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Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne
Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne
Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne
eBook367 Seiten4 Stunden

Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne

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Über dieses E-Book

Miteinander leben, miteinander reden – Stimmen für eine starke Demokratie

"Wenn ich mir was wünschen dürfte ..." Mehr als 40 namhafte Künstler, Medienvertreter, Schauspieler, Journalisten, Wissenschaftler, Unternehmer und Sportler sind der Bitte nachgekommen, ihre Wünsche an unsere Demokratie zu formulieren. Sie überlegen, wie es gelingen kann, die offene Gesellschaft zu schützen und zu vertiefen, sie auszubauen und solidarischer zu gestalten.
Die Autorinnen und Autoren richten ihren jeweiligen Blick auf ganz unterschiedliche Dinge, auf nachbarschaftliche Kleinigkeiten oder das große Ganze – Forderungen an die Politik wie Bildung, soziale Grundsicherung, der Schutz der demokratischen Ordnung oder auf die unkalkulierbaren Auswirkungen von Krieg und Gewalt. Sie erinnern die Politiker daran, dass sie im Dienste des Volkes stehen und nicht großer Unternehmen und Banken. Aber auch die Dinge, die jeder selbst umsetzen kann, kommen zur Sprache – Offenheit dem Fremden gegenüber, Engagement für unsere Bürgerprivilegien, etwa die freie Meinungsäußerung, oder ein umsichtiger Umgang mit der Umwelt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchüren Verlag
Erscheinungsdatum17. Okt. 2018
ISBN9783741000485
Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne

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    Buchvorschau

    Wenn ich mir was wünschen dürfte – Impulse für eine Demokratie der Moderne - Schüren Verlag

    2018

    KAPITEL I

    «Wir wissen erst, was auf dem Spiel steht, wenn es auf dem Spiel steht.»

    (Hans Jonas)

    CHRISTOPH SIEBER

    WIE VIEL LAMETTA BRAUCHT DIE DEMOKRATIE?

    Christoph Sieber ist Kabarettist, Autor und Mensch. Seit annähernd 20 Jahren ist er gern gesehener Gast auf Deutschlands Kleinkunstbühnen. Für sein Schaffen wurde er unter anderem mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet. Im ZDF moderiert zusammen mit Tobias Mann die Kabarettsendung MANN, SIEBER!

    Wir müssen der AfD dankbar sein für ihren Aufstieg. Sonst hätten wir vielleicht gar nicht bemerkt, wie schlecht es um die Demokratie steht:

    Dass im Zuge der Fluchtbewegungen Menschen zu uns kommen, die unsere Werte nicht teilen, ist nämlich nicht das größte Problem. Viel schwerer wiegt, dass sie auf eine Gesellschaft treffen, die völlig entwurzelt ist. Eine Gesellschaft, die außer dem neoliberalen Mantra des höher, schneller, reicher kaum mehr einen Wertekanon besitzt.

    Eine Gesellschaft, die von sich behauptet «christliches Abendland» zu sein, in dem aber die Kirchen leer sind und an Ostern ein eierlegender Hase gefeiert wird.

    Wir leben in einem Staat, der im absoluten Wachstumswahn das vergessen hat, was eine Gesellschaft zusammen hält: die Solidarität.

    Das kapitalistische Versprechen, dass alle am Wohlstand teilhaben, wenn die Wirtschaft boomt, ist längst widerlegt. Der Kapitalismus produziert neben einigen Gewinnern einfach viel zu viele Verlierer.

    Letztlich gilt im Kapitalismus nur eine Maxime: Jeder gegen jeden und der Dreisteste gewinnt.

    Gerade in solchen Zeiten bräuchte es eine politische Führung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an den Forderungen der Wirtschaft.

    Und so kommen immer häufiger Zweifel auf: Leben wir tatsächlich in einer Demokratie oder ist es nicht eher eine Art Simulation von Demokratie?

