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Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin
Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin
Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin
eBook237 Seiten3 Stunden

Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin

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Über dieses E-Book

In "Gespräch über Deutschland" denken die Vielfalt-Deutschen Ulrike Draesner und Michael Eskin gemeinsam darüber nach, was es heute heißt, Deutsche:r zu sein – oder in Deutschland zu leben. Sie eröffnen einen persönlichen Denkraum, regen dazu an, unsere Bilder von uns und ›den anderen‹ zu befragen, und verschieben unsere Wahrnehmung. Analytisch und poetisch, traurig und humorvoll zugleich erzählt dieses Gespräch von Identität und Wandel, von Migration und Sprachvielfalt, von Biodeutschen und Deutschen mit Nazihintergrund. Auf dem Spiel stehen: Achtsamkeit, Verantwortung, Verletzlichkeit und Mitmenschlichkeit.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Jan. 2024
ISBN9781935830795
Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin
Autor

Ulrike Draesner

ULRIKE DRAESNER schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane sowie Essays. In ihren Werken fasst sie in Sprache, was kaum sagbar ist, Sehnsüchte, Abgründe und Traumata. Mit bissigem Humor und poetischem Blick spürt sie Familien nach und erkundet die Natur. Ulrike Draesner hat sieben Romane, zuletzt Die Verwandelten, sieben Gedichtbände, mehrere Erzähl- und Essaybände veröffentlicht. U. a. in Oxford, Bamberg und Frankfurt hielt sie Poetikvorlesungen und ist seit 2018 Professorin für literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2022 hatte sie die Max-Kade Professur am Dartmouth College/USA inne. Draesner erhielt für ihr literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Gertrud-Kolmar-Preis (2019), den Preis der LiteraTour Nord (2020), den GEDOK Literaturpreis (2020), den Deutschen Preis für Nature Writing 2020 sowie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds 2021. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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    Buchvorschau

    Gespräch über Deutschland. Mit zwei Essays von Ulrike Draesner & Michael Eskin - Ulrike Draesner

    tmp_7be749701ba30dd4de1766c794c5eb9e_3hArYC_html_695d7a56.jpg

    Upper West Side Philosophers, Inc. provides a publication venue for original philosophical thinking steeped in lived life, in line with our motto: philosophical living & lived philosophy.

    Published by Upper West Side Philosophers, Inc. / P. O. Box 250645,

    New York, NY 10025, USA

    www.westside-philosophers.com / www.yogaforthemind.us

    »Gespräch über Deutschland« Copyright © 2024 Ulrike Draesner & Michael Eskin

    »Nebelkind« Copyright © 2024 Ulrike Draesner

    »Germany’s Demons« Copyright © 2024 Michael Eskin

    Smashwords Edition

    978-1-935830-79-5 (ebook)

    This ebook is licensed for your personal enjoyment only. It may not be re-sold or given away to other people. If you would like to share this book with another person, please purchase an additional copy for each recipient. If you are reading this book and did not purchase it, or it was not purchased for your use only, then please return to Smashwords.com and purchase your own copy. Thank you for respecting the hard work of this author.

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    The colophon is a registered trademark of Upper West Side Philosophers, Inc.

    Typesetting & Design: UWSP

    Cover Art & Design: Raanan Gabriel

    This book is also available in print.

    Library of Congress Cataloging-in-Publication Data have been applied for and will be available upon request.

    Inhalt

    Gespräch über Deutschland

    Nebelkind

    Germany’s Demons

    Anmerkungen

    Dank

    Die Gesprächspartner

    Available from UWSP

    Gespräch über Deutschland

    »Guilt is a false narrator of the past,

    omitting what it cannot grasp«.

