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Mit der Kraft zu lieben: Der Lebensweg des sogenannten "roten Rabbiners" David Victor Tulman
Mit der Kraft zu lieben: Der Lebensweg des sogenannten "roten Rabbiners" David Victor Tulman
Mit der Kraft zu lieben: Der Lebensweg des sogenannten "roten Rabbiners" David Victor Tulman
eBook569 Seiten6 Stunden

Mit der Kraft zu lieben: Der Lebensweg des sogenannten "roten Rabbiners" David Victor Tulman

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Über dieses E-Book

Die außergewöhnliche Autobiografie David Tulmans beschreibt ein Leben zwischen
kabbalistischer Mystik, sozialer Revolution und persönlicher Sinnsuche in den Wirren
des 20. Jahrhunderts, in der k.u.k. Monarchie, dem Spanischen Bürgerkrieg, den NS-
Vernichtungslagern und dem neuen Staat Israel. Ungarn, Deutschland, Frankreich,
Spanien, Israel - das sind die Stationen einer bedingungslosen Suche nach Mensch-
lichkeit und Toleranz in einer bedrohlichen Zeit. Das Leben des Rabbiners und Kantors
David Tulman fasst die Vielfalt und Tragik des jüdischen Schicksals in leuchtende und
eindrucksvolle Bilder und zeichnet einen Weg des Lichts zu den "Messianischen Zei-
ten" der religiösen Verbrüderung. Beeindruckend ist dabei vor allem auch die Sprache,
die in schlichten, archaisch anmutenden Sätzen eine einzigartige Existenz vor uns
hinstellt, in der sich die orthodoxe Glaubensbegeisterung mit der Neugier auf die Welt
verbindet. Ein unzeitgemäßes, ein bedeutendes Buch.
SpracheDeutsch
HerausgeberLindemanns
Erscheinungsdatum1. Mai 2017
ISBN9783881909761
Mit der Kraft zu lieben: Der Lebensweg des sogenannten "roten Rabbiners" David Victor Tulman

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    Buchvorschau

    Mit der Kraft zu lieben - David V Tulman

    Tulman_Titel.jpg

    David Victor & Paloma Tulman

    Mit der Kraft

    zu lieben

    Der Lebensweg des

    David Victor Tulman,

    genannt der rote Rabbiner

    aufgezeichnet von

    seiner Tochter Paloma

    Lindemanns Bibliothek

    Den Blick in die Zukunft gerichtet

    ist dieses Buch wahrer Erlebnisse

    dem Nachdenken gewidmet.

    Lindemanns Bibliothek

    Dieser Band herausgegeben von Thomas Lindemann

    und Dr. Bernd Villhauer

    Redaktionelle Mitarbeit:

    Kurt Fay

    Ariane Lindemann M.A.

    Brigitte Stocker

    Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme:

    Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei

    Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

    Alle Rechte vorbehalten.

    Nachdruck, auch auszugsweise,

    ohne Genehmigung des Verlages nicht gestattet.

    Lindemanns Bibliothek erscheint im INFO Verlag

    © 2000 · INFO Verlag GmbH

    www.infoverlag.de

    ISBN 978-3-88190-976-1

    Vorwort

    Manche Menschenleben scheinen alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Wir hören oder lesen erstaunt, wie vielfältig und abenteuerlich solche exemplarischen Lebensläufe das in einem umfassen, was uns sonst nur auf viele Biografien verteilt begegnet. Als würde ein Maler versuchen, in einem Bild alle seine Möglichkeiten darzustellen und je länger wir das Bild betrachten, desto mehr Details und überraschende Perspektiven entdecken wir in seiner Komposition.

    In dieser Weise komponiert erscheint einem auch das Leben des David Victor ben Morenuraw Eliahu Tulman. Von einem winzigen ungarischen Dörfchen in die Zentren der Welt, von extremster Armut in große Paläste, von religiöser Enge zu einem weltumfassenden humanistischen Verständnis – ein Denk- und Lebensweg von fast monumentaler Größe, der einen manchmal betreten auf sich selbst blicken lässt.

    Unter vielen Motiven kann man versuchen, dieses Leben zu ordnen und zu verstehen – eines der wichtigsten ist die Radikalität des Glaubens. Im Geiste der orthodoxen Lehren des östlichen Rabbinats erzogen, in kompromissloser Strenge auf ein Leben mit den heiligen Schriften und den Ritualen des Judentums vorbereitet, wurde die Glaubensbereitschaft des Kindes nicht erstickt, sondern zu einer Überzeugung geformt, die den erwachsenen Mann später stets begleitete. Trotz der weltanschaulichen Entscheidungen für die kommunistische Räterepublik, für den Dialog mit den anderen Religionen, für einen offenen und manchmal provokativen Lebensstil war David Victor Tulman vor allem eines: ein gläubiger Jude.

    Und seine Entwicklung zeigt, dass starker Glaube, Ernsthaftigkeit im Religiösen und Spirituellen durchaus vereinbar sind mit Entwicklungsfähigkeit und einem offenen Blick in die Welt, ja manchmal sogar gerade Voraussetzung dafür sein können. Wir alle, denen die Welt des Stetls ins Melancholisch-Pittoreske entrückt zu sein scheint, haben Grund, uns auf die Lehren eines solchen Lebens einzulassen. Gegenwärtige Debatten über die Wertfundamente moderner Gesellschaften zeichnen nämlich oft ein verkürztes Bild: es scheint, als hätten wir nur die Wahl zwischen einerseits einem Mullah-Regime wie es Fundamentalisten aller Richtungen und Religionen zur Bewältigung der Verwerfungen von Modernisierungsprozessen anstreben, einer streng weltanschaulich-religiös ausgerichteten Gemeinschaft also, und andererseits der libertären Konsumgesellschaft, die zwar ein angenehmes Laissez-faire zulässt, ihre Mitglieder aber immer lebens- und sozialunfähiger macht. Was jedoch bei Tulman im Persönlichen deutlich wird, ist vielleicht auch gesamtgesellschaftlich plausibel: die Energien des Glaubens und die Hoffnung auf grundsätzliche ordnende Prinzipien der Welt können ausgerichtet werden in den Koordinaten einer toleranten und entwicklungsfähigen Gemeinschaft aller Menschen.