    Sitzen in den Parlamenten tatsächlich Volksvertreter oder pseudodemokratische Aushängeschild mächtiger Unternehmen und Banken?

    Welcher Politiker, welche Politikerin kann tatsächlich von sich behaupten, nur ihrem Gewissen verpflichtet zu sein?

    Und wer ist dieses Volk? Wie viele haben sich von der Politik abgewendet und fühlen sich nicht mehr repräsentiert und werden infolgedessen auch politisch nicht mehr wahrgenommen und vertreten?

    Welcher Politiker sollte sich für die Abgehängten interessieren, die sich von der Politik abgewendet haben, wenn diese eh nicht zur Wahl gehen?

    Und steckt dahinter die Taktik, die Menschen auf legalem Wege zu entmündigen, um es dann mit einem schulterzuckenden «das ist Demokratie» abzutun?

    Stimmt es, dass die Demokratie immer dann am besten funktioniert, wenn sie keine ist?

    Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht. Er schätzt sie, gewiss, wegen ihrer Zuverlässigkeit und weil sie die Leute bei (Kauf)-Laune hält. Und weil der Wohlfahrtsstaat dafür sorgt, dass selbst die Ärmsten einer Gesellschaft in der Lage sind zu konsumieren.

    Aber der Wohlstand hat schon immer jegliche moralische Skrupel in den Hintergrund rücken lassen. Unser Wohlstand basiert ja nicht erst seit gestern auf Ausbeutung von Natur, Ressourcen und Menschen anderswo.

    Und jetzt frisst der Kapitalismus halt auch die Demokratie und mit ihr all die Errungenschaften der Moderne:

    Sie nennen es Freiheit, meinen aber Macht.

    Sie nennen es Gerechtigkeit, meinen aber Privilegien.

    Und sie nennen es Gleichheit, meinen aber die Verteidigung des Status Quo.

    Nur noch 58 Prozent der europäischen Jugendlichen halten die Demokratie für die alles in allem beste Staatsform.

    Die Demokratie hat an Attraktivität verloren. Sie ist die graue Maus unter den Regierungssystemen. Sie handelt von Grundgesetz und Umsatzsteuervoranmeldung. Sie handelt von langweiligen Phrasendreschern in der Politik, von Politikverdrossenheit und Koalitionsverhandlungen. Da ist wenig Glamour, wenig Lametta.

    Demokratie handelt von Meinungsbildung, bevor man eine Meinung hat. Das ist anstrengend. Die Demokratie ist mühselig, langweilig und für die meisten eine ergraute Selbstverständlichkeit.

    Autokraten versprechen da mehr Action. Da ist mehr Lametta. Da geht die Meinungsbildung schnell und Koalitionsverhandlungen sind kurz. Opposition Rübe ab. Widerspruch zwecklos.

    Man muss sich nicht langwierig in Themen einarbeiten, denn es gibt ja nur eine Meinung. Das gibt Halt und Orientierung. Diktatur heißt Fahnen, Aufmärsche, Paraden und der unliebsame Nachbar verschwindet einfach über Nacht.

    Doch eines sollte uns immer gewiss sein: Ein bisschen Diktatur geht nicht! Wenn sie kommt, dann mit aller Macht und Gewalt.

    Und deshalb müssen wir der AfD dankbar sein, weil sie uns vor Augen führt, wie wichtig es ist, für diese Demokratie zu kämpfen. Dass wir nicht zulassen dürfen, dass sie zur Fassade verkommt, hinter der sich antidemokratische Kräfte formieren und dass die Demokratie nicht erneut zum Steigbügelhalter des Faschismus werden darf.

