Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wer gehört dazu?: Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration
Wer gehört dazu?: Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration
Wer gehört dazu?: Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration
eBook369 Seiten3 Stunden

Wer gehört dazu?: Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Integration ist erfolgreich, wenn Menschen sich zugehörig fühlen und eine Chance bekommen, die Gesellschaft mitzugestalten. Einwanderungsgesellschaften wie zum Beispiel Kanada gelingen diese beiden Schritte. Sie ermöglichen Migranten, Teil der Gesellschaft zu werden und auf die Rahmenbedingungen aktiv Einfluss zu nehmen. Deutschland hat in diesem Feld Nachholbedarf.

In "Wer gehört dazu?" erläutern die Autoren, wie in Deutschland die politische und gesellschaftliche Teilhabe von Zuwanderern verbessert werden kann. Im Mittelpunkt stehen dabei Themen wie Staatsbürgerschaft, gesellschaftliche Präsenz, Gleichstellungspolitik, politische Repräsentation und Zugänge zum Arbeitsmarkt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Aug. 2011
ISBN9783867933902
Wer gehört dazu?: Zugehörigkeit als Voraussetzung für Integration

Ähnlich wie Wer gehört dazu?

Ähnliche E-Books

Öffentliche Ordnung für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wer gehört dazu?

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wer gehört dazu? - Verlag Bertelsmann Stiftung

    Autoren

    Zugehörigkeit als Schlüssel zur Integration

    Ulrich Kober

    Die »Ferienlagerexperimente« des türkischen Wissenschaftlers Muzafer Sherif in den 50er Jahren gelten als Klassiker in der Sozialpsychologie (vgl. Fischer und Wiswede 2002: 655 f.; Sherif 1967). Sherif teilte eine Gruppe von elf – und zwölfjährigen Jungen in einem Zeltlager in zwei gleich große, relativ willkürliche Gruppen und diese entwickelten in kürzester Zeit durch gemeinsame Aktivitäten wie Zelten im Wald ein starkes Gruppengefühl. Dann wurden die Gruppen durch Wettkampfspiele wie Fußball oder Seilziehen in Konkurrenzsituationen geführt und es kam zu starken Feindseligkeiten zwischen den Gruppen. Auch gemeinsame Aktionen der Großgruppe in der nächsten Phase konnten diese Aggressionen nicht abschwächen. Das gelang erst durch Aufgaben, die die beiden Gruppen nur gemeinsam lösen konnten.

    Diese Experimente zeigen die Bedeutung und Kraft des Zugehörigkeitsgefühls in seiner ganzen Ambivalenz. Dass die Identifikation mit einer Gruppe relativ schnell erfolgt und stabil ist, macht deutlich, wie sehr jeder sich zugehörig fühlen möchte und auf Anerkennung von anderen angewiesen ist. Diese Gruppenzugehörigkeit bzw. soziale Identität scheint jedoch mit einer Abgrenzung von anderen einherzugehen, was wiederum den Zusammenhalt in der größeren Gemeinschaft gefährdet.

    Natürlich sind solche sozialpsychologischen Experimente im Mikrobereich nur mit Vorsicht auf reale Situationen oder auf die Makroebene der Gesellschaft insgesamt zu übertragen. Aber die Mechanismen und Ambivalenzen der Zugehörigkeit lassen sich auch in den aktuellen Integrationsprozessen einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland beobachten.

    Fragt man Zuwanderer¹ in Deutschland, wie sehr sie sich selbst als Teil der deutschen Gesellschaft sehen, so sagt ein knappes Viertel, dass das »voll und ganz« der Fall sei, ein Drittel sieht das eher so, ein Fünftel bewegt sich im Mittelfeld, knapp 15 Prozent sehen das eher nicht so und knapp fünf Prozent sehen sich »überhaupt nicht« als Teil der deutschen Gesellschaft. Eine Mehrheit von fast 60 Prozent der Migrantinnen und Migranten fühlt sich also eher als Teil der Gesellschaft (Institut für Demoskopie Allensbach 2009).

    Es gibt allerdings bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen. Zuwanderer mit türkischen Wurzeln oder aus der ehemaligen Sowjetunion fühlen sich mit rund 52 Prozent weniger zugehörig als andere: Bei den Menschen mit italienischem Migrationshintergrund fühlen sich rund 68 Prozent eher als Teil der deutschen Gesellschaft, bei denen mit spanischem Migrationshintergrund sind es 61 Prozent.

    Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Auffällig ist zunächst, dass in der Umfrage das Zusammengehörigkeitsgefühl mit unterschiedlichen Erfahrungen im Umgang mit der Mehrheitsbevölkerung korreliert. So fühlt sich eine deutliche Mehrheit bei den Türkischstämmigen mit 61 Prozent und bei Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion mit 55 Prozent weniger anerkannt als einheimische Deutsche. Bei den Zuwanderern aus Italien sind es nur rund 28 Prozent und bei denen aus Spanien sogar nur 20 Prozent. Sich aufgrund ihrer Herkunft ungerecht behandelt gefühlt haben sich »häufiger« oder »ab und zu« 28 Prozent der Türkischstämmigen und 18 Prozent der Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion, während es bei den Menschen mit italienischen Wurzeln nur rund neun Prozent und bei denen mit spanischen Wurzeln nur rund sechs Prozent sind. Je stärker die gefühlte Ablehnung seitens der Gruppe der Einheimischen, umso schwächer die gefühlte Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Deutschland bei den jeweiligen Migrantengruppen.

    Weitere aufschlussreiche Korrelationen lassen sich in der Umfrage zwischen dem Zugehörigkeitsgefühl und Faktoren wie Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Bildung und Sprache sowie Arbeit und soziale Schicht feststellen.

    Dass der Geburtsort für die Ausprägung des Zugehörigkeitsgefühls eine Rolle spielt, überrascht nicht. Menschen mit Migrationshintergrund der »zweiten Generation«, die in Deutschland geboren wurden und deren Eltern eingewandert sind, fühlen sich zu rund 79 Prozent »voll und ganz« oder »eher« als Teil der deutschen Gesellschaft. Bei denen, die in den letzten fünf Jahren zugewandert sind, sind es rund 20 Prozent. Je länger also jemand in Deutschland lebt, umso mehr fühlt er sich hier als Teil der Gesellschaft: Die emotionale Verwurzelung in Deutschland nimmt mit der Dauer des Aufenthaltes zu. Das bedeutet natürlich nicht, dass Integration ein automatischer und linearer Prozess und die Entstehung des Zugehörigkeitsgefühls ein Selbstläufer ist. Aber es weist darauf hin, dass das Integrationsklima im Land nicht so schlecht sein kann – wie das Integrationsbarometer des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration (2010) auch belegt.

    Betrachtet man in der Umfrage die Korrelation zwischen Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit, so zeigt sich, dass Migranten, die einen deutschen Pass haben, sich mit rund 71 Prozent eher als Teil der deutschen Gesellschaft fühlen als diejenigen ohne deutschen Pass mit rund 50 Prozent.

    Weiter spielt Bildung eine wichtige Rolle bei der Zugehörigkeit, vor allem in Bezug auf die Sprachkenntnisse: Diejenigen, die sehr gut deutsch sprechen, fühlen sich zu etwa 82 Prozent eher zugehörig, während es bei denen mit weniger guten Sprachkenntnissen nur rund 20 Prozent sind. Was den formalen Bildungsgrad angeht, so ist das Bild differenzierter: Zwar fühlen sich höher gebildete Migrantinnen und Migranten eher zugehörig als solche mit einfacher Bildung, aber die Werte sind bei denen mit mittlerer Bildung höher (65 %) als bei denen mit Studium (56 %).

    Zwischen dem Faktor Arbeit und der Zugehörigkeit gibt es ebenfalls eine ausgeprägte Korrelation: Berufstätige fühlen sich mit etwa 62 Prozent eher als Teil der Gesellschaft als Nichtberufstätige mit rund 53 Prozent. Schließlich sind Unterschiede zwischen den sozialen Schichten auffällig: Migranten aus der gehobenen Schicht fühlen sich zu zirka 75 Prozent als Teil der deutschen Gesellschaft, diejenigen aus der niedrigen Schicht zu rund 37 Prozent.

    Diese in der Umfrage festgestellten Zusammenhänge liefern natürlich keine empirisch belegten Erklärungen, geben aber Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte, wie die Zugehörigkeit von Zuwanderern zur deutschen Gesellschaft gestärkt werden kann. Die vorliegende Publikation thematisiert deshalb Aspekte rechtlicher, politischer, sozioökonomischer und emotionaler bzw. identifikatorischer Teilhabe, die sich als »Treiber für Zugehörigkeit« erweisen können.

    Bei der rechtlichen Teilhabe steht die Staatsangehörigkeit im Fokus: Sie ist die formale Conditio sine qua non für Zugehörigkeit und gleichberechtigte Teilhabe.