    Denn Mit der Kraft zu lieben ist auch ein gewaltiger Appell für Toleranz und gegenseitige Anerkennung. Dieses Verständnis und seine Grundlagen, die in einem umfassenderen Verständnis auch der geistigen und mystischen Dimensionen des Lebens liegen, war ein besonderes Anliegen Tulmans. Besonders an die Deutschen war seine Botschaft gerichtet, nicht als Anklage oder um den vielen (notwendigen) Darstellungen der NS-Verbrechen noch eine weitere hinzuzufügen, sondern weil er den nachfolgenden deutschen Generationen einen Weg aus der dunklen Vergangenheit mit ihren Engstirnigkeiten und Überheblichkeiten, aber auch mit den Selbstanklagen und Hypermoralisierungen der Nachkriegszeit zu zeigen versuchte. Daher wollte er seine Arbeit unbedingt in deutscher Sprache veröffentlichen.

    Auf dem Weg zur Verbrüderung der Religionen steht auf dem Grabstein von David Victor Tulman geschrieben, der auf dem Ölberg in Jerusalem begraben liegt. Dass hier schon einer auf diesem Weg weit vorangekommen war, kann allen Menschen Mut machen.

    Bernd Villhauer

    Das erste Buch

    Bei Vater und Mutter

    Meiner Eltern Liebe war immer mit mir bei meinem lan- gen Wandern. Die Strenge meines Vaters und die Innigkeit meiner Mutter haben mich geformt, behütet und durch die Schrecken der Welt geführt. Sie gaben mir die Kraft, immer neu das Licht hinter der Dunkelheit zu suchen und so zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen. Sie gaben mir die Kraft zu lieben. Ich danke ihnen mit meiner ganzen Seele dafür.

    Ein alter hebräischer Text sagt: Liebe alles, was um dich ist, denn es ist so geschaffen wie du selbst, das heißt, liebe die Menschen, die um dich sind, liebe die Tiere, liebe die Pflanzen und liebe die Erde. Sind wir nicht alle aus ihrem Staub erschaffen?

    Kurtakeszi

    Ja, etwas entsinnt sich in mir an alles, was in meinem Elternhaus geschah. Schon ab meinem fünften Lebensjahr wird es ganz deutlich.

    Es war in Kurtakeszi, im ersten Dörfchen meiner Erinnerungen, die nun zu lebendigen Bildern unseres Lebens werden. Kurtakeszi war mein lichtiges Dörfchen!

    Im März 1906 war es, als ich eben meine fünf Jahre erreicht hatte. Unsere Familie wohnte in diesem kleinen Dorf zwischen der Donau und dem Fluss Sajó im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Seither haben sich Grenzen und Namen mancher Ortschaften hier geändert, was mir melancholische Gedanken kommen lässt.

    Meine Eltern stammten aus Russland, sie waren vor den dortigen Pogromen bis nach Ungarn geflohen und hatten auch hier schon manchen Ort wechseln müssen, denn wir waren Juden und mein Vater sogar ein Rabbiner. Vor den Menschen war er ein sehr armer Rabbiner, aber ich bin sicher, so es einen Gott gibt, war er vor Ihm reich und prachtvoll in seiner großen Andacht. Und wenn Gott Liebe verteilt, so waren meine Eltern fürstlich beschenkt; so fühlte ich es. Unser kleines Haus auf Erden hatte ein dickes und dichtes Strohdach und war von außen wie von innen ganz weiß getüncht, aber seine Deckenbalken und Fensterrahmen waren von der Zeit und dem Rauch fast schwarz geworden, und unsere Füße liefen auf dem festgestampften Lehm der Erde. In unserem kleinen Haus war es aber warm, war es heimelig von Liebe.

    Der kleine David, das war ich, saß schon am Tisch seines Vaters von morgens früh bis abends spät und studierte die heiligen Schriften, natürlich in Hebräisch, welches ich schon fließend lesen und sprechen konnte. Woran ich mich nicht entsinnen kann, ist, das Alphabet gelernt zu haben, mir war, als hätte ich es immer gekannt.

    Als Sohn eines chassidischen Rabbiners wurden meine Haare an den Schläfen nicht geschnitten: das waren die Päis, geformt als zwei lange Ringellocken. Sonst hatte ich blonde Haare, blaue Augen, schon breite Schultern für mein Alter und der Rücken blieb mir gerade, trotz des frühen vertieften Studiums. Alles geschah ja bei uns im Dienste für Gott! So war es in unsere Seelen eingeschrieben und das gab sehr viel Kraft.

    Nun kam Vater, der Rabbiner, von seiner Wanderung durch die weit zerstreute Gemeinde zurück. Er war ein großer, schöner Mann und Träger eines prachtvollen Bartes. Meine Schwestern und ich waren der Meinung, dass Vaters Bart von seinem Munde wie ein Strom der Gottesweisheit floss. Mit Würde trug er einen kräftigen Stock mit sich, wir Kinder dachten: So wie Moses. Sein schwarzer Kaftan und sein großer Hut mit breiter Krempe ließen ihn noch imposanter erscheinen. Ja, unter dem Hut trug Vater noch die kleine Kalotte, um niemals barhäuptig zu sein, denn es steht geschrieben: Der Hohe Priester entblößt nicht sein Haupt. Die schwarze Farbe unserer Kleidung, das wusste ich schon damals, ist das Zeichen, dass wir Juden noch immer um die Zerstörung der zwei gewaltigen Tempel des Königs Salomon und des Königs Herodes in Jerusalem trauern. Dies ist nun schon zweitausend Jahre her, aber wir vergessen es nie.