    Wir werden erkennen müssen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und dass dieses Land nicht geprägt wird von Begriffen wie Nation, Blut, Ehre, Religion und Abgrenzung, sondern dass es Artikel eins des Grundgesetzes ist, der den Kern unseres Zusammenlebens ausmacht: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

    Die Würde des Menschen ist unantastbar und nicht die Würde des Deutschen, des Christen oder des steuerzahlenden Leistungsträgers. Viele haben die Stärken der Demokratie vergessen. Dass die Stärke der Demokratie ja nicht ist, dass die Mehrheit bestimmt, wo es langgeht, sondern dass sie die Rechte der Minderheiten achtet. Die Würde muss ja auch gar nicht erkämpft werden für die gesellschaftlichen Gewinner, sondern sie muss erkämpft werden für die, die selbst nicht kämpfen können. Und sie muss auch für die erkämpft werden, die einem zuwider sind, die anderer Meinung sind und für die, die einem auf den Sack gehen. Ja, die Demokratie ist keine Wohlfühloase, in der man sich einmal gemütlich einrichtet, und dann ist für alle Ewigkeit Ruh. Nein, sie muss immer wieder von neuem erstritten werden. Demokratie heißt Diskurs, heißt aushalten von Andersdenkenden, Anderslebenden, heißt Aushalten von Ignoranz, Dummheit und Markus Söder.

    Die große Errungenschaft der Aufklärung ist die Überwindung der Grenzen von Rasse, Nationalität, Religion und Ideologie.

    Geben wir den antidemokratischen Kräften, die alles verachten, was dieses Land ausmacht – Freiheit, Demokratie, Vielfalt, Toleranz – keine Chance!

    Und lasst uns eines nicht vergessen: Nicht der Markt regelt die Dinge, sondern das Grundgesetz.

    ANDRE WILKENS

    WAS TUN, STATT NICHTS TUN. UND MEHR OPTIMISMUS, BITTE!

    © GERLIND KLEMENS

    Andre Wilkens ist Autor und Mitbegründer der Initiative «Offene Gesellschaft»

    Hat die offene Gesellschaft ihre besten Tage hinter sich? Bricht das illiberale Zeitalter an, das Victor Orbán nicht müde wird von der Donau her auszurufen? Oder vertrauen wir unsere Gesellschaft gar geistlosen Algorithmen an, die uns aus den Mühen der Demokratie befreien sollen? Hat die offene Gesellschaft eine Zukunft?

    Ja, aber!

    Erst einmal, die offene Gesellschaft ist keine abstrakte Theorie, keine vage Fiktion. Auch keine ferne Utopie. Die offene Gesellschaft ist hier und jetzt und ganz real. Sie hat eine Verfassung. Das Grundgesetz regelt das Zusammenleben aller Deutschen, egal welcher Herkunft sie sind. Es schützt die Einzelnen vor Willkür, Not und Unrecht. Es garantiert freie Medien, freie Wahlen und den Rechtsstaat. Und es sieht vor, dass der Staat als Sozialstaat Daseinsvorsorge betreibt. Die offene Gesellschaft ist die ziemlich zivilisierteste Form von Gesellschaft, die uns bisher gelungen ist.

    Aber sagen wir es ruhig laut und deutlich: Die offene Gesellschaft ist nicht perfekt, unfertig, sie muss dringend verbessert werden. Ja, sie lebt geradezu von ihrer ständigen Kritik und davon, dass Benachteiligungen skandalisiert oder Entwicklungsdefizite beklagt werden.

    Demokratie heißt ja nicht, dass alles gut sei und die große allgemeine Zufriedenheit herrsche – die demokratische Praxis besteht im Gegenteil im permanenten Aushandeln von Konflikten und im Widerstreiten von Interessen. Gegner des demokratischen Prinzips setzen denn auch alles daran, ihre eigene Abwählbarkeit zu beseitigen, wenn sie einmal an die Macht gekommen sind. Sie kommen in der Demokratie an die Macht, nutzen aber dann die demokratischen Verfahren, um sie abzuschaffen. Daher ist die offene Gesellschaft nie gesichert und bedarf der ständigen Pflege und Verteidigung.