    – Rhael ‘LionHeart’ Cape

    Aufschlag ›deutsch‹

    ME: So mache ich denn, liebe Ulrike, den ersten Schritt in unserem Gespräch über Deutschland – als Idee geboren an der Upper West Side, konzipiert auf Spaziergängen im Riverside Park und Fahrten nach Brighton Beach und Williamsburg … mit Uwe Johnson, Max Frisch, Hannah Arendt und so vielen anderen im Gedächtnis und im Rücken … als ein Gespräch der Fragen vor allem, nicht so sehr der Antworten. Der Fragen, die es erlauben mögen, zu verstehen, was das ›Problem (an) Deutschland‹ bzw. des ›Deutschen‹ sei. Denn dass es ein be- und hinterfragbares ›Problem‹ ist – ganz im griechischen Sinne als etwas uns Gegenüberstehendes, als eine aufgegebene Herausforderung, Provokation oder Hürde –, davon wollen wir ausgehen, insofern wir ein Gespräch über das Phänomen ›Deutschland‹ führen möchten.

    UD: Lieber Michael, danke dir für deinen ersten Aufschlag. Ein Tennisspiel – aber weißt du, dass ich mit der linken Hand spiele? Das ist immer ungewohnt für das Gegenüber. Doch gerade so scheint es mir für uns beide zu stimmen und richtig zu sein für diesen Versuch, gemeinsam, im Hin und Her – über das Netz der Frage ›deutsch‹ – dieses Netz sichtbar zu machen: und uns, wie wir uns davor und umeinander herum durchaus in seinem ›Bann‹ bewegen. Denn ohne das Netz spielten wir nicht, oder spielten zu luftig. Es gibt uns eine Strecke vor, eine Höhe, wir können es streifen, uns darin verfangen – und es nutzen, um den Ball fliegen, sich knapp darüber drehen und absacken zu lassen.

    So stehen wir einander gegenüber, bezogen auf dieses ›Deutschsein‹. Ein Mann, eine Frau, eine Person mit mehreren Staatsbürgerschaften (du) und mehreren Muttersprachen (du), eine mit dem einen deutschen Pass, der halbenglischen Ausbildung, der Eineinhalbsprachigkeit. Eine Frau, ein Mann, fast dieselbe Generation, aber nicht ganz. Beide nicht unerfahren damit, was Flüchtlingsein in und für Familien bedeutet, doch du, der Jude, in einen vollkommen anderen Raum gestellt, einen, dessen Aschetüren mich ›befürchten‹¹. Einen Raum, vor dem ich stehe mit dem ›Deutschgefühl‹. Ich spreche dies hier an, sofort, denn wer wir sind wird uns begleiten. Anders als eben diese Personen – ›owning them‹, sagt man im Englischen, ›to own it‹ (und wie schwierig ist es) – werden wir die Bälle nicht hin und her schicken können zwischen uns.

    So unterbreche ich, unhöflich, deinen Aufschlag, kaum machst du ihn. Denn tatsächlich ging deine Replik ein gutes Stück weiter und ich habe sie entzweigeschnitten. Ich muss dich zwischendurch befragen, mehr ›ein-sprechen‹. Muss auffalten, was deine Sätze mir anzudeuten oder vorauszusetzen scheinen, muss langsam sein – sonst bekomme ich mich (uns?) nicht zu fassen in diesem Fass ›deutsch‹. Und ein Fass ist es, ich stecke darin. Glitschig der Inhalt. Gefüllt mit Öl? Nicht an sich eklig, manche nutzen Öle für Schönheitsbäder. Eng allerdings. Und welches Öl?

    Ich selbst werde glitschig, für mich in diesem ›Deutschsein‹ kaum greifbar.

    So bin ich dankbar für die Tennismetapher, diesen europäischen Spielimport. Ich erinnere mich an Plätze in gnadenloser Sonne, an harte Schatten. Sie spielen im Tennis auf dem Platz immer mit. Überraschend springt der Ball.

    Lass dies unser Gliederungsprinzip sein: Wir springen mit ihm. Ein Wort möge das andere geben. Nicht im Sinn eines Gegeneinander, bei dem es um Punkte geht – hier endet für mich die Metapher des Tennisspiels. Kein Schlagabtausch, kein Punktesieg.²

    Ich denke mir unser Gespräch als eine Bewegungsfigur, einen Tanz auf rotem Sand. Verstehe es als den Versuch, Denk- und Menschenfiguren und Schatten zu zeichnen, Körper und ihre Bilder, verbunden und getrennt durch ein Netz, diesen langen Faden, geschlungen um ein Nichts am anderen.