    Vaters Erscheinung bewegte mich immer mit Verehrung und Bewunderung, denn diese ganze jüdische Vergangenheit war in ihm lebendig, und ich, ich sehnte mich, alles von ihm zu lernen.

    Vater sagte: "Es muss so tief in dich hinein dringen, dass Gott selbst sagt: Du bist ein Jude." So erklärte Vater mir das Lernen der heiligen Schriften.

    Jetzt aber fragte seine klare Stimme mich:

    Nun, David, wo bist du angelangt?

    Ich drückte meinen Finger so stark auf die Linie im heiligen Buch, dass mein ganzer Eifer in ihn hinein rutschte.

    Hier Vater! Da geschah etwas sehr Unbegreifliches, ja Erschreckendes, es fiel nämlich vom Himmel auf mein Buch eine kleine Silbermünze.

    Du hast mit Fleiß Gott gedient – und siehe, David, Er belohnt dich dafür. Es wurde mir heiß und kalt in abwechselnden Schauern. Meine Freude, Gott zu dienen, mir seine Liebe zu erwerben, sollte zu diesem Silberstück zusammenschmelzen? Mein ganzes Wesen schüttelte sich, als wollte es diesen Gedanken abwerfen: Nein, niemals rühre ich dieses Geld an! Ich hasste es. Ich wollte es vom Tisch stoßen. Aber glücklicherweise, meine Augen sind sehr flink, hatte ich bemerkt, dass es Vater war, der wie ein Zauberer die Münze vom Deckenbalken herunterfallen ließ. Ja, ich hatte es gut gesehen und gefühlt. Es war nicht Gott gewesen!

    Wie konnte ich aber dies behaupten? Und wie konnte ich es vor Vater sagen, dass ich alles bemerkt hatte und dass ich die Münze nicht haben wollte? In meiner Verzweiflung brach ich schließlich in einen Tränenstrom aus.

    Papa! Papa, ich will kein Geld haben. Gott hat mich viel besser lieb! Darauf wurde es still. Ich musste auch schnell meine Nase putzen, damit es nicht auf das heilige Buch rann, derweil schien es mir, ging mein Schluchzen bis zum Allmächtigen hinauf. Ja, und Er nickte mir gütig zu und sagte:

    Du hast Recht, David!

    Vaters Hand legte sich sanft auf mein Haar, seine starke Liebe glitt in mich hinein, bis in das Allertiefste meiner Seele. Wie war ich glücklich! Meine Augen voller Tränen schauten zu Vater auf und unsere Blicke begegneten sich, ja begegneten sich in jener Welt, wo man Gottes Liebe sucht, in dieser stillen, gewaltigen Welt, wo man Ihm begegnen kann.

    Nimm die Münze, David, sie war für dich bestimmt und mache dir eine Freude damit. Vater nickte mir gütig und froh zu. Ich wischte sorgsam die Tränentropfen vom offenen Buch, die Welt wurde hell, sogar sehr leuchtend schön! Unsere Welt!

    Vater nahm wieder seinen Platz an unserem gemeinsamen Studiertisch ein.

    So war es in Kurtakeszi, meinem lichtigen Dörfchen. Unsere Mutter saß draußen vor der Tür unter dem Himmel des Allmächtigen und arbeitete, wie immer, für uns alle. Plötzlich wusste ich, was zu tun sei, rannte zu ihr, um ihr die Münze in die Hände zu legen.

    Mamme, behalte du sie! Wenn noch mehr herunterfallen, können wir Schuhe zum Winter kaufen! Aber niemals ist wieder ein Geldstück vom Himmel gefallen. Doch der große Reichtum der heiligen Schriften, er fiel tief in meine Kinderseele hinein. Dieser Reichtum wurde zu meinem unverlierbaren Schatz und Schutz während des langen Wanderns durch die Wüsten der Welt.

    Unser Leben

    Wenn es Winter war, sahen die etwa hundert verstreuten Häuschen von Kurtakeszi aus, als hätten sie große Kapuzen von di-ckem Schnee über ihre Gesichter gezogen; man konnte kaum mehr aus den Fenstern sehen und der Wind draußen heulte, manchmal waren es auch die Hunde, die heulten, und Vater gab ihnen dann ein Stück von unserem Brot. Aber im Sommer wurde alles wieder tüchtig grün und herrliche Blumen gab es überall; die waren ebenso kräftig und lustig wie die Bauern.

    Wie möchte ich doch gut beschreiben, wie alles hier war, begann doch meine Lebensreise hier, in meinem süßen Dörfchen. Eine wirkliche Straße begann erst vor der Kirche, es stand rechts das Haus des Geistlichen und die christliche Schule. Dann kam das christliche Wirtshaus mit seinem kleinen Bazar und genau gegenüber war der kleine jüdische Bazar mit seiner Herberge. Wir waren vielleicht fünfundzwanzig jüdische Familien im Dorf und unser Synagögchen war nur durch einen sehr großen Hof von der jüdischen Herberge getrennt. Dann kam unser Haus, und wenn ich an Vaters Studiertisch saß, suchten meine Augen oft die Sonne in diesem riesigen Hof.