    Die größte Gefahr für die offene Gesellschaft sind aber nicht die Angriffe ihrer Feinde, sondern das zu geringe Engagement ihrer Freunde. Das liegt auch daran, dass Angriffe auf die Demokratie nicht etwa erst dann erfolgreich sind, wenn Parteien, die gegenüber der offenen Gesellschaft feindlich eingestellt sind, bei Wahlen Mehrheiten erreichen. Der Erfolg liegt im Agenda-Setting, im Setzen von Themen, die sukzessive zu Themen der Allgemeinheit werden. So sagt die Anzahl der Wählerstimmen nur unzureichend etwas über ihren faktischen politischen Einfluss aus. Das Starkmachen der Themen «Sicherheit» und «Zuwanderung» hat zu ganz erheblichen kollektiven Deutungsveränderungen in den vergangenen Jahren geführt und ist nun sogar in den Koalitionsvertrag eingegangen, ist also politikgestaltend geworden.

    Die solchem Agenda-Setting zugrundeliegende Strategie ist die der planvollen Grenzüberschreitung. Diese Strategie verwendet die politischen Gegner und auch die Medien als Resonanzkörper, die entlegene Auffassungen und Behauptungen beständig in kritischer Absicht so lange wiederholen, bis sie zum Bestandteil des Alltagsbewusstseins geworden sind und dann politikgestaltend werden. Auf solche Weise werden Inhalte, Begriffe und Tonalitäten sukzessive Bestandteil politischer Alltagskultur – wenn eben nicht hinreichend Gruppen, Individuen und politische Repräsentanten auftreten, die eigene Themen setzen, die dieses Agenda-Setting konterkarieren und verhindern.

    Und genau darum geht es jetzt. Die Kritik der etablierten Verhältnisse darf ja nicht zum Privileg der Neonationalen und Illiberalen werden. Die Freunde der offenen Gesellschaft müssen mit eigenen Themen aggressiv Agenda-Setting betreiben, dabei positive Grenzüberschreitungen betreiben und diese solange wiederholen, bis sie damit in die politische Alltagskultur vordringen. An Themen mangelt es nicht. Am Analysieren auch nicht. Aber am konkreten Tun schon eher. Gucken wir uns nur um.

    Laut Oxfam gehört heute dem reichsten einen Prozent der Menschheit mehr als den restlichen 99 Prozent. Auch in Deutschland besitzen die oberen 10 Prozent zwei Drittel aller Vermögen, Tendenz steigend. Wenn man es nicht auf eine gewaltsame Umverteilung hinauslaufen lassen will, muss die Angleichung der Lebensverhältnisse eine Priorität in einer offenen Gesellschaft sein. Statt uns mit Lohn- und Steuerdumping gegenseitig das Leben schwer zu machen, sollten wir uns wieder ganz konkret das Ziel setzen, nachhaltigen Wohlstand für alle zu schaffen, am besten gleich in der ganzen EU. Ein Bürgereinkommen oder Ähnliches kann über die digitale Revolution, ihre Roboter und deren faire Besteuerung finanziert werden. Das Einkommen würde in dem Maße zunehmen, wie die Produktivität von Maschinen steigt. Das ist die digitale Dividende für alle.

    Die Macht der Aufmerksamkeit liegt in den Händen von ein paar wenigen privaten Firmen, die diese für profanen materiellen Gewinn und zum Ausbau ihrer politischen Macht ausnutzen. Der öffentliche Raum ist in Gefahr, ein Schlachtfeld von kommerzieller und staatlicher Manipulation zu werden. Die politischen Konsequenzen sehen wir in den USA, China, Russland und auch schon hier in Deutschland. Aber der öffentliche Raum ist ein öffentliches Gut und darf nicht privaten Werbeplattformen überlassen werden. Wir müssen ihn schützen durch Standards, Gesetze, Bildung und durch eine Neuerfindung von öffentlich-rechtlichen Medien.