    ME: Wie von selbst scheinen sich die Themen, Topoi und Motive in das von dir evozierte Bedeutungsnetz zu fügen, als könnte man Deutschland und das ›Deutsche‹ ohne sie nicht mehr denken: Flucht, Vertreibung und die – wohl nie mehr zu verwindende – jüdische Wunde, die Wunde des ›Juden‹, des Jüdischen, der sogenannten ›Judenfrage‹, die es seit jeher in Deutschland gab (und immer noch gibt – aber davon sicher mehr später). ›Jude‹ – ein Wort, das man heute auf Deutsch kaum mehr in den Mund nehmen kann und wohl auch ›darf‹ angesichts dessen »was geschah«, wie Paul Celan sagt. Ein Wort, das den gesamten Komplex des ›Deutschen‹ als ohne Flucht und Vertreibung nicht denkbaren in sich vereint: Hat doch die spezifisch ›deutsche Antwort‹ auf die ›Judenfrage‹ letztlich zu eben jener allseitigen Flucht und Vertreibung (der Juden sowie anderen »unwerten Lebens« als auch der Deutschen selbst) geführt und Deutschland, mit Bertolt Brecht gesprochen, »besudelt unter den Völkern« zum ›Problem‹ werden lassen.

    Und natürlich spreche ich als Jude, aber ebenso als Deutscher und Amerikaner und Russe, der ich auch bin. Nicht jedoch als Flüchtling, auch wenn meine Deutschlandreise im Flüchtlingsnotaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin begann, wohin es meine Eltern und mich aus Israel verschlug, in das wir zuvor aus der UdSSR emigriert waren … All dies wird sicher noch zur Sprache kommen.

    Auch die Frage nach dem Männlichen und Weiblichen mag bei alledem eine große Rolle spielen, zumal die bis heute andauernde Erfahrung »gestörter Trauer, deformierter Trauer«, wie Durs Grünbein einmal sagt, in Deutschland noch nicht genügend – wenn überhaupt – auf ihre Gender-Dynamik hin befragt worden ist. Kann es sein, dass Deutschland und das ›Deutsche‹ ein Problem darstellen, weil Väter und Söhne schwiegen und sich der Wunde nicht stellen wollten? Ist das ›deutsche Problem‹ eines, das sich vor allem über Männer fortsetzt?

    Drehen wir also den Spieß um und rollen die der ›Judenfrage‹ komplementäre Gegenfrage auf, nämlich die in der ›Judenfrage‹ immer schon mitschwingende ›Deutsch(en)frage‹ bzw. ›Deutschlandfrage‹? Wie steht es mit Deutschland, den Deutschen und dem ›Deutschen‹?

    Der (imaginäre) Ball

    UD: Seit einer Woche trage ich das ganze Set von Bällen mit mir herum, die du mir zuspieltest. Ein paar Tage dieser Woche verbrachte ich in Brüssel, von wo ich dachte, dir antworten zu können. Aber nein, kein Einstieg über Europa (Deutschland in Europa). Nun sitze ich in einem Zug von Berlin nach Gotha. In Erfurt steige ich aus und werde von zwei Männern abgeholt, einer so alt wie ich, der andere fünfundzwanzig Jahre älter, beide mit viel Lebenszeit, verbracht in der DDR. Laut wird um mich herum telefoniert, ein Mann hinter mir spricht Arabisch, die Frau zwei Sitze weiter penetrantes, sehr schlechtes Englisch oder eben ihr Business-Deutsch. Alle Menschen sitzen an elektronischen Geräten, bei Kaffees oder Wasser. Der Zug summt, sehr glatt, 169 km/h, klimatisiert. Die Serviererin aus dem Bistro hat einen nichtdeutschen Namen, das Internet funktioniert mit kleinem Holpern. Wir schreiben den 30. Juni 2022. Soeben habe ich drei Monate in den USA verbracht, ganz ohne Züge. Ein einziges Mal war einer aus der Ferne zu sehen, langsam und alt.