    Bei der politischen Teilhabe steht die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund im Zentrum. Denn sie hat hohe symbolische Bedeutung für die mögliche Identifikation von Zuwanderern mit Deutschland. So zeigten in der Umfrage die türkischstämmigen Zuwanderer einen größeren Optimismus als andere Migranten, wie sich die Lage der Zuwanderer in zehn Jahren darstellt. Etwa 60 Prozent der Menschen mit türkischen Wurzeln meinten, dass Zuwanderer in zehn Jahren mehr wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft einnehmen würden – bei den Migranten aus Italien waren es nur rund 48 Prozent, bei denen aus Spanien und der ehemaligen Sowjetunion etwa 40 Prozent. Dieser Unterschied kann möglicherweise mit einem »Cem-Özdemir-Effekt« erklärt werden: Der Vorsitzende der Partei der Grünen zeigt, dass auch Türkischstämmige wichtige Positionen in der Politik besetzen können.

    Bei der sozioökonomischen Teilhabe liegt der Fokus auf dem Zugang zu Arbeit. Denn Arbeit ist der Königsweg für die gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaft. Wer arbeitet und für sich und seine Angehörigen den Lebensunterhalt verdient, kann sein Leben aktiv selbst bestimmen und am Leben der Gesellschaft partizipieren. Außerdem ist Arbeit in einer expliziten Leistungs – und Arbeitsgesellschaft wie der deutschen mit Anerkennung verbunden.

    Zuletzt wird die Frage beleuchtet, wie sich Zuschreibungen durch die Mehrheitsgesellschaft auswirken. Ein stabiles Zugehörigkeitsgefühl bei Migrantinnen und Migranten wird nur dann entstehen können, wenn die »einheimischen« Deutschen die »neuen Deutschen« in ihre Solidargemeinschaft nicht nur rechtlich-formal, sondern auch »gefühlt« aufnehmen. Damit zeigt sich, dass Zugehörigkeit nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für identifikatorische Integration ist: Hinzukommen muss die Zusammengehörigkeit zwischen Einheimischen und Zuwanderern im Sinne einer »dritten deutschen Einheit«, die Armin Laschet, der erste Integrationsminister eines deutschen Bundeslandes, zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer forderte (Laschet 2009).

    Kehren wir zurück zu den Experimenten im Ferienlager. Die partikulären Gruppenzugehörigkeiten schwächten sich erst wieder ab, als die Jungen Aufgaben nur in der Großgruppe gemeinsam lösen konnten. Übertragen auf die Integration in Deutschland könnte daraus der Schluss gezogen werden, dass Zuwanderer und Einheimische sich erst dann als zugehörig im Sinne einer Zusammengehörigkeit erfahren werden, wenn sie realisieren, dass sie sich gegenseitig brauchen, um die künftigen Herausforderungen in Deutschland zu bestehen – und das erfahren sie insbesondere vor Ort in den Kommunen. Deshalb wurden in die vorliegende Publikation Beispiele für das gelungene Miteinander in Stuttgart und Oldenburg aufgenommen. Es ist zu erwarten, dass das auf beiden Seiten notwendige Umdenken in Richtung Zusammengehörigkeit durch die demographische Entwicklung im Land beschleunigt wird. Die Erfahrungen in Städten, wo der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bereits 50 Prozent unter allen Kindern ausmacht, werden dabei wegweisend sein.

    Literatur

    Fischer, Lorenz, und Günter Wiswede (Hrsg.). Grundlagen der Sozialpsychologie. München und Wien 2002.

    Institut für Demoskopie Allensbach. Zuwanderer in Deutschland. Allensbach 2009.

    Laschet, Armin. Die Aufsteiger-Republik. Köln 2009.

    Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Einwanderungsgesellschaft 2010. Berlin 2010.

    Sherif, Muzafer. Group Conflict and Co-operation. London 1967.

    Zur politisch-sozialen Integration von Migranten in Nordamerika

    Michal Bodemann

    Die Formen der Integration von Migrantinnen und Migranten in die nordamerikanische Gesellschaft weisen beträchtliche Unterschiede auf zu Integrationsmodi in Deutschland. Einwanderung in die USA wird gern romantisiert, wie in dieser berühmten Strophe von Emma Lazarus:

    Give me your tired, your poor,

    Your huddled masses yearning to breathe free,

    The wretched refuse of your teeming shore.

    Send these, the homeless, tempest-tossed to me:

    I lift my lamp beside the golden door.