    Soziale Netzwerke gibt es nicht erst seit Facebook, sie sind tausende Jahre alt und machen uns Menschen aus. Manche nennen es sozialen Zusammenhalt. Diesen gilt es zu stärken – analog und digital. Soziale Netzwerke dürfen nicht denen überlassen werden, die daraus eine Maschine zur Massenmanipulation gemacht haben. Und gerade Europa braucht eine Öffentlichkeit, die Menschen verbindet und nationale Filterblasen aufbricht. Denn ohne die bleiben wir in unserer von nationalem Denken geprägten Welt gefangen und können den europäischen Wald vor lauter nationalen Bäumen nicht sehen. Wir haben vor fast 50 Jahren mit Airbus gezeigt, wie man Utopien mit Industriepolitik umsetzt. Eine funktionierende europäische Öffentlichkeit ist in Zeiten von digitaler Wahlmanipulation und Fake News mindestens so wichtig wie eine europäische Luftfahrtindustrie damals, wahrscheinlich sehr viel wichtiger.

    Nach einem starken Zuzug von Kriegsflüchtlingen und Migranten ist die Integration in unsere offene, pluralistische Gesellschaft eine große Herausforderung, die uns viele Jahre beschäftigen wird. Vieles läuft hier viel besser, als es die Medien wahrhaben wollen. Manches läuft auch wirklich schief. Aber Integration ist nicht nur eine Aufgabe für Flüchtlinge. Integration geht uns alle an. Nicht unwesentliche Teile der Eliten sind schlecht integriert und zerstören Systemvertrauen. Nicht abreißende Skandale um Volkswagen und Deutsche Bank, Steuerflucht und Postenschacherei in der Politik zeigen fehlende Gemeinwohlorientierung und damit mangelndes Demokratieverständnis. Es ist eine Frage der demokratischen Kultur, so etwas nicht weiter zu tolerieren und gerade auch von unseren Eliten stärkere Integrationsbereitschaft einzufordern. Integration ist eine Leistung, die jeder von uns erbringen muss, ob Flüchtling oder Sachse, Bayern-Spieler oder VW-Abgasmanager, Kanzlerkandidat oder Behördenchefin.

    Hier könnte man noch viele Themen hinzufügen, bei denen es der planvollen Grenzüberschreitung nach vorne bedarf, vom Mangel an sozialen Wohnraum, über Kinderarmut bis zum eskalierenden Artensterben. Es gibt wahrhaft viel zu tun. Am Setzen von eigenen Themen und an der Lösungskapazität für real existierende Probleme wird sich entscheiden, ob die offene Gesellschaft eine Zukunft hat oder nicht. Es braucht eine Dialektik des Erhaltens und des radikalen Veränderns – des Erhaltens vom Wertegerüst der offenen Gesellschaft und der Entwicklung radikal neuer Entwürfe des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auf die wirtschaftlichen und technologischen Fragen des 21. Jahrhunderts konkrete Antworten geben. Die offene Gesellschaft ist nicht einfach Status quo. Sie braucht und hat eine Zukunft jenseits der real existierenden Verhältnisse. Nur indem wir die offene Gesellschaft permanent verändern, werden wir sie erhalten. Sie ist im wahrsten und kreativen Sinne Entwicklungsland.

    Der in diesem Kontext sicher selten zitierte Jack White von den «White Stripes» hat zur Zukunft des Rock ’n’ Roll neulich etwas sehr Gutes in Die Zeit gesagt: «Es ist lange her, dass Rock ’n’ Roll für Furore sorgte. Nirvana haben eine ganze junge Generation dazu gebracht, sich Gitarren anzuschaffen. Seitdem ist nicht viel passiert. Aber damit ein Genre lebendig und attraktiv bleibt, braucht es solche Schübe wie Smells like Teen Spirit! Wenn die ausbleiben, stirbt ein Genre.»