    Ich bemerke: Hier, im ICE, fühle ich mich sehr ›deutsch‹. Das Land wird durchrast, man sitzt mit den Leuten zusammen, die hier leben oder mal vorbeischauen, ich habe das deutsche Sauber- und Technikgefühl, das einem (mir) mitunter als deutsche Begabung erscheint. Ich sage das nicht sonderlich stolz, denn immer, wenn ich durch so einen ICE gehe, frage ich mich auch, wer hier eventuell eines meiner Bücher lesen könnte, doch ich sehe kaum jemanden lesen, alles tippt und telefoniert, das Arbeiten frisst so vieles auf.

    DAS ›Deutsche‹. Schau, da springt die Antwort plötzlich aus der Sprache heraus. Das Deutscheste am ›Deutschen‹ ist für mich die Sprache. Zum Beispiel, dass man das so einfach, so naheliegend (wie vielleicht irreführend) sagen kann: DAS ›Deutsche‹. Diese Möglichkeit, aus dem Nichts ›Gegenstände‹ zu kreieren, ist berückend. Vielleicht sogar eine Stärke. Bei der Bildung von Substantiven ist es verlockend zu glauben, man klebe einen Namen auf ein Objekt. ›Esel‹ sagt Adam im Garten Eden zum Esel. Und wohl auch ›Schlange‹ zur Schlange und so hieß sie dann (sollen wir glauben). Die Sprachphilosophie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte an eben diesem Punkt an, um neu nachzudenken: Wie kann es sein, dass ich mit Sprache auch bezeichnen kann, was nicht existiert – wenn angeblich doch ein Gegenstand etikettiert wird. Wie kann es sein, dass das Tier ›Einhorn‹ als Gegenstand/Objekt nicht erscheinen will, während der Name mühelos funktioniert.

    Im Einhornfall ist das einfach.

    Im Fall des ›Deutschen‹ kompliziert. Doch der Verdacht steht im Raum: Es gibt dieses ›Deutsche‹ nicht.

    Wir denken es ›nur‹.

    Ich spiele dir den Ball zurück: Warum tun wir das? Wollen wir das tun? Was wollen wir damit erreichen? Wie wollen wir dieses Denken angehen/umdrehen/betrachten?

    Ah, denke ich, als ich meine soeben im Zug gekaufte Wasserflasche (PET, share, Aktion gegen Hungern – korrektes ›Deutschwasser‹) endlich aufbekomme: Schau an, wir spielen dieses Tennismatch mit einem imaginären Ball.

    Einem Ball, den wir mit jedem Schlag neu ›ballieren‹.

    Wunderbar.

    ME: Der Verdacht mag wohl begründet sein, wie bei allen derartigen abstrakten Verallgemeinerungen. Und doch – gäbe es das Deutsche‹ nicht, auf welche Weise und in welcher Form auch immer, würdest du dann in seinem ›Fass‹ stecken und dich ›glitschig deutsch‹ fühlen? Würden wir dann über ›es‹ sprechen können? Also muss es das ›Deutsche‹ wenigstens als Begriff und somit auch als Erfahrungs- und Denkwert geben. Oder zumindest eben als ein ungelöstes ›Problem‹, auch als etwas durchaus Spektrales, Gespenstiges und Gespinstiges … Denn wäre dem nicht so, dann hätten wir es schon längst an seinem »Verschwinden« gemerkt, wie es bei Wittgenstein heißt.