    Wenig Aufhebens wird generell über die Einwanderung nach Kanada gemacht. Doch es gibt bereits erhebliche Unterschiede in den Aufnahmekriterien, die besonders in Kanada auf einem elaborierten Punktesystem basieren, das vor allem nach Ausbildung (»skilled worker«), Universitätsabschlüssen, Sprache (Französisch/Englisch) und vorhandenem Kapital (»business immigrants«) sortiert ist. Zudem versuchen Einwanderungsbehörden, die Immigranten dorthin zu leiten, wo ihre Qualifikationen besonders benötigt werden – was nicht durchgängig gelingt. Die Qualifikation immigrierender Ärztinnen und Ärzte wird in Kanada besonders selten anerkannt und oft sind diese gezwungen, fast ihr gesamtes Studium nachzuholen. Aufgrund der hohen Kosten ist das faktisch unmöglich.

    Abgesehen vom Punktesystem gibt es weitere Faktoren, die in Nordamerika die Aufnahme erleichtern oder erschweren. Sie sind zum Teil kultureller, teils auch innen – und außenpolitischer Natur: Migranten aus »befreundeten« Ländern, oder vielmehr aus Ländern »befreundeter« Regierungen, werden vorzugsweise ins Land gelassen, wogegen politisch engagierte, gegen »befreundete« Regimes opponierende Gruppen ungern aufgenommen werden. Bereits etablierte Einwanderergruppen üben oft Druck auf Regierungen oder Politiker und Parteien vor Ort aus, um ihren Landsleuten die Einwanderung zu erleichtern. Kulturelle Unterschiede und Unterschiede in »Rasse« und Hautfarbe spielen ebenfalls eine Rolle. So wurden zur Zeit des Holocaust prinzipiell keine Jüdinnen und Juden in Kanada aufgenommen. Auch in den USA war damals die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge stark begrenzt. Heute finden Flüchtlinge aus islamischen und schwarzafrikanischen Staaten kaum Aufnahme und in Kanada sind saisonale Arbeitskräfte strengen Kontrollen unterworfen, ohne zu üblichen Tarifen angestellt zu werden oder die Chance zu bekommen, nach Kanada einzuwandern.

    Ein Hauptargument für strengere Kriterien bei der Einwanderung nach Kanada, verglichen mit den USA, ist die bessere soziale Infrastruktur (insbesondere Kranken – und Sozialversicherung), welche dort zur Verfügung steht. Damit ist jeder Immigrant ein zusätzlicher Kostenfaktor für den Staat. Dieser Bedeutungszusammenhang einer Kosten-Nutzen-Analyse ist auch ein wesentlicher Grund der stringenten Handhabung von Einwanderung nach Deutschland.

    Parallelgesellschaften avant la lettre

    Freilich überrascht auch die innere Variabilität zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen. Prinzipiell kann zwar gesagt werden, dass die politischen Zwänge zur Integration in den USA stärker sind als in Kanada, doch es gibt im historischen Verlauf starke Unterschiede, die zeigen, dass die Masseneinwanderung in Nordamerika Prozesse durchlaufen hat, die denen in Deutschland heute ähneln.

    Noch Ende des 19. Jahrhunderts lebten deutsche Immigranten in den USA faktisch wie autonome Gemeinschaften, als voll ausgebildete »Parallelgesellschaften«, mit deutschsprachigen Schulen, Kirchen, eigenen Feiertagen, deutscher Architektur und Landwirtschaft sowie Wirtschaftszweigen wie den Brauereien. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges setzte eine antideutsche Kampagne ein, in deren Verlauf die deutsche Sprache in Schulen untersagt wurde und andere deutsche oder deutschsprachige Institutionen ebenfalls unter Druck gerieten. Infolgedessen löste sich innerhalb einer Generation die spezifisch deutsche Gemeinschaft als autonomer Ethnos auf, der er für mehrere Generationen gewesen war: Deutsche wurden als Gruppe unsichtbar.

    Ethnische Institutionalisierung

    Die Auflösung ethnischer Gruppen verlief und verläuft in Nordamerika im Allgemeinen mit der Auflösung ihrer institutionellen Strukturen: Wo ethnisch konstituierte Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Zeitungen, Radioprogramme und Ähnliches sich als ethnische Institutionen auflösen, wandelt sich oft auch die ethnische Gruppe selbst, hin zu etwas, was Herbert Gans als eine »symbolische Ethnizität« (Gans 1979) bezeichnet hat. Andersherum garantiert die ethnisch-institutionelle Geschlossenheit einer Gruppe im Normalfall ihr Weiterleben – also die Situation, in der Mitglieder einer ethnischen Gruppe von der Wiege bis zur Bahre in ethnischen Institutionen aufgehoben sind.