    Hat die offene Gesellschaft eine Zukunft? Das hängt vor allem von ihren Freunden ab. Wer später nicht nur nostalgisch über das verlorengegangene liberale Zeitalter schwärmen will, muss jetzt etwas tun, damit sich die neonationalen Feinde der offenen Gesellschaft nicht einfach deshalb durchsetzen, weil die anderen in ihren bequemen Couchgarnituren sitzengeblieben sind und sich von Netflix haben berieseln lassen.

    «Optimismus ist Pflicht. Man muss sich auf die Dinge konzentrieren, die gemacht werden sollen und für die man verantwortlich ist», sagte Karl Popper. Ich würde hinzufügen: Optimismus macht aber auch viel mehr Spaß als dieses ewige Genöle.

    KERSTIN JÜRGENS

    MUT ZU SOZIALER GERECHTIGKEIT

    © KERSTIN JÜRGENS

    Kerstin Jürgens ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Kassel. Sie forscht zu Fragen rund um den Wandel der Arbeitswelt, zur Digitalisierung der Gesellschaft und neuen Mensch-Maschine-Kooperationen. Jürgens war Mitglied im Beraterkreis des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zum Weißbuchentwurf Arbeiten 4.0 (2015–2017). Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes leitete Jürgens die Expertenkommission «Arbeit der Zukunft» (2015–2017), die jüngst ihren Abschlussbericht Arbeit transformieren! vorstellte.

    Gesellschaft ist ein voraussetzungsvolles Projekt. Dies liegt vor allem daran, dass sich eine große Zahl von Menschen darauf einigen muss, nach welchen Prinzipien man auf einem begrenzten Territorium zusammenleben will. Wer darf überhaupt dabei sein? Darf man seine Meinung frei äußern? Kann man auf Toleranz hoffen, auch wenn man nicht den Vorstellungen anderer entspricht? Vor allem aber: Wer setzt sich mit seinen Interessen durch? Der Umgang mit diesen Fragen gibt uns Auskunft darüber, in was für einer Gesellschaft wir leben. Setzen sich wenige Stärkere durch und zwingen anderen ihren Willen auf, oder gibt es gegenseitigen Respekt und werden unterschiedliche Interessen anerkannt und zum Wohle aller austariert?

    Fragt man die jüngeren Generationen nach ihren Wünschen, dann geben sie meist an, dass sie gern in einer «gerechten Gesellschaft» leben wollen. Dies passt zu anderen Ergebnissen aus der Forschung: In Gesellschaften mit geringen Einkommensunterschieden sind offensichtlich alle zufriedener, und ab einem bestimmten Einkommensniveau kann man offenbar auch durch noch mehr Geld nicht noch glücklicher werden. «Glück» und «Gerechtigkeit» sind nun aber höchst schwammige Begriffe. Je nachdem, in welcher eigenen Lage man sich befindet und welchen Blick man auf seine Umwelt hat, erscheint etwas je anderes als «gerecht» oder «ungerecht». Kann es dann überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit in einer Gesellschaft geben, wenn doch die Interessen der Menschen unterschiedlich sind?

    Historisch hat sich gezeigt, dass die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit für eine Gesellschaft als Zusammenleben vieler von Vorteil sein kann. Auslöser hierfür waren die Folgen der industriellen Revolution, als Dampfmaschine und Elektrizität die Arbeitsweisen radikal veränderten. In dieser Zeit entstanden die moderne Lohnarbeit in Fabriken oder Büros und Arbeitstage, die man jenseits der Familie und an separaten Orten ausführte. Regeln für die Nutzung menschlicher Arbeitskraft gab es in dieser frühen Periode der Industrialisierung kaum. Der Arbeitstag war fast so lange wie die Wachzeit; auch Kinder wurden in die Produktion einbezogen. Arbeitsverträge, Arbeits- und Gesundheitsschutz oder eine Sozialversicherung gab es nicht. Folge war ein völliger Verschleiß menschlicher Arbeitskraft. Die Säuglingssterblichkeit war extrem hoch, die Verelendung der Massen schritt voran. Die Gesellschaft sah sich mit einer sozialen Frage konfrontiert, die sie grundlegend destabilisierte.