    Da man zur Synagoge am Sabbat zu Fuß gehen muss, war ganz logischerweise das jüdische Leben um sie herum gruppiert. Nur unsere Schule stand hinter der Kirche auf einem kleinen Hügelchen, recht einsam. Vater gefiel das, er sagte: Zum Lernen muss man Ruhe haben.

    Denn auf dieser einzigen Straße hielten die Bauern mit ihren Gespannen an, gerade zwischen den beiden Wirtshäusern, tranken einen guten Schluck Wein, erzählten sich Schwänke und alle Neuigkeiten und man lachte laut von Herzen darüber. Sie waren nicht bösartig, aber wenn ich vorüberging, versuchten sie mich zu erwischen, um an meinen Päis zu ziehen, das amüsierte sie sehr, aber mich beschämte es zutiefst und dann riefen sie Kleiner Jud! Kleiner Jud! hinter mir her.

    Und eines Tages geschah es, dass Vater mich bei der Hand nahm und sagte: David, du bist nun ein großer Junge geworden, es ist an der Zeit, zur Schule zu gehen, damit du das weltliche Wissen erlernst! Und der Weg führte natürlich zwischen der christlichen und der jüdischen Herberge vorbei. Eigenartig war, dass ich nicht versuchte, mich auf der jüdischen Seite der Straße zu halten, da, wo auch unser Bazar war. Nein! Ich ging immer genau in der Mitte, besser gesagt, ich rannte.

    In der Schule fand ich andere jüdische Jungen, aber sie trugen kein Päis wie ich, was mir bei ihnen zu einem gewissen Respekt verhalf, worauf ich sehr stolz war. Die größeren Jungen flüsterten untereinander: Wir müssen aufpassen, die Christen lieben uns nicht, sie beschuldigen uns wegen dem Gekreuzigten!

    Wer war dieser gekreuzigte Jesus? Was bedeutete das Kreuz mit der traurigen Figur darauf genagelt? Das war eine Welt, von der ich noch nichts wusste. Vater zu befragen, schien mir unmöglich. Also rannte ich schnell auf der Straße, mein Herz klopfte laut und lange Zeit glaubte ich, dass Jude sein hieß: Angst haben. Aber ich wollte so ein Jude wie Vater werden und keine Angst haben! Und das war nicht leicht! Die Ungarn waren lustige Leute und wollten sich immer über mich amüsieren.

    Es war Frühling! Die Sonne schien hell und seltsam, alle ihre Strahlen liefen genau zur Mutter, als wenn das Licht vom Himmel nur für sie herunterkommen wollte. Wenn es Engel auf Erden gibt, so war Mutter einer von ihnen. Sie war das Licht und die Zärtlichkeit in unserem Hause. Sie war unser Glück! Wir fanden sie alle sehr schön, trotzdem sie als die Frau des chassidischen Rabbiners ihre blonden Haare geopfert hatte um vorschriftsgemäß eine Perücke und ein Kopftuch zu tragen. Ja, dies alles um die Liebe nicht mit äußerlicher Schönheit anzureizen.

    Liebe ist ein Gottesgeschenk, sagte Vater. So saß Mutter in ihrem schwarzen Kleid im hellen Licht vor der Tür und stopfte unsere schon oft gestopften Strümpfe. Wie konnte ich ihr nur sagen, dass ich Hunger hätte? Früh die aufregende Schule und dann bis spät in der Nacht neben dem Vater den Talmud studieren, das höhlt den Magen aus und er war es auch, der mich zur Mutter führte.

    Mamme, gibt es heute Mittagessen? Mutter lächelte.

    Närrchen, warte bis zum Abend, da hast du noch mehr von den heiligen Geboten gelernt und dann hast du die Mahlzeit wirklich verdient! Da wird dir aber alles sehr gut schmecken. Eine Mahlzeit am Tag ist eine ökonomische Formel, die Mutter oft anwenden musste. Aber Mamme konnte über diese Dinge scherzen, so, als wenn sie leicht und unwichtig wären.

    Und wenn Vater sie aus seinem ehrenvollen Bart mal fragte: Channe Fegele, was bekommen wir heute? antwortete Mamme: Diesmal gibt es etwas ganz Feines, nämlich frische, kleine Zwiebeln mit Brot!

    Und Vater sagte dann: Gott sei’s gedankt! Und zum Abend?

    Das wird eine Überraschung, ihr bekommt sogar frisches Brot mit gerösteten Zwiebeln dazu.

    Hast du vielleicht noch etwas versteckt?

    Ja, ihr bekommt auch eine Tasse Tee! Aber manchmal gab es sogar ein Glas Milch. Erst wenn kein Brot und keine Zwiebeln mehr im Hause waren, wurden Mutters Augen wie ein Himmel, den dunkle Wolken verstecken wollen, und dann sagte sie: Heute müssen wir Zufriedenheit essen.

    Aber unsere Gesundheit war ausgezeichnet gut. Und wenn unsere Mahlzeiten auch sehr einfach waren, wir empfingen sie von des Schöpfers Hand. Vater saß würdevoll und ruhig am Tisch mit seinem schönen Bart, er brach das Brot, wir machten zusammen die vorgeschriebenen Segenssprüche und dankten Gott für seine Güte.

    So war unser Leben und ich glaubte auch lange Zeit, dass Jude sein hieß Hunger haben.

    Der Sonnenschein

    Trotz Vaters Abwesenheit hatte ich mich in die Lamentationen des Propheten Jeremias so vertieft, dass alle Unglücke in meine eigene Seele flossen. Ich fühlte mich: zerbrochen, verlassen, überwältigt von den Ungerechtigkeiten der Welt und auch denen meines eigenen Schicksals, es wollte mein Herz schier zerbrechen, ich musste wirklich aus diesen Leiden herauskommen.