    In Städten wie Toronto, und in zahlreichen Städten der USA, ist – vor allem in größeren Einwanderergruppen – diese Geschlossenheit so ausgeprägt, dass bestimmte Gruppen, oder zumindest ihr Kern, nur selten mit der restlichen Bevölkerung in Berührung kommen. Diese Form der Pillarisierung gilt in Toronto beispielsweise für Juden und Italiener als ältere Einwanderergruppen und für Chinesen und Vietnamesen als den jüngeren Ankömmlingen. Es ist also keineswegs so, dass sich in Nordamerika keine »Parallelgesellschaften« formieren würden. Diese Formen der Gettoisierung betreffen auch nicht nur Unterschichten. Vielerorts sind ethnische neighborhoods entstanden, die von Mittelschichten bewohnt werden oder aber schichtmäßig durchmischt sind. Typischerweise sind diese neighborhoods um Kirchen, Moscheen oder Synagogen herum entstanden.

    »Disziplinierung« von Immigranten

    Vor allem in den USA können wir, von der deutschen Siedlerschaft abgesehen, eine Disziplinierung bestimmter politischer Orientierungen von ethnischen Gruppen beobachten. Beispiele sind die spektakulären Prozesse gegen Sacco und Vanzetti (1921 – 1927), die sich gegen die damals neue italienische, zuweilen sozialistisch oder anarchistisch ausgerichtete Migration richteten, und der Prozess gegen die Rosenbergs, der gegen die jüdische Gemeinschaft gerichtet war. In beiden Fällen sollten die politischen Spitzen dieser Gruppen gebrochen und in Konformität mit bestehenden politischen Ausrichtungen in den USA gebracht werden. Mit der heutigen Sprachenkampagne gegen das Spanische, den neuen Identitätskontrollen gegenüber Hispanics und vor allem der moral panic gegenüber Muslimen, die einhergeht mit der innenpolitischen Rolle von Guantanamo, sehen wir weitere Disziplinierungsversuche.

    Kanadisch-amerikanische Unterschiede

    In einer vorzüglichen Fallstudie hat die kanadische Soziologin Patricia Landolt exemplarisch die Unterschiede zwischen der Einbürgerung von salvadorianischen Immigranten in die USA und nach Kanada dargestellt. Während des Bürgerkriegs flohen Menschen aus El Salvador vor einem mörderischen Regime – das von den USA unterstützt wurde – sowohl nach Kanada als auch in die USA. Die Einwanderung dieser verfolgten Regimegegner in die USA war deshalb durchweg illegal und wurde kriminalisiert. Salvadorianer waren gezwungen, sich heimlich zu organisieren, und konnten nicht offen politische Ziele verfolgen.

    In Kanada hingegen war die Immigration von Salvadorianern legal und sie organisierten sich offen und politisch in Opposition zum Regime. Dieser Unterschied spiegelte sich in verschiedenartigen Integrationsmodi der beiden Einwanderergruppen wider: In den USA blieb die Integration aufgrund der Illegalität apolitisch, die Menschen aus El Salvador waren in erster Linie auf den Heimatort und die verwandtschaftlichen Netzwerke fokussiert; in Kanada hingegen war sie politisch und sowohl die Oppositionsgruppen des Regimes als auch linke Projekte in El Salvador wurden nach Ende des Bürgerkrieges von lokalen Gruppen in Toronto und andernorts in Kanada unterstützt.

    Das Resultat dieser Unterschiede, vor allem wie es sich in Form der Finanzierung von Projekten in El Salvador manifestiert – universalistisch-politisch in Kanada, partikularistisch-apolitisch in den USA – hat auch Konsequenzen hinsichtlich der Integrationsform in beiden Ländern. Die lokalistisch-familialen paisanos – häufig von Kirchen unterstützte Formationen der Salvadorianer in den USA – , haben größere Chancen, auf längere Dauer zu überleben, als die narrativ universalistischen Institutionen der Salvadorianer in Kanada. Dementsprechend ist anzunehmen, dass die salvadorianischen Gemeinschaften in den USA auf längere Sicht ihre kanadischen »Cousins« als Ethnos überleben werden. All dies sind jedoch Muster, die sich über lange Zeiträume hinweg entwickelt haben.

    Einwandererpatriotismus

    Für Einwanderergruppen nach Nordamerika gilt im Allgemeinen, dass Lokalismus, Religion und gemeinschaftliche Organisationsformen in Einklang stehen mit dem spezifischen Patriotismus der Immigranten. Dieser Patriotismus ist dualer Art: Einerseits sind Einwanderer dort typischerweise stolze Kanadier oder Amerikaner; andererseits sind sie zumeist auch nationalistische und eher rechtslastige Unterstützer der Politik im Ursprungsland.

    Beispiele hierfür sind die Unterstützung der griechischen Junta unter dem US-Vizepräsidenten Spiro Agnew, die frühere Unterstützung seitens deutscher und italienischer Einwanderer für die faschistischen Regimes zu Hause, die rabiate Anti-Castro-Bewegung der Exilkubaner in Florida heute oder die starke Unterstützung der chauvinistischen Politiker in Israel durch Juden in den USA und Kanada. Gelegentlich sind Einwanderergruppen auch politisch und kulturell gespalten, wie etwa für lange Zeit die Ukrainer in Kanada. Ukrainer, die in der Zeit um den Ersten Weltkrieg nach Kanada kamen, waren meist sozialistisch orientiert, während diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der stalinistischen Verfolgung nach Kanada kamen, streng antikommunistisch blieben. Diese Art der politischen Spaltung ist auch in Deutschland zu sehen, etwa die stärkere Polarisierung zwischen kemalistisch-säkularen und islamisch orientierten Türken, sowie die interethnischen Spaltungen, etwa zwischen Kurden und Türken, die oft erst im Einwanderungsland deutlicher zutage treten.

    Staatsbürgerschaft

    In diesen Ländervergleichen reicht die gängige bürgerschaftlich-juristische Unterscheidung zwischen ius soli, das nach Geburtsorten der Einwanderer unterscheidet, und einem ius sanguinis, welches nach ethnischer Herkunft unterscheidet, nicht aus. Nationale, oft juristisch fixierte Narrative unterscheiden sich meist deutlich von den realen Gegebenheiten. So stellt sich die Frage, ob Einwanderer in Frankreich unter einem ius soli-Regime gesellschaftlich besser integriert sind als Einwanderer in Deutschland oder in der Schweiz unter ius sanguinis-Systemen.

    Für Kanada und die USA gilt, wie Tocqueville bereits beobachten konnte, dass Kirchen gesellschaftlich generell eine bedeutende Rolle einnehmen – so ebenfalls im Zusammenhang mit Einbürgerung – , der auch politische Organisationsformen entspringen. Bestimmte Einwanderergruppen werden beispielsweise häufig aus kirchlichen Milieus heraus politisch von bestimmten Parteien über Klientelbeziehungen »kolonisiert«. In Ontario war die liberale Partei mit dieser Herangehensweise bei italienischen und jüdischen Einwanderergruppen besonders erfolgreich.

    Welches sind also die wesentlichen Unterschiede zwischen der Integration von Einwanderern in den USA und Kanada einerseits und Deutschland auf der anderen Seite? Das amerikanische Narrativ macht, wie auf der Dollarnote zitiert: »e pluribus unum«, einen melting pot. Dieser definiert alle Einwanderer als Amerikaner; der ethnische Hintergrund wird so lediglich zum Ornament. Ein melting pot, der in Boston am Saint Patrick’s Day irisch-grüne, jüdische Bagels produziert. In Kanada wäre dies undenkbar. In New York marschieren bei verschiedenen Paraden, wie auch bei der Saint Patrick’s Day Parade, unterschiedliche ethnische Gruppen durch die Straßen.

    Multikultur

    Das »vertical mosaic« Kanadas mit den frankophonen Katholiken und protestantischen Anglophonen oben in der Hierarchie und den »Ethno-Kanadiern« unten verteilt sich auf ein geografisches areal »a mare usque ad mari« (auf der kanadischen Dollarnote). Ein Gebiet von Ozean zu Ozean, auf welchem die ethnischen Communitys verteilt sind, Gruppen, die nicht unbedingt wechselseitig integrierbar sind und dennoch das gesellschaftliche Gefüge Kanadas als multikulturalistisch prägen. Die dortigen Paraden sind eher verschleiert ethnisch, wie etwa die Christmas Day Parade, die eher schottischen und englischen Wertvorstellungen entspricht, oder die sommerliche Caribana, auf der die Karibik allgemein gefeiert wird.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1