem ständig das Gefühl gegeben, dass man etwas Falsches gesagt hätte. Der hat nie ein Sterbenswörtchen gesagt.«

    »Meine Mutter hat geredet.«

    »Ja, über Liebe. Das war das Einzige, was deine Mutter interessiert hat. Na, meine Mutter war zum Glück nicht so.«

    »Meine Mutter hat auch mal über etwas anderes geredet.«

    »Nicht, wenn ich dabei war.«

    Ich schwieg.

    »Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass es Petrus nicht angenehm war.«

    *

    Eine Woche später statteten wir einen Gegenbesuch ab. Wir stiegen die Treppe hinauf. Nicolien drückte auf die Klingel. Man hörte den Klingelton. Als die Tür aufging, standen die beiden nebeneinander in einer kleinen, schwach beleuchteten Diele, um uns zu begrüßen.

    »Erst mal die Wohnung ansehen«, sagte Peer, nachdem wir ausgiebig unsere Hände geschüttelt hatten – als hätte er sich schon darauf gefreut. Die Diele hatte vier Türen, er öffnete eine der beiden in der Mitte: ihr Schlafzimmer.

    »Musst du das auch zeigen?«, fragte Petrus verschämt.

    »Natürlich! Das ist doch das Wichtigste?«

    Es war ein kleiner Zwischenraum, der fast zur Gänze von einem riesigen, niedrigen Doppelbett in Beschlag genommen wurde. Neben dem Kopfende war an der Wand eine Leselampe befestigt, darüber befand sich ein kleines Bücherregal. Vor dem Fenster hing ein schwerer, dunkler Vorhang. Es roch muffig, als würde der Raum nicht gelüftet werden.

    »Gesehen!«, sagte ich.

    »Und das ist mein Zimmer.« Peer öffnete die Tür daneben und machte das Licht an: Leuchtstoffröhren.

    Das Erste, was mir auffiel, war ein Klavier. Vor dem Fenster stand eine Werkbank, an der Wand ein Regal mit Werkzeugen. Ein Fahrrad hing an Haken von der Decke herab.

    »Spielst du Klavier?«, fragte ich. Ich erinnerte mich jetzt, dass man bei Petrus’ Einzug ein Klavier hereingetragen hatte.

    »Nein, Petrus. Nicht wahr, Petrus? Es ist ein Erbstück seiner Mutter.«

    »Seit Peer da ist, nicht mehr so viel«, relativierte Petrus.

    Wir standen mitten im Raum und sahen uns um. Hier war ein gewaltiges Gelump zusammengetragen worden: eine Couch, Holzreste, Kartons, ein Schrank, Fischernetze, Bilderrahmen, ein großer Ballen Vorhangstoff und in einer Ecke, dicht zusammengestellt, ein antiker Schrank und einige alte Möbel, die wahrscheinlich vor Peers Einzug das Zimmer verschönert hatten.

    »Schön«, sagte ich.

    »Ja«, sagte Nicolien.

    »Und dann habe ich noch eine Dunkelkammer.« Er öffnete eine dritte Tür, die zur Dusche.

    »Peer macht wunderbare Fotos«, erklärte Petrus.

    »Ich werde euch gleich welche zeigen«, versprach Peer.

    »Und wo duscht ihr dann?«, fragte ich, während ich ins Zimmer schaute. Unter der Dusche stand eine Spüle mit zwei Becken.

    »Wenn man duschen will, kann man genauso gut ins Badehaus gehen«, fand Peer. »Ich habe mich immer unter dem Kran gewaschen. Das reicht.«

    »Ach, wir auch«, pflichtete ihm Nicolien bei. »Als wir noch an der Lijnbaansgracht wohnten, haben wir uns auch in der Küche gewaschen. Das geht gut.«

    »Hattet ihr zu Hause eine Dusche?«, fragte ich Petrus.

    »Wir hatten ein Bad«, antwortete er trocken. »Aber ich brauche das nicht so.«

    Sein eigenes Zimmer bildete das Gegenstück zu dem von Peer. Die einzigen Lichtquellen bestanden aus einer altmodischen Schreibtischlampe auf einem großen Diplomatenschreibtisch in der Ecke vor dem Fenster und einer alten Schirmlampe, die kleine Leuchtpunkte auf einen Schrank an der Seitenwand warf. Mitten im Zimmer stand eine mit grünem Leder bezogene Couch vor einem kleinen Tisch mit Perlmuttintarsien, an der anderen Wand ein Glasschrank mit Porzellan und Kristall. Nicolien und ich setzten uns auf die Couch, Petrus neben den Schreibtisch und Peer auf einen Stuhl mitten im Raum. Die Sofalehne war zu hoch, um meinen Arm daraufzulegen. Ich ließ mich etwas nach unten rutschen, um zu demonstrieren, dass ich mich behaglich fühlte. Direkt vor mir an der Wand neben dem Fenster hing ein Vogelkäfig, aus dem ein paar lange, dünne Stöcke ins Zimmer ragten. Auf einem der Stöckchen vor dem Käfig saß ein kleiner Vogel und schlief.

    »Habt ihr einen Vogel?«, fragte ich.

    »Das ist Pierewiet, unser Mitbewohner«, sagte Petrus. »Den hat Peer mitgebracht.«

    »Es ist ein mosambikanischer Kanarienvogel«, fügte Peer hinzu. »Junge, der singt vielleicht schön. Unglaublich!«

    »Aber ist das nicht langweilig für so einen Vogel, immer drinnen zu sein?«, fragte Nicolien besorgt.

    »Nein, warum? Er hat doch zu fressen und zu trinken? Und er kann frei im Zimmer herumfliegen.«

    »Und selbst wenn er es langweilig finden würde: Solange Peer seinen Spaß daran hat, ist es in Ordnung«, fand Petrus.

    Es entstand eine unbehagliche Pause. Auf dem glatten Leder rutschte ich langsam immer tiefer. Ich zog mich wieder hoch und versuchte, mich an der Rückenlehne abzustützen.

    »Habt ihr auch einen Brief vom Makler bekommen, dass sie die elektrischen Leitungen erneuern wollen?«, fragte Peer. »Petrus denkt darüber nach, ob er seine Zustimmung verweigern soll.«

    »Warum?«, fragte ich.

    »Er hat Angst,

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