    Und draußen im Hof lockte die Sonne! War ich nicht ein Kind? Die Lust zu spielen überfiel mich. Der Ball meiner Schwester Karoline rief auch und er schürte meine Hoffnung, im Hofe vielleicht ihre hübsche Freundin Myriam zu finden, für welche ich zarte Gefühle hegte, und dann könnten wir ja zusammen mit dem Ball an der Synagogenwand spielen. Begeistert rannte ich hinaus. Leider war nur Karoline dort, was mich sehr ernüchterte. Sie trug eine große, dicke Katze in den Armen.

    David, schau, welch ein schönes Fell sie hat! Träumerisch bemerkte sie: Welch gutes Fleisch das ...

    Karoline war drei Jahre älter und für alle Hausangelegenheiten folgte ich ihren Anweisungen. Sie sagte: Geh, David! Vater ist nicht da! Hol das rituelle Messer! Du wirst den richtigen Segen sagen und wir werden die Katze schlachten! Überlege gut, wir werden Fleisch zum Sabbat haben! Ich war ganz verwirrt von dieser Idee. Um Zeit zu gewinnen, glitten meine Hände an meinem Päis herunter, so wie ein ehrwürdiger Rabbiner seinen Bart streicht.

    Karoline, in der Thora steht nichts darüber, dass wir Katzenfleisch essen dürfen, auch nicht, dass eine Katze wiederkäut oder gespaltene Füße hätte wie eine Kuh. Dann dürfte man sie vielleicht essen, aber die Katzen fressen ja Mäuse und da bin ich ganz sicher, dass wir Juden keine Mäuse essen dürfen!

    Karolines Redeschwall floss aber, von ihrer Idee begeistert, immer weiter und so intensiv auf mich los, dass ich im Begriff war, das rituelle Messer zu holen, denn die Bilder einer guten Fleischsuppe tauchten in mir auf.

    Wäre Vater nicht gekommen ...

    In dieser Zeit tadelte er mich noch sanft: Ein zukünftiger Talmudist wie du, der die heiligen Schriften studiert, dich mit einem Ball in der Hand zu finden! David, wer Gott dient, darf sich nicht dem Spiele hingeben! Stolz aufgerichtet schritt ich an Karoline vorbei, der die Katze entlaufen war. Nie wieder haben meine Hände einen Ball gesucht: Wer Gott dient, darf sich nicht dem Spiele hingeben!

    Doch der kleine David schaute manchmal sehnsüchtig zum Sonnenschein hinaus, der auf der Wand der Synagoge mit den Schatten der Baumblätter wie mit vielen kleinen Bällen spielte. Ob Myriam wohl auch draußen war?

    Aber wenn ich jetzt andere Kinder mit einem Ball in der Hand sah, ging ich hochnäsig an ihnen vorbei und dachte: Wie könnt ihr euch mit mir vergleichen!

    Hoffnung und Verantwortung

    Als ich von finsteren Tagen noch nichts wusste, das war in Kurtakeszi. Finstere Tage waren es nicht, wenn man nichts aß oder wenn man nicht wusste, wo man schlafen konnte. Meine finsteren Tage waren, wenn Vater mich schlug. Darum ist Kurtakeszi mein lichtiges Dörfchen.

    Damals neben Vater sitzend, habe ich die Basis meines Wissens erarbeitet in wirklicher Liebe des Lernens; so leben in mir die Thora, die Rachi-Kommentare, die Mischna und manches mehr. Ich war selig, dies alles zu meinem Eigen zu machen.

    Nun erlaubte Vater mir, an jedem Sonnabendnachmittag den jüdischen Dorfkindern aus der Thora vorzulesen. Wir waren alle sehr vertieft, sie lauschten mir und wir erlebten zusammen, was die heiligen Worte uns sagen wollten. Vater hörte mit zu und verbesserte mich von Zeit zu Zeit. Er ging dabei auf und ab und hatte für jedes Kind ein aufmunterndes Wort. Manchmal gab es sogar einen Apfel, in Stücke geteilt, damit es für alle reichen sollte.

    Wir Kinder fühlten in uns gute Kräfte erwachen. Was waren das für lichtige Stunden! In dieser glücklichen Epoche gab es eines Tages ein denkwürdiges Ereignis: Ein reicher jüdischer Herr kam aus einer fernen Stadt, nur um Vaters Gottesdienst zu hören; seine große Familie begleitete ihn und unser Synagögchen war buchstäblich überfüllt. Vaters Rede begeisterte diesen Herrn, ich konnte es gut bemerken. Verzeihung, ich habe aber mehr diesen Herrn als Vaters Rede bewundert, seinen herrlichen Gebetsschal, den er wie ein frommer Jude über den Kopf legte, um die Welt draußen zu vergessen. Doch sein Gesicht mit dem fein zurechtgeschnittenen Bart war gar nicht vorschriftsgemäß (und mir kam es so vor, als ob seine Gedanken noch immer in der Welt draußen geblieben waren). Und dann – durfte ein Jude überhaupt reich sein?! Aber dieser Herr sah trotzdem sehr klug aus und schien viel nachzudenken. Über was wohl? Seine so schön angezogenen Kinder kamen auch aus dieser Welt, die ich nicht kannte, und der große Hut seiner Frau schien mir gewiss nicht gottgefällig zu sein.

    Als alles vorbei war und wir aus der Synagoge herausgingen, da stellte Vater mich dem Herrn vor: Mein kleiner Sohn David, er studiert schon fleißig. Von dem Herrn freundlich befragt, antwortete der kleine David prompt auf alle Fragen und legte manche Kommentare stolz dazu.

    Der kluge Herr schien alles gut zu verstehen und zeigte, wie erstaunt er über meine Antworten war. Das gab mir Mut und ich erlaubte mir zu fragen, ob seine Kinder zu meinem Thora-Vorlesen am Nachmittag kommen könnten. Und wirklich, sie kamen! Und der Herr selbst kam auch.

    Wie war ich glücklich, auch meine Vortragskunst zu beweisen! Hingerissen vom Eifer wollte ich, dass alle Kinder mit mir zusammen von diesen heiligen Worten belebt sein sollten, sie sollten zittern und aufatmen und die Worte nicht mehr vergessen. Ich fand selbst, dass ich etwas übertrieb, doch glücklicherweise war Vater da und seine Anwesenheit beruhigte mich. Zum Schluss gelang es mir, die Zemirot, die ich von Vater gehört hatte, mit ihnen allen zusammen zu singen.

    Als alles beendet war, rief mich der Herr zu sich:

    David, wie alt bist du?

    Ich habe soeben mein sechstes Lebensjahr begonnen. Ein sehr zweifelnder Blick ging zu Vater. Vater aber bestätigte meine Worte. Der Herr nickte mehrmals mit dem Kopf und schaute mich ernsthaft an. Darauf legte er ruhig und fest eine Weile seine Hand auf meine Schulter. Danach verabschiedete er sich von Vater.

    Mir war, als ob diese Familie meine Gedanken mit in ihre Welt genommen hätte. Vater musste mir beim Studium sagen:

    David, pass auf! Deine Gedanken sind nicht bei der Sache!

    Einige Zeit darauf kam der Postbote mit einem eingeschriebenen Paket: Wohnt hier ein David Tulman?

    Mutter eilte zu Vater.

    Nein, nein, nicht Sie, Herr Rabbiner, ein David Tulman. Ich musste selbst unter Vaters Aufsicht unterschreiben, natürlich auf hebräisch.

    Der Postbote murmelte: Wer kann denn das lesen?, und ich sagte ihm: Ich!

    Das erste Paket meines Lebens. Es war mir erlaubt, es selbst zu öffnen, was gar nicht leicht war. Meine Schwestern standen dabei, und auch Mutter lächelte froh dazu. Es kam endlich ein superber, dunkelblauer Matrosenanzug mit langer Hose und großem Kragen heraus, ganz so, wie es damals Mode war. Und dann kam sehr viel Papier und immer noch und noch weißes Seidenpapier, aber endlich, ganz tief in der Mitte, sehr beschützt lag etwas ... es war eine kleine Thora! Eine wirkliche Thora-Rolle auf Pergament geschrieben, eine wahrhaftige heilige, handgeschriebene Thora für mich.

    Zitternd rief ich Vater: Papa, Papa, schau – eine wirkliche Thora!

    Seine Augen wurden ernst, dann sah ich aber, wie er lächelte und sagte: David, küsse sie!

    Nie wieder habe ich um Essen gefragt, aber um die Erlaubnis, die Thora in meinen Armen tragen zu dürfen, sie dicht gegen mein Herz zu drücken, das dann vor Freude tanzte. Es war wie ein Traum.

    Für Vater wie für mich war Kurtakeszi das Dörfchen der Hoffnungen! Vater hoffte, in mir einen reinen, frommen Rabbiner für Gott zu erziehen. Ich habe es ihm mit meinem Wandel nicht leicht gemacht! Doch Vater hat mich sehr geliebt und mein späteres Suchen zutiefst verstanden.

    Doch jetzt geschah es, dass meine Schwestern, nachdem ich aus meiner eigenen Thora vorgelesen hatte, mich in freudiger Bewunderung und Liebe umarmten und küssten.

    Da ertönte Vaters laute Stimme: Was soll das, diese Kindereien! David hat jetzt seine eigene Thora, es ist ihm nicht mehr erlaubt, sich mit Mädchen herumzuküssen!

    Da fiel die ganze Verantwortung, eine Thora zu behüten, auf meine jungen Schultern und bis in meine Seele hinein. Ich fühlte den festen Druck, als die Hand des reichen Herrn sich auf meine Schulter gelegt hatte.

    Du sollst deine Thora in Ehren als das Heiligste bewahren, schien diese Hand gesagt zu haben. Aber diese Hand hatte auch Vertrauen zu mir gehabt.

    Bis zu Mutters Todestag haben wir Geschwister uns nicht mehr umarmt und geküsst. Die unschuldige Wärme der Kindheit und dann auch der Kontakt auf unseren Lebenswegen gingen so früh verloren.

    Ein großer Ernst war in meine Seele eingezogen: Die Verantwortung für die Thora.

    Die Herbstmanöver

    Ein Sommer voller Honigduft war vorbei, als die Herbstmanöver der österreichisch-ungarischen Armee das Leben unseres Dörfchens völlig durcheinander brachten.

    Am Morgen wurde ich wach vom Lärm der Pferdehufe, dann klirrten unsere Fensterscheiben, das kam vom Vorbeifahren der schweren Artillerie, damals schon moderne Waffengattungen.

    War es Angst oder Neugier? Ich fühlte mich zur Türschwelle hingerissen. Aber dann sah ich, wie Groß und Klein, Alt und Jung dem Militär nachliefen, die Kinder mit roten Gesichtern, die Frauen ließen ihre Röcke gefährlich hoch um die Taille tanzen, die Männer wollten glauben machen, dass sie etwas verstünden und brüsteten sich damit, ... und ich, ich schaute sie lange an und dachte mir: Ein Gottesmensch rennt niemandem nach! und meine Würde wuchs, wenn auch meine Füße eine ganz andere Meinung hatten.

    Vater saß ruhig an seinem Studiertisch, wie immer in die großen Bücher vertieft. Da kam glücklicherweise seine Stimme zu mir: David, das ist für Gassenjungen, die laufen dem Militär nach. Bleib brav zu Hause, komm setz dich zu mir! Wir werden den Auszug der Söhne Israels aus Ägypten zusammen lesen. Unser jüdisches Leben ist in den heiligen Schriften! Unser Gott will es so.

    Und wir lasen: Als das Volk Israel von seinem Sklavenlos durch Moses befreit, in die Wüste wanderte und endlich das Rote Meer erreichte, da stand es plötzlich verzweifelt am Ufer, denn es gab keinen Weg durch das Wasser und das Heer des Pharao kam herangeritten, um alle zu vernichten. Da schrie das Volk zu Moses und zu Gott: Was hast du uns angetan? Warum hast du uns aus Ägypten geführt? Ist es nicht besser, zu dienen als in der Wüste zu sterben?

    Vater erklärte mir: Die Israeliten hatten damals ihr Sklavenlos noch nicht abgeschüttelt, und darum mussten sie dann vierzig Jahre durch die Wüste wandern, damit ihre Gedanken wirklich die Gedanken freier Menschen wurden.

    Moses aber sprach: Der Allmächtige wird für euch streiten! Und so war es! Er spaltete das Rote Meer, um dem Volk Israel Durchlass zu gewähren! In Seinem Zorn aber ertränkte Gott in den sich schließenden Fluten die stolze Armee des Pharao.

    David, durch den Willen und die Taten des Allmächtigen bekamen wir unsere Freiheit und bekommen wir unsere Kraft und wir geben Ihm unsere Liebe. Glaubst du, dass dieses Militär hier für uns streiten würde? Ihre Trompeten schallen nicht zur Befreiung unseres Landes! Nein, nein ... bleib bei mir und vertiefe dich in Gottes Wort, so wirst du stark werden, David, um einstmals für unser Volk zu kämpfen, um dich gegen die Ungerechtigkeiten der Menschen zu erheben.

    Mit meinen sechs Jahren sah ich noch einen langen Weg der Kräftigung vor mir liegen und ich fühlte, neben Vater war mein Platz!

    Am Abend kam Rachel gelaufen, ganz aufgeregt und verzweifelt. "Frau Tulman, Frau Rabbiner, die Offiziere sind alle in unserer Herberge! Es ist kein Platz mehr frei. Wir müssen sie gut bedienen, verstehen Sie? Die Arbeit wächst mir über den Kopf. Bitte, bitte Frau Rabbiner, helfen Sie mir beim Bedienen. Die Offiziere werden sich anständig benehmen. Frau Tulman, Sie riskieren nichts. Wir werden Sie auch gut bezahlen!

    In den Bewegungen von Mutters Händen fühlte ich all ihre Bedenken. Mutter antwortete ruhig: Glauben Sie, es wäre mein Platz?

    Frau Rabbiner, Ihre Kinder gehen mit abgetragenen Kleidern und laufen barfuß. Sie sind eine respektvolle Frau, niemand wird Ihnen nahe kommen! Ist es eine Sünde, seinem Nächsten zu helfen? Wir sind doch Nachbarn. Meine Barfüße betrachtend, fand ich sie wirklich nicht sehr würdevoll.

    Ich werde meinen Mann fragen.

    Schau Elie, unsere Kinder haben keine Schuhe mehr, David hat kein warmes Höschen, der Winter wird kommen! Karoline und Frieda sind die einzigen Mädchen im Dorf, die keine Ohrringe haben, und sie sind die Kinder des Rabbiners. Nicht einmal zu Ehren des Sabbats haben wir ein Stückchen Fleisch, geschweige denn ein Glas Wein auf dem Tisch. Wenn ich einer jüdischen Frau helfe, was kann es dich stören?

    Wie ein Ungewitter grollte die Stimme Vaters: Du willst, dass ich meine Frau in der Schenke diese Krieger bedienen lasse? Diese Männer, die nichts anderes wissen, als ihre Säbel zu meistern? Meine Frau? Ich, der Rabbiner, der Sohn, der Enkel und der Urenkel ... Vater schien seinen Stammbaum bis zu Moses aufzuzählen.

    Ich war durchwühlt von Angst und Ehrfurcht. Es schien, als hielte Moses selbst Gericht.

    Mamme aber antwortete darauf mit fester Gelassenheit: Wenn Gott dich mit so vielen würdigen Ahnen beschenkt hat, sei es bedankt, doch können sie eine Weise finden, um uns aus dieser Armseligkeit zu führen? Lass mir die Sorge, unsere Kinder zu kleiden.

    Mit ruhigen Schritten verließ sie das Haus. Mutters Mut bewundernd dachte ich, sie brauche jetzt den Schutz ihres Sohnes zwischen all diesen Männern mit großen Säbeln! Ich eilte ihr nach.

    David, geh heim! Dein Platz ist neben deinem Vater.

    Nein, Mamme! Ich bleibe bei dir, ich werde dich vor all diesen bösen Männern beschützen!

    Wie kann ich nur beschreiben, was ich sah, als die Tür des Wirtshauses sich öffnete: Viele, viele Kerzen flackerten. An langen, weiß gedeckten Tischen, gehüllt in Tabakrauch, saßen lauter Könige. Sie hatten goldene Kordeln auf ihrer Brust, goldene Knöpfe, Epauletten und Hosennähte. Für mich sahen sie alle wie Kaiser Franz-Josef aus, von dem ein Bild an der Wand hing. Viele trugen wie er stolze Schnurrbärte, bei denen man die Spitzen sogar zwischen Daumen und Zeigefinger rollen konnte. Sie waren beängstigend schön! Es roch um sie herum nach Leder, nach Pferden und nach Wein.

    Meine Courage schmolz. Ich rutschte hinter Mutters Rockfalten, um unbemerkt mit ihr in die Küche zu gelangen. Mein Versteck war nicht gut; zwei große Arme eines Riesen streckten sich aus und erwischten mich bei meinem Päis.

    Kuckt mal, was ich da erwischt habe, ein kleiner Jud! Er hob mich hoch in die Luft, dass alle mich sahen und lachte dazu.

    In deinen langen Locken wird es aber vor Läusen wimmeln!

    Ich war entsetzt und hilflos, das Weinen wollte mir kommen, aber ich schrie empört mit meiner kräftigen Stimme von der Höhe herunter: Meine Päis sind ein Gottesgesetz! In Gottes Gesetzen gibt es keine Läuse! Aber ihr, die ihr alle ausseht wie Könige, ihr werdet sicher welche unter euren Käppis haben! So, ich hatte meine Meinung gesagt. Sie fingen alle laut an zu lachen, es schallte wie eine Flut durch den Saal. Der König dieser Könige hob seine Hand und es wurde still.

    Komm mal her, kleiner Jud!

    – Und ich wurde vor ihm auf den Tisch gestellt.

    Du hast aber Courage! Bravo! Hier hast du meinen Kopf, für jede Laus, die du findest, bekommst du eine Silberkrone!

    Amüsiert trugen einige Offiziere noch mehr Kerzen herbei, um diese Szene genau zu beleuchten, und der König dieser Könige beugte sein Haupt vor mir. Den Schrecken und die Angst, die ich da bekam, kann ich gar nicht beschreiben.

    Ich kann nichts finden, ich habe nie eine Laus gesehen!

    Die Augen des Königs schauten mich listig an. Sie schienen zu sagen: Meinst du, dass ein verlauster Jude sie nicht kennt?

    Aber seine Worte klangen anders: Wenn du mal Soldat bist, wirst du sie kennenlernen. Los, such’ gut!

    Meine Hände gingen wirklich auf seinem Kopf suchen und am Rande seiner beginnenden Glatze fand ich eine Schuppe.

    Na, da hast du schon etwas gefunden.

    Es gibt noch mehr davon. Wieder hallte das Lachen laut. Aber jetzt wuchs mein Eifer.

    Da sagte der König wörtlich: Wenn man dir den Kopf Kaiser Franz-Josephs geben würde, könntest du Baron Rothschild werden. Der Kleine wird mich ruinieren, die Reihe ist an euch meine Herren! Ich wurde von Kopf zu Kopf gereicht, man aß und trank derweil, und ein jeder amüsierte sich mit seiner Entlausung. Sie haben mich vieles gefragt und ich habe mit Courage geantwortet. Ich glaube, es hat mir schon damals nicht an Humor gefehlt. Nur zu essen habe ich nichts angenommen. So erhielt ich jedesmal eine Silberkrone. Wie war es leicht, unter Königen reich zu werden! So bin ich trotz meiner Barfüße über die langen Tische der Könige hingeschritten.

    Das Mahl wurde dann beendet. Meine Augen suchten Mutter. Sie stand jetzt an der Küchenschwelle und hatte natürlich alles beobachtet.

    Ich schrie begeistert zu ihr hinüber: Mamme, jetzt haben wir genügend Geld, um Fleisch zu kaufen. Ich werde nie wieder eine Katze zum Sabbat schlachten wollen!

    Mutter behielt ihr seltsam trauriges Lächeln und verschwand in der Küche. Alle meine Freude stürzte plötzlich in sich zusammen, ich wusste nicht warum. Vielleicht hatte dieses Spiel etwas Erniedrigendes, weil wir Juden waren? Meine Taschen waren gefüllt mit Silbermünzen und ich überlegte ernsthaft, ob ich sie nicht alle zurückgeben sollte? Aber niemand kümmerte sich mehr um mich. Was sich dann begab, weiß ich nicht, aber ich denke, dass in einer Anwandlung von Sentimentalität für den kleinen Jungen, der kein Katzenfleisch mehr am Sabbat essen wollte, Geld gesammelt wurde.

    Der General ließ Mutter rufen.

    Kommen Sie ruhig, Sie brauchen sich nicht zu fürchten!

    Vor Mutters Augen legte er einen kleinen Berg von Goldstücken auf den Tisch. Mutters Lippen zitterten. Sie rührte das Geld nicht an.

    Nehmen Sie! Nehmen Sie ruhig, gute Frau, wir geben es von Herzen. Ihr Sohn hat uns alle großartig amüsiert. Wenn er weiter mit so viel Eifer Läuse auf den Köpfen sucht, wird er einmal ein großer Philosoph oder Bankier werden.

    Sein Lachen schallte wieder durch den Saal.

    Im Offizierskorps waren die Söhne der ungarischen Aristokraten und Großgrundbesitzer, sie kannten keinen Hass gegen Juden; wir waren ihnen nur eine seltsame, fremde Erscheinung. Ihr Benehmen uns gegenüber war freundlich und altruistisch.

    Mutter nahm dann ihr Tüchlein aus der Tasche und legte die Geldstücke hinein. Doch schon hatte sich die Stimmung geändert, man klatschte in die Hände und rief nach Wein und Zigeunermusik. Mamme kam zu mir, nahm fest meine Hand in die ihre, verbeugte sich leicht und wir traten hinaus in die Stille der Nacht.

    Eine Versuchung

    Draußen im Hof, unter dem freien Himmel, entfaltete Mutter ihr Tüchlein und wir schauten fast erschrocken die noch im Dunkel leuchtenden Goldstücke an. Wir zählten zusammen bis zwanzig.

    Dann flüsterte Mutter: Was wird Vater sagen? Was wird Vater dazu sagen? Und sie wiederholte es wieder und wieder.

    "Mamme, meine Tasche

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