    Um aber auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren: Was es allemal gibt und gegeben hat, sind die Fakten, historischen Ereignisse, politischen Beschlüsse, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die im Namen des ›Deutschen‹ bzw. als dessen Artikulation nicht zu leugnen sind. Vielleicht stellt sich die Frage, ob es das ›Deutsche‹ überhaupt gibt, nur jemandem, der sich wie ein Fisch im Meer fragt, ob es das ›Wasser‹ überhaupt gibt, weil er das Medium gar nicht mehr wahrnimmt bzw. die Frage nach dem Medium in der Sprache des Mediums selbst stellt? Fragt man jedoch, ob es das ›Deutsche‹ – als Sprache, Kultur, Nation usw. – gibt mit dem Akzent oder Einschlag des ›Mitbürgers mit Migrationshintergrund‹ (welcher Couleur auch immer), dann hypostasiert sich das ›Deutsche‹ relativ schnell als harte und erbarmungslose Leitplanke, wenn nicht gar als Leitkultur.

    Insofern ist die Frage nach dem ›Deutschen‹ – danach, was es heißt, deutscher Abstammung, deutscher ›Gesinnung‹ usw. zu sein – durchaus plausibel. Was also bedeutet es, um es auf den Punkt zu bringen, ›Deutsche:r‹ zu sein? Wie fühlt es sich an, hier und heute, mit allem, »was geschah«, sowie all dem ihm Vorangehenden und Nachfolgenden?

    Normalnull oder: Die versteckte Migration

    UD: ›Unsere deutschen Mitbürger:innen‹. Oder: ›die deutschen Mitbürger:innen mit Migrationshintergrund‹. Lieber Michael: Das klingt so verstellt, technisch, verwalterisch wie es ist. Weder das Konzept noch das Wort ›Mit-Bürgerschaft‹ wollen mir einleuchten.

    Leider wurde ich bei dem Wort ›Mitbürger‹ die Assoziation ›Mitesser‹ nie los. Und ist es nicht auch (ein wenig, sozusagen klammheimlich) mit-gemeint?

    Anders gefragt: Warum kann man nicht einfach ›Bürger:innen‹ sagen?

    Sprache ist oft enthüllend. Welche Zusammengehörigkeit muss man hier mithilfe eines ›mit‹ herstellen –, weil sie in der Lebenswirklichkeit fehlt? Oder weil die Sprecher:innen durch die Vorsilbe zu mehr Toleranz erzogen werden sollen gegenüber Menschen, die fremd aussehen, fremd sprechen, zuhause anders sprechen als auf der Straße, die sich eventuell noch durch Religion und häufig durch Sozial- und Bildungsstatus unterscheiden?

    Da ist es also, du hast ganz Recht: das ›Deutsche‹ als Leitplanke, als Maß, als Normalnull: das ›Deutsche‹, dem man sich anschließen kann. Nur dass bei jedem Anschluss³, so die Implikation des Bildes, eine Fuge bleibt.

    Die Bedingungen dieses Angefugtseins scheinen mir interessant. Fragt man nach ihnen, muss man einen Blick in den eigenen Garten werfen, auf den eigenen ›Stammbaum‹.

    Jüngst fragte ich, im Rahmen einer Romanrecherche, Andreas Kossert, den Verfasser mehrerer Monographien zu den Zwangsmigrationen in der Folge des Zweiten Weltkrieges, danach, wie viele deutsche Bürger:innen heute in etwa in der Bundesrepublik leben, in deren Familienhintergrund Fluchterfahrung eine Rolle spielt. In der Generation der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Seine Antwort: dazu gebe es keine belastbare Zahl.

    Doch denken wir in Familien- und Generationszusammenhängen, dann wird deutlich, dass sehr viel mehr Bürger:innen mit Fluchterfahrung in Deutschland leben als gemeinhin angenommen wird. Und schon hat die Bedeutung der ›Mitbürgerschaft‹ sich verändert.

    Zwölf bis vierzehn Millionen Menschen, zumeist Frauen und Kinder, kamen 1945ff. in der sowjetischen und den westlichen Besatzungszonen an. Ihnen folgten 4,3 Millionen deutsche Aus- und Spätaussiedler, Flüchtlinge aus den kommunistischen Diktaturen, innerdeutsche Zonen- und Staatsflüchtlinge, Boatpeople aus Vietnam, Menschen aus dem Iran, Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, Syrien, die größte jessidische Gemeinschaft außerhalb der Siedlungsgebiete. Wie viele Kinder und Enkelkinder haben sie? Wie viele der Erstgenerationsflüchtlinge (wie mein Vater) leben noch? Er ist ›der‹ Flüchtling bei uns, doch die gesamte Familie (acht Menschen in drei Generationen) ist von seiner Geschichte, seinen Schädigungen, seiner Entwurzelung affiziert. Die Großzahl der um 1945 Geflüchteten ist bereits verstorben. Ich muss mit ihnen rechnen, wenn es um Fragen intergenerationeller Traumatisierung geht. Ich rechne bescheiden, rechne auf jeden von ihnen in den nachfolgenden Generationen nur fünf affizierte Menschen. Rechne alle einst Geflohenen als tot. Das ergibt: zwölf Millionen mal sechs (ein Flüchtling, dazu fünf Menschen = Kinder und Kindeskinder) minus zwölf Millionen. Bleiben: sechzig Millionen Menschen..

    Kann das stimmen?

    Sechzig Millionen der heute lebenden Deutschen haben einen ›abgeschatteten‹, sprachlich vielleicht nicht so deutlichen, vielleicht gut verdrängten, nicht hautfarbenintensiven Migrationshintergrund.

    Sechzig Millionen Deutsche, die im Nahfeld der Familie (in den vergangenen hundert Jahren) Migrationserfahrung haben. ›Mitbürger:innen mit Migrationserfahrung‹ wird als Schlagwort auf andere angewendet, um unsere eigene, eben nur angeblich ›rein‹ deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zuzudecken. Der Begriff selbst zeigt eine Fehlstelle an, einen ›Glitch‹ wie in den Matrix-Filmen: Hier stimmt etwas mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht, hier wird programmiert, hier sitzt ein ›Deutschproblem‹.

    Das ›deutsche Gespenst‹ oder: Gespenster des Nationalen

    ME: Ich verstehe jetzt dein Gefühl des Glitschigen viel besser. Gerade darum geht es uns: das Zugedeckte aufzudecken, das direkt anzusprechen, was von dem gut funktionierenden, gut geölten Dröhnen der deutschen Maschinerie, der deutschen Kulturmotorenwerke, die stets auf Hochtouren laufen, übertönt wird.

    Mir scheint, du hast hier bereits ein sehr wichtiges Kriterium des ›Deutschen‹ angesprochen bzw. aufgedeckt: Es lässt sich nicht denken ohne Poren, ohne seine lange schon vorhandene Porösität. ›Deutsch‹ sein bedeutet, Migrant – ›migrantischer Herkunft‹ – zu sein. Flucht und Vertreibung wären demnach dem ›Deutschen‹ ebenso inhärent wie … Aber bedarf es überhaupt der Beispiele? Entspränge das ›deutsche Problem‹ etwa der Spannung zwischen dem Verlangen nach ›deutscher‹ Reinheit und der unhintergehbaren Realität des ›Migrationshintergrunds‹ des ›Deutschen‹ selbst?

    Demnach wäre das ›Deutsche‹ als solches in der Tat eine Art ›Gespenst‹, und zwar in einem mehrfachen Sinne: als etwas Wirklich-Unwirkliches, weil in seinem Selbstbild Gespaltenes; als etwas den Deutschen selbst Gespenstisches … Unheimliches, Unbehagliches, Versch(r)obenes; als dementsprechend auch in Europa und der Welt gespenstisch Umgehendes, stets als potenziell unheimlich bzw. bedrohlich Anmutendes, weil mit sich im Zwist Stehendes und diesen Zwist auch nach außen Projizierendes.

    Worum geht es aber zutiefst in diesem Zwist? Geht es nicht zuletzt um Deutsche und Juden – letztere verstanden als ›ewig‹ Wandernde, als ›wesenhafte‹ Migranten? Ist das Verdeckte, Zugedeckte nicht das ›ewig‹ Jüdische im deutschen Imaginationsraum?

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