    Die Antwort auf diese Krisensituation waren Begrenzungen für das Marktgeschehen. Wirtschaftliche Aktivität wurde nicht unterbunden oder gar verstaatlicht, man setzte ihr allerdings klare Vorgaben. Soziale Gerechtigkeit war in dieser Phase kein parteipolitisches Steckenpferd, sondern eine gesellschaftliche Überlebensfrage. Es verwundert daher nicht, dass sie als Idee, auch getragen von den Lehren aus dem nationalsozialistischen Faschismus, ihren Weg bis in die Verfassung gefunden hat, die Deutschland ausdrücklich als soziale Marktwirtschaft ausweist. Diese Verankerung im Grundgesetz ist Erbe eines langen historischen Lernprozesses – und zugleich Mahnung für die politisch Verantwortlichen, gleich welcher Partei sie angehören.

    Dass die Debatte um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland gegenwärtig wieder so lebendig geführt wird, muss deshalb alarmieren. Grund hierfür sind keineswegs nur Schlagabtausche zwischen wissenschaftlichen Instituten, die sich über den Grad von Zunahme oder Stagnation der Spreizung von Reichtums- und Einkommensverteilung streiten. Ursache ist vielmehr, dass viele Menschen nicht nur «verunsichert» sind, sondern sich bereits «abgehängt» sehen, z. B. weil sie trotz einer Vollzeitbeschäftigung für sich und ihre Familie die Existenz nicht gut absichern können. Mit der Digitalisierung stehen zudem Rationalisierungswellen von Arbeit ins Haus: Behält man seinen Arbeitsplatz? Ist man den zukünftigen Anforderungen gewachsen, wenn Robotik, digitale Assistenzen und Algorithmen «mitarbeiten»?

    Der französische Soziologe François Dubet hat mit seinem Team herausgefunden, dass die Menschen Ungleichheit durchaus akzeptieren. Lebens- und Bildungswege sind eben unterschiedlich und können dann in auch je verschiedenen Status- und Einkommenspositionen enden. Als ungerecht empfinden sie jedoch, wenn schon die Chance auf Aufstieg verwehrt ist (also etwa das Bildungssystem die unterschiedlichen Ausgangslagen nicht auszugleichen vermag) oder auch für exakt gleiche Arbeit unterschiedliche Entgelte gezahlt werden (z. B. abhängig von Geschlecht oder der Herkunft). Solche «ungerechten Ungleichheiten» sind es, die eine Demokratie in ihren Grundfesten angreifen. Lässt sich von der Arbeit nicht mehr gut leben und benötigen nun auch die Zugewanderten bezahlbaren Wohnraum und Beschäftigung ohne zu hohe Einstiegshürden, wächst die Konkurrenz «unten» in der Gesellschaft. Folge ist wachsender Unmut, der sich seine Kanäle sucht, sei es als Ressentiment gegen «die» Politik, sei es als Hetze gegen Fremde und Schwache. Die Toleranz und die Empathie gegenüber anderen nehmen ab – und radikale Protestgruppen erhalten Zulauf. Oft separat verhandelte Themen wie Arbeitsmarktpolitik, technologischer Fortschritt und Zuwanderung stehen also für die Menschen in Zusammenhang.

    Deutschland steht nun mit der Digitalisierung vor einem umfassenden Strukturwandel am Arbeitsmarkt – hat aber ganz offensichtlich eine soziale Frage schon im Gepäck. Wir sind deshalb erneut mit der Frage konfrontiert, welches Modell des Zusammenlebens nun gelten soll. Wirkt der Zuspruch

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