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Aprikosenzeit, dunkel: Roman
Aprikosenzeit, dunkel: Roman
Aprikosenzeit, dunkel: Roman
eBook369 Seiten5 Stunden

Aprikosenzeit, dunkel: Roman

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Über dieses E-Book

Karine Hansen ist Deutsch-Armenierin, aufgewachsen in einer Familie, in der die armenische Tradition liebevoll gelebt wird. Während des Studiums lernt sie Frederick Behrens kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Seine konservative Art und seine Selbstsicherheit ziehen sie an. Doch als Frederick während eines Familienessens nicht für Karine einsteht, als der Genozid an den Armenier*innen geleugnet wird, kommt es zum Bruch. Die fehlende Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsrassismus, der ihr immer wieder begegnet, eine gewisse Orientierungslosigkeit nach dem Studium und ein Gespräch mit ihrer armenischen Großmutter, sind Auslöser für Karines Entscheidung kurzerhand nach Armenien zu ziehen und einen Job bei einer kleinen NGO anzunehmen.

Sie findet sich in einem ihr völlig fremden Land wieder, das postsowjetisch, korrupt und patriarchalisch geprägt ist. In ihrer NGO-Kollegin Gohar Manoukian findet Karine eine Seelenverwandte. Durch ihre Freundschaft wird Karine politisiert und hineingezogen in die »Junge Bewegung« gegen Korruption. Doch dann wird die Bewegung von einem mächtigen Oligarchen bedroht …

»Aprikosenzeit, dunkel« bietet einen wichtigen Einblick in die armenische Geschichte, die vom Genozid und dessen Verleugnung in der Türkei geprägt ist, und nimmt uns mit in ein von der Geschichte gebeuteltes und korruptes Land, dem die Jugend davonläuft. Nur wenige setzen sich gegen die Umstände zur Wehr und zahlen dafür einen hohen Preis.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Sept. 2023
ISBN9783949545429
Aprikosenzeit, dunkel: Roman
Autor

Corinna Kulenkamp

Corinna Kulenkamp, 1987 in Düsseldorf geboren, wuchs zweisprachig als Tochter einer Armenierin und eines Deutschen in der Pfalz auf. Sie studierte in München und Harvard Politikwissenschaft und Völkerrecht und wurde anschließend in München zur Dr. phil. promoviert. Sie erhielt zahlreiche Stipendien. Aprikosenzeit, dunkel ist ihr Romandebüt. Sie lebt und arbeitet in München.

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    Buchvorschau

    Aprikosenzeit, dunkel - Corinna Kulenkamp

    Erinnerungen an die Wüste

    Wer glaubt, der Preis eines Menschenlebens sei nicht zu beziffern, sein Wert nicht messbar und schon gar nicht gegen ein anderes Gut aufzuwiegen, der darf sich glücklich schätzen. Ich hatte es anders erfahren, doch das begriff ich erst, als ich älter wurde und meine Erinnerungen wiederkehrten. Erinnerungen an die dunkelste Zeit nicht nur meines Lebens, sondern meines Volkes, das, wäre der Plan aufgegangen, völlig in das Reich des Vergessens gerutscht und in der Finsternis verschüttet worden wäre. Diese Erinnerung, die mein kindliches Gehirn damals schnell verschwimmen ließ und für eine Weile vollständig unterdrückte, schmerzt. Sie schmerzt nicht wie eine Wunde, die nach und nach verheilt und eine blasse Narbe hinterlässt. Sie schmerzt nicht wie die Liebe, wenn sie einen verletzt und allein mit ihren Spuren zurücklässt. Diese Erinnerung äußert sich noch heute, ein ganzes Leben danach, in einem unerträglichen körperlichen Schmerz. Ein Stechen in der Brust, Atemnot und ein Taubheitsgefühl in meinen Füßen, das hinaufkriecht bis zu den Knien, wann immer sie mich überkommt. Dann bin ich wieder Kind. Ein bisschen Mensch, ein bisschen Vieh, das auch. Aber vor allem: Kind. Daher kann und will ich nicht loslassen. Trotz des grenzenlosen Leids war es die schönste Zeit meines Lebens. Es war die Zeit, in der ich meine Eltern noch hatte. Die Zeit, in der mich Mama an der Hand hielt, wenn ich nicht mehr konnte. Die Zeit, in der mich Baba hochhob, wenn ich zu wanken drohte. Und die Zeit, in der das glucksende Lachen meiner Brüder so präsent war, wenn wir Verstecken und Fangen spielten unten am Fluss, am Rande der Berge Kilikiens. Bis Mama uns zum Essen rief. Bevor sich ein Nebel über all das legte. Damals hatte ich meine drei Brüder. Vatsché, Krikor und Mika. Ich denke jeden Tag an sie. Wir waren vier. Heute bin ich eine. Ich heiße Anusch.

    Tage und Nächte waren wir unterwegs, zu Fuß in der sengenden Hitze des Sommers 1915, in einem Meer aus Staub, festgetretenem Sand, Steinchen und kleineren Felsvorsprüngen. Getrieben von den jungtürkischen Militärs auf ihren Pferden, hinter ihnen die schnaufenden, mit Brot, Käse und Tomaten bepackten Esel, die auch das Wasser für die Offiziere und ihre kurdischen Schergen trugen. Man hätte sie eigens zu diesem Zwecke aus den Gefängnissen entlassen, flüsterten die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand, aber ich hörte es doch. Die Erfahrung beispielloser Brutalität sei ihre Qualifikation, sagte Baba leise zu Mama. Großmutter schnaufte und legte den Finger an die Lippen. Sie setzte weiter einen Fuß vor den anderen, langsam und vorsichtig, um nicht zu straucheln. Baba hatte recht. Ohne dieses Menschenrohe hätte niemand, gleich welcher Abstammung, handeln können, wie diese Männer es taten. Ihr Hunger nach Freiheit, ihre Gier nach Macht kostete uns alles, vielleicht sogar das letzte bisschen Würde in dieser Hölle. Ihrer Sache sicher ritten sie mit ihren Bajonetten, Pistolen und Schlagstöcken neben uns her, trieben uns an. Dabei unterhielten sie sich und lachten sogar miteinander. Wir gingen zu Fuß. Tagein, tagaus. Ohne Brot, ohne Milch, ohne Wasser. Zu Hunderttausenden, ein Volk in der Wüste. Der Einzige, der noch Milch bekam, war mein kleiner Bruder Mika. Mama stillte ihn, solange sie konnte. Irgendwann wurde sein Weinen unerträglich, und er verstummte. Nie werde ich Mamas schmerzverzerrtes Gesicht vergessen. Ein stummer Schrei, ein lautloses Weinen, Baba, der sie an der Hand nahm und ihr leise zuredete, dass Mika zumindest erlöst worden und geliebt gestorben sei. Jetzt sei er bei Gott. Wir aber hätten die Pflicht, weiterzugehen. Mama trug Mika auf dem Arm, konnte ihn nicht zurücklassen. Woher sie die Kraft nahm, wusste nur sie. Rechts hielt sie seinen leblosen Körper, der mit seinem kleinen Köpfchen und seinem seidigen Haar in ihrer Armbeuge nun wieder friedlich zu ruhen schien. Mit ihrer linken Hand hielt sie die meine fest. Wir gingen. Wir gingen und gingen und wir gingen immer weiter. Einen Fuß vor den anderen. Den heißen Sand zwischen den Zehen, Steine. Später spürte ich nichts mehr.

    1

    Es war eine trockene Hitze. Sonnenstrahlen brannten auf ihrer Haut. Karine fuhr mit den Augen den Umriss ihres Schattens entlang, der sich in den Gräsern der Baustelle zu ihrer Linken verlor. Sie saß auf den Stufen der Kaskade mit Blick über die Stadt. Über das Opernhaus und das Wasserbecken davor, das man liebevoll den Schwanensee nannte. Fremden wie ihr erklärten Einheimische stets:

    »Zu Sowjetzeiten war der Schwanensee wirklich noch ein Schwanensee. Heute ist er leer. Es ist schwer geworden.«

    Hinter der Oper lockten die vielen Cafés, wo zu kunstvollen Bergen aufgetürmte Früchte serviert und zu den Getränken Shishas gereicht wurden, während sich schmale Frauen mit langen dunklen Haaren und auf dünnen Stiften staksend unter den Sonnenschirmen niederließen und die Männer mit ihren Leinenhemden, zwei, drei Knöpfe geöffnet, damit der laue Wind durch das Brusthaar streichen konnte, großzügig Nachschub bestellten.

    »Wer geht da schon hin«, sagte Anahit, Karines Vermieterin, bei der sie fürs Erste in einem winzigen Zimmer untergekommen war. »Wir können uns das nicht leisten. Die Russen und die Exilarmenier aus Amerika oder aus Frankreich, die sitzen dort und erfreuen sich an alldem.« Dabei rieb sie Zeigefinger und Daumenkuppe aneinander: »Geld, alles nur für Geld. In den Sommermonaten erfüllen sie die Straßen mit Leben, aber sobald sie weg sind, schließen die Cafés. Und wir? Wir können hier nur flanieren, auf und ab, und uns von außen laben an dem, was sie Freiheit nennen.« Anahit kniff die Nasenflügel zusammen und atmete hörbar aus.

    »Aber allein die Möglichkeit …«, setzte Karine an, als Anahit sie unterbrach.

    »Früher gab es solche Cafés hier nicht, das stimmt. Doch was soll das für eine Freiheit sein, in der es alles gibt, wir aber trotzdem nichts davon bekommen.«

    Karine wunderte sich, dass Anahit Freiheit ausschließlich für etwas Materielles hielt. Freiheit war so viel mehr. Es war die Möglichkeit, Dinge zu tun. Oder sie nicht zu tun, aus eigenen Stücken. Nichts leichter, als Anahit aus dem Stegreif eine Palette überzeugender Argumente zu bieten, die allesamt die fehlenden Schwäne des Sees gegen den Sumpf des untergegangenen Kommunismus aufwiegen würden. Dann sah sie Anahit genauer an und verschluckte ihre Worte. Worte vom Ende der Repression, von den Vorteilen einer funktionstüchtigen Demokratie, Worte, an denen es in diesem Land offenbar nicht mangelte, während es an allem anderen fehlte, und die Anahit gerade darum so leer vorkommen mussten, wenn jemand wie Karine sie aussprach.

    »Und dann, Karine jan, sind da noch die Oligarchen«, fuhr Anahit unbeirrt fort. Wieder rieb sie Zeigefinger und Daumen aneinander. »Sie wirtschaften in ihre eigenen Taschen, sacken das Geld einfach ein. Auch das, das ihnen nicht zusteht. Verstehst du?«

    Anahit beulte die Taschen ihres Rockes demonstrativ aus, zog die Hände dann wieder hervor und ließ sie fallen, als fühlte sie sich ertappt. Sie sah um sich, nahm Karines Arm und hakte sie unter. So gingen sie ein paar Meter. Ihr Gespräch verebbte. Die Fältchen in Anahits Mundwinkeln waren tief. Wie resigniert sie wirkt, auch verbittert, dachte Karine und folgte Anahits Blick zu den freien Besuchern des Landes, die Seite an Seite mit den Oligarchen schwarzen Kaffee tranken. Fremde, wie sie eine war. Anahit schnaubte verächtlich. Dann sah sie auf ihre Armbanduhr, verabschiedete sich und eilte davon. Karine blieb. Erleichtert, den ersten Augenblick seit ihrer Ankunft in Armenien für sich zu haben.

    Hinter diesen Cafés erstreckte sich die graue Stadt, ihre Eintönigkeit nur hier und dort von den wenigen verbliebenen traditionellen tuffstein- und sandfarbenen Gebäuden unterbrochen, die sie abhob von anderen Sowjetgräbern.

    Erst durch den Blick in die Ferne erhielt sie ihr wahres Gesicht. Über den Dächern schwebte am Horizont der Ararat, dessen schneebedeckte Gipfel über die türkische Landesgrenze hinweg zum Himmel der Armenier schrien: Seht her, vergesst nur nicht. Klar erhob seine Silhouette in den Wintermonaten die Stimmen der Vergangenheit. Sie schallten nach Jerewan hinein. Im Frühsommer, wenn die Sonne immer heißer auf die Stadt hinunterstrahlte, wurde das Bild verschwommener und diesiger, bis es in den unerbittlich brennenden Monaten der Aprikosenzeit hinter dem Dunst vollends verschwand. Es hatte etwas Unwirkliches, dass sie hier stand, den Ararat vor Augen, der ihr sonst bei jedem Besuch im Haus ihrer Großeltern von einem verblichenen Kunstdruck entgegensah, gefasst von einem schmalen Goldrahmen, der an der Wand hing und sich bei jedem Luftzug, der durch das Öffnen und Schließen der Tür entstand, unmerklich verschob, bis er irgendwann schief hing und Großvater ihn mit einer sanften, fast andächtigen Bewegung wieder gerade rückte.

    »Ist doch nur ein Berg«, hatte Karine als Siebenjährige gesagt und war sich weise vorgekommen.

    Großvater blickte Großmutter an, die schloss die Augenlider einen Moment länger als sonst, und Großvater strich Karine über das Haar. Niemand kommentierte ihre Worte, doch Karine spürte, dass sie töricht gewesen sein mussten. Jäh stieg die Scham von damals aus der Magengrube empor und breitete sich in ihrem Oberkörper aus. Sie sah Großvaters schwielige Hände vor sich, seine kräftigen Finger, die sich an dem Bild zu schaffen machten.

    Die Schneespitzen in der Ferne, rechts Masis, der große Bruder, links von ihm Sis, die kleine Spitze. Unerreichbar und doch zentral, und selbst im Dunst, wenn der Himmel seine Gipfel verbarg, war er da, der Berg. Seine Geschichte, seine Mahnung und seine Erinnerung blieben präsent hinter dem Unsichtbaren. Der Berg, der nicht mehr ihnen gehörte, weil Stalin ihn verschenkt hatte aus einer Laune heraus, er stand jetzt auf der anderen Seite der Grenze, war zu einem türkischen Berg geworden, vermeintlich. Und doch gehörte er zu ihnen wie zu niemandem sonst. Mit diesen Gedanken spazierte Karine durch die Stadt.

    Die Regierung tat ein Übriges, die Menschen nicht vergessen zu lassen. Tief unter der Erde, 63 Meter unter dem Platz der Republik, entdeckte es Karine. Ein riesiges Stoffplakat, bestickt mit armenischen Lettern, ausgeleuchtet in dem von Marmorsäulen getragenen Gewölbe der kühlen U-Bahn-Station.

    »Armenier, heiratet Armenier!«

    Männer in Anzügen und mit kleinen Lederaktentaschen unter dem Arm, Offiziere, die mit geradem Rücken und stolzen Schritten die Ordnung wahrten, und vereinzelt Frauen mit ihren Kindern liefen darunter durch, ohne Notiz von dem Banner zu nehmen. Karines Halsschlagader pochte. Eine U-Bahn nach der anderen rauschte in die Station hinein und wieder hinaus, und sie hatte Mühe, deren Endhaltestellen in armenischer Schrift zu entziffern. Einer der Offiziere starrte sie an. Eine olivgrüne Schirmmütze krönte sein schmales Haupt.

    Ob diese U-Bahn Richtung Komitas fahre, fragte Karine.

    Der Offizier hob die Augenbrauen. Sie rief gegen den Lärm eines abfahrenden Zuges an. Der nächtliche Flug hatte sie angestrengt, ebenso wie die anschließende Stadtführung mit Anahit. Sie wollte nach Hause, wo immer das war, ein Bett nur, und schlafen.

    »Nein, nein.« Der Offizier winkte ab und erklärte, wohin sie laufen solle, um dort in ein Sammeltaxi zu steigen. Woher sie komme, wollte er wissen.

    »Aus Deutschland.«

    »Wie ist denn das möglich?«, rief er aus. »Wo Sie doch so ein schönes armenisches Mädchen sind!«

    »Halb-halb«, sagte sie. »Meine Mutter ist Armenierin, mein Vater Deutscher.«

    »Ach, wie schade. So verlieren wir unsere Frauen.« Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Karine runzelte die Stirn.

    »Aber sie hat Ihnen ihre Sprache weitergegeben!« Der Offizier verbarg den Anflug eines Lächelns.

    »Ach was, halb armenisch!« Eine ältere Frau mischte sich ein. »Was soll das schon sein. Entweder armenisch oder nicht. Halb, das gibt es doch gar nicht. Du bist Armenierin, ist doch klar!« Ihr resoluter Bariton hallte über den Bahnsteig. Die Stimme passte nicht zu ihrem gebrechlichen Körper. Weiße Härchen blitzten im grellen U-Bahn-Licht auf ihrer Oberlippe.

    Inzwischen hatte sich eine kleine Menschentraube um Karine und die Frau versammelt.

    »Was ist los?«, wisperte es hinter Karine.

    »Die süße Deutsche spricht Armenisch!«, weihte eine andere Frauenstimme ungeniert ihren Nebenmann ein.

    Die Alte betrachtete Karine mit leuchtenden Augen, reckte die Arme in die Höhe und fuhr ihr mit ihrer faltigen Hand über die Wange. Jäh fasste sie nach Karines dunkelbraunen Haarspitzen.

    »Bist du verheiratet?«

    Karine schüttelte den Kopf und befreite sich mit einem Schritt rückwärts.

    »Oh. Dann wird es aber Zeit. Schau dich nur um hier, wir haben vortreffliche Jungs.«

    Der Offizier räusperte sich und rückte seine Kappe zurecht. Karine beeilte sich, wieder an die frische Luft zu kommen. Sie ärgerte sich im Nachhinein, dass sie nicht schlagfertiger reagiert hatte. Sie ließ die Station hinter sich und ging ein Stück. Ein kaukasischer Schäferhund folgte ihr. Sie hörte sein Hecheln. Hielt den Atem an. Er verschwand hinter einer Tonne. Karine entkrampfte ihre Hände und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen.

    Das Büro der kleinen NGO lag in der viel befahrenen Sayat Nova. Hier sollte Karines zukünftiger Arbeitsplatz sein. Für den sie einiges zurückgelassen hatte. Weilers enttäuschtes Gesicht, als sie ihm mitteilte, dass sie eine Stelle im Ausland angenommen habe. Frederick, der lange versucht hatte, ihr den richtigen Weg zu ebnen, wie er meinte, und der sie in eine Versicherung geführt hätte, in ein klimatisiertes Büro mit Blick über die Baumkronen des Englischen Gartens, fußläufig zu seiner Wohnung und mit einem Einkommen, das diese Bezeichnung auch seiner Ansicht nach verdient hätte. Doch sie stand hier, bereit für ihre Aufgaben bei Civil Development. Karine suchte nach der Hausnummer. Statt des erwarteten Bürogebäudes fand sie ein schäbiges Hotel vor. Drei verblasste Sterne prangten auf dem Flachdach, aufgespießt auf angerostete Metallstäbe, ein vierter ragte bedrohlich von seinem verbogenen Stab hinunter. »Hüranoz« stand in blauen Lettern an der Wand neben der Drehtür. Die dunklen Scheiben verwehrten den Blick ins Innere. Sie ging um das Gebäude herum, konnte aber nirgends einen Hinweis auf die NGO entdecken. Das Grundstück rechts des Baus lag brach. Links neben dem Hotel überquerte Karine die Straße, stand dann auf einem von hohen Gräsern zugewachsenen Gelände, auf dem eine Kapellenruine aus rotem Tuffstein in der aufkommenden Brise stoisch dem Wehen vereinzelter Plastiktüten standhielt. Eine durchhängende Stromleitung verfing sich in einem Maulbeerbaum. Im Schatten seiner Äste wiegte sich ein Mann und blies in ein längliches Holzinstrument. Melancholisch verbanden sich die Töne zu einer merkwürdig vertrauten Melodie. Druck breitete sich in Karines Kehle aus. Sie schluckte. Und blickte in Fredericks Gesicht, das voller Gleichgültigkeit war. Sein Blick starr, bevor er den Kopf abwandte, die Finger auf den Tasten des Klaviers, als bedürften nur die Töne seiner vorsichtigen Hinwendung. Nun war sie hier, er dort. 3.647 Kilometer zwischen ihnen, vor dem Abflug hatte sie es nachgesehen.

    Der Mann schien völlig in sich versunken. Er musizierte, als gäbe es nichts um ihn herum. Seine nackten Füße waren dreckig, die rissigen Sohlen, die er im Takt der weichen Klänge bewegte, beinahe schwarz. Seine knöchernen Hände umklammerten das Instrument, das aussah wie eine Mischung aus Flöte und Schuhlöffel. Ein Duduk. Dessen Klang alles verwob, was Karine hierhergeführt hatte.

    Zum zweiten Mal sah sie auf dem Stadtplan nach. Sayat Nova 19, es stimmte also. Hier müsste das Zentrum für Civil Development sein. Die NGO war ihre erste richtige Arbeitsstelle. Vorbei die Zeit der Studentenschinderei mit Nebenjobs, um sich zur elterlichen Unterstützung ein Zubrot zu verdienen. Doch was, wenn es die NGO nicht mehr gab? Und man ihr einfach nicht Bescheid gegeben hatte? Tigran Hovsepjan hatte ihr den Job via Skype angeboten, gleich im Anschluss an das Bewerbungsgespräch, das sie teils auf Armenisch, teils auf Englisch geführt hatten, wenn ihr das Fachvokabular auf Armenisch ausgegangen war. Sie in Heimenagg, am Schreibtisch ihres alten Kinderzimmers, nachdem die Wohnung in München schon gekündigt war, er in Jerewan. Das hatte er jedenfalls behauptet.

    »Alles Schriftliche erledigen wir dann, wenn Sie bei uns sind.«

    Er hatte nicht wie einer gewirkt, dem man nicht vertrauen konnte. Track Two Diplomacy sollte ihr Projekt werden. Ob sie Interesse habe? Sie wusste nicht einmal, was das war, und sagte zu. Stand nun hier, schwankend zwischen Zuversicht und Zweifeln.

    Vielleicht hatte Großmutter sie zu Recht gewarnt.

    »Die Ostarmenier sind anders«, hatte sie gesagt, und ihr weiches, fließendes Kinn mit einem wehklagenden Seufzer Richtung Brust fallen lassen. Dazu hatte sie die Lider gesenkt, wie sie es immer tat, wenn ihr ein Thema zu Herzen ging.

    »Ach, Medzig«, hatte Karine das Gespräch abgewehrt.

    In ihrer Tasche vibrierte das Handy. Es war ihre Mutter. Ob Karine gut angekommen sei, sie hätte sich schon Sorgen gemacht.

    Karine erzählte von ihrer Begegnung an der U-Bahn-Station. Die Mutter stellte das Telefon auf laut. Karine hörte Jacob im Hintergrund lachen. Die ganze Familie war beisammen, sie sah die drei vor sich im hellen Wohnzimmer ihres Elternhauses, während sie auf diesem verwilderten Grundstück stand. Passanten zogen auf der Straße an ihr vorbei, achtlos ließen sie den Klang des Duduks und seinen Spieler hinter sich.

    Notfalls würde sie sich dazustellen und singen müssen, wenn ihr Büro nicht rechtzeitig zu Arbeitsbeginn auftauchte, neckte sie Jacob.

    Ihr Vater fand das wenig amüsant. Er mache sich Sorgen. Dafür also habe Karine Angebote in Deutschland abgelehnt. Nicht dass sie sich den Berufseinstieg verbaut habe. Ob sie nicht Professor Weiler kontaktieren wolle. Eine sichere Stelle an der Uni sei der bessere Weg als dieses Abenteuer. Am besten schreibe sie ihm heute noch eine Mail.

    »Nun mal langsam.« Ihre Mutter beschwichtigte. Sicher würde sich alles aufklären. Die NGO hatte doch einen ordentlichen Eindruck gemacht. In Armenien liefen die Dinge einfach ein wenig anders.

    »Du musst Geduld haben, Karine, viel Geduld.«

    »Ich weiß nicht«, sagte Karine. Sie ließ den Blick über die Plattenbauten auf der anderen Straßenseite gleiten. »Manches geht hier unter die Haut. Das Duduk zum Beispiel. Die Sicht auf den Ararat. Aber so vieles ist auch heruntergekommen.« Sie bemühte sich, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich habe es mir ganz anders vorgestellt, nicht so … sowjetisch.«

    Heiseres Gebell unterbrach ihr Telefonat, wurde lauter. Ein Hund mit struppigem gelbem Fell stürmte auf sie zu. Karine schrie auf.

    Eine rundliche Frau in einem Kittel mit Blumenmuster blieb breitbeinig stehen und stemmte die Hände in die Hüften.

    »Chelok!«, rief sie. »Brav!« Sie stampfte mehrmals auf. Das zurechtgewiesene Tier blieb tatsächlich stehen und starrte die Frau an. Trotz der Hitze trug sie dicke Socken in ihren Pantoletten. »Chelok«, wiederholte sie mit strenger Stimme und erhob ihren Zeigefinger. Der Hund ließ die Ohren hängen und verharrte. Karine atmete auf. Plötzlich musste sie lachen. Der Hund verstand Armenisch. Vorbei war es mit ihrer Geheimsprache. Natürlich wurde sie auch von jedem Passanten verstanden. Glücklicherweise hatte sie während des Telefonats ins Deutsche gewechselt, als Vater dazukam. Es war ungewohnt, dass Wildfremde verstanden, was sie mit ihrer Mutter und Jacob besprach, ohne sich je Gedanken darüber zu machen, ob ihre Worte eher an den heimischen Küchentisch gehörten. Denn wer konnte das schon: verstehen. In Heimenagg? Niemand. In München? Es war noch nie vorgekommen. Und jetzt hörten ihr Wildfremde einfach zu und begriffen mühelos. Genauso, wie sie ihnen ihrerseits dabei zuhörte, wie sie sich auf Armenisch unterhielten. Beinahe unangemessen war das.

    Der Hund sabberte. Weiße Fäden hingen ihm aus dem Maul. Er knurrte. Karine wich zurück. Seine Befehlshaberin starrte ihr ins Gesicht und verscheuchte dann das Tier.

    »Danke! So viele streunende Hunde hier«, sagte Karine.

    »Hm«, brummte die Frau.

    »Ich bin auf der Suche nach dem Zentrum für Civil Development.« Karine nannte ihr die Adresse.

    Die Frau hob die Augenbrauen, gab aber keine Antwort. Auch der Dudukspieler musizierte ungerührt weiter. Karine presste die Lippen zusammen und räusperte sich, um die peinliche Stille zu überspielen.

    Sie ließ die Sayat Nova hinter sich und ging zurück zum Schwanensee. Mit schlechtem Gewissen setzte sie sich in das erstbeste Café und bestellte eine Cola light. Die Loungemusik und die hellen Sofas unter den Schirmen passten nicht zu den Eindrücken, die sie vom Treiben der Stadt gewonnen hatte. Anahit hatte recht. Wie Enklaven waren diese Cafés, als hielten die großen Schirme alles von den Gästen ab, was wirklich vor sich ging.

    2

    Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft begann Anahit Karine auf die Nerven zu gehen. Sie war ganz anders, als Karine sie sich vorgestellt hatte. Ihre Haut war so hell, dass sie als Engländerin hätte durchgehen können, und sie hatte hellbraune Haare mit einem leichten Rotstich. Sie war Ärztin und Kommunistin, und äußerst gastfreundlich. Wenn sie nach ihrem Spätdienst gegen Mitternacht nach Hause kam und Karine im Bett lag, holte Anahit sie trotz eindeutig geschlossener Tür aus ihrem Zimmer, vollführte mit der linken Hand eine einladende Geste und drückte Karine mit der rechten auf einen Stuhl am Esstisch. Auf dem Tisch dufteten Bratkartoffeln und Eier. Kein typisch armenisches Mahl der aufwendigen Art. Doch es war schnell zubereitet und billig. Dazu gab es Nudeln mit Joghurt, weißen Käse, der so salzig war, dass er auf der Zunge brannte, frischen Koriander, aufgeschnittene Tomaten, Gurken und gewrungenen Rahmjoghurt, der Karine an das Lebni von zu Hause erinnerte. Nur war sie bereits satt. Sie war den ganzen Tag durch die Stadt gestreunt, hatte sich auf dem Shuga den Bauch vollgeschlagen und am Abend an dem von ihrem Reiseführer wärmstens empfohlenen georgischen Stand Chatschapuri gegessen und dazu ihre Beobachtungen des Tages in ihr kleines schwarzes Heft notiert.

    Alles ist anders. Zerfallen. Sie starren. Und erwidere ich den Blick, sehen sie weg.

    Jetzt saß sie um Mitternacht wieder an diesem Tisch, im Pyjama mit einer ihr fast fremden Frau, die ihr eine Portion nach der anderen auftat.

    »Iss, jan, iss.«

    Karine dankte und beeilte sich, das Abendessen zu loben. Nach einer weiteren höflichen Portion versicherte sie Anahit, dass sie satt sei. Die ließ es nicht gelten.

    »Das Ei ist von einem armenischen Huhn«, sagte sie und legte nach. »Es schmeckt besonders gut!«

    Sie konnte, das erschloss sich Karine in den folgenden Tagen, keinen Bissen tun, wenn sie als ihr Gast nicht ebenfalls aß. Abend für Abend zwang sie sich also kurz vor Mitternacht zu einem Mahl mit ihrer Vermieterin. Manchmal nahm Anahit Karine mit, wenn sie sich mit einer ihrer Freundinnen zum Flanieren traf, und wenngleich Karine anfangs Mühe hatte, den Gesprächen der beiden zu folgen, lernte sie Anahit durch diese Nachmittage bald besser kennen.

    Anahit war Anfang vierzig, hatte drei erwachsene Kinder, die bereits aus dem Haus waren, und keinen Mann mehr. Der älteste Sohn, Yervant, diente als Soldat in Artsach. Anahit sprach viel von ihm. Von Yervant werde man noch hören, sagte sie. Ein junger Mann, Verstand und Herz am rechten Fleck, und in ihren Augen strahlte die bedingungslose Liebe einer Mutter auf. Karine stimmte höflich zu, ohne Yervant je begegnet zu sein. Der jüngere Sohn war Fußballer. Auch von ihm sprach Anahit mit Stolz. Beide Söhne sahen Karine aus diversen Bilderrahmen von der Anrichte entgegen. Yervant, der Militärsohn, mit rötlichen Haaren wie seine Mutter und durchdringenden Augen. Ein merkwürdiger Anblick, der Karine das nächtliche Mahl im Pyjama noch unerträglicher machte. Von ihrer Tochter sprach Anahit fast nie. Ungerahmt lehnte ein Kinderfoto von ihr am Fensterbrett in der Küche. Karine entdeckte es zufällig, als sie frische Minzblätter am Spülbecken rupfte. Wer das sei, fragte sie Anahit neugierig. Ihre Tochter, Mariam heiße sie. Mehr gäbe es nicht zu sagen, und Anahit, die sonst ausschweifend erzählte, verschloss auf Karines Nachfrage das Gesicht und nahm ihr das Foto aus der Hand. Auch über ihren Mann sprach Anahit kaum. Er war früh an Krebs gestorben. Manchmal sagte Anahits Freundin Talin offen, wie sie Anahit darum beneide. Die entgegnete daraufhin stets, der Preis der Freiheit sei ein hoher, und wurde nicht müde zu betonen, wie sie sich allein durchschlagen musste mit ihrem mickrigen Monatsgehalt. Doch allzu schlimm stand es nicht um Karines Vermieterin. Offenbar bezog sie finanzielle Unterstützung von ihrem Bruder, der es in Russland zu einer Karriere gebracht hatte. Außerdem zahlte Karine Anahit 250 US-Dollar Miete. Das war weit mehr, als ein Durchschnittsbürger im Monat verdiente, fand sie später heraus.

    Karines Zimmer bestand aus einem riesigen durchgelegenen Bett und einem alten Fernseher. Dunkle, vergilbte Blümchentapeten rahmten die Enge. Da sie für ihren überquellenden Koffer keine bessere Ablage fand, schlief Karine nachts Seite an Seite mit ihrem Gepäck und hoffte, dass es durch ihren unruhigen Schlaf nicht rutschen und sie unter seinem Gewicht begraben würde. Sie hatte das Zimmer über fünf Ecken vermittelt bekommen, denn online suchte man vergeblich. Hier kannte jeder jeden. In ihrem Fall hatte die Tochter einer Freundin ihrer Großmutter im Libanon ihre Verbindungen spielen lassen, die wiederum in die armenische Diaspora nach Amerika reichten. Ab hier hatte Karine den Überblick verloren, stand aber wenige Wochen später bei Anahit vor der Tür und wusste nur, dass die eine freie Unterkunft für sie hatte. Das erklärte auch Anahits Bestehen auf der amerikanischen Währung. Wie der Dollar zu ihrem Kommunismus passte, blieb eines ihrer Geheimnisse. Hinzu kam ihr Verdienst als Ärztin, den sie durch ihre gelegentlichen Visiten bei Regierungsmitgliedern und deren Familien aufpolierte. Wie undurchsichtig sie in manchem blieb. Sie kam Karine manchmal vor wie ein Relikt aus der Sowjetzeit. Gleichzeitig nahm sie sich, was ihr gefiel. Ihre Freundin Talin dagegen sorgte sich bei jedem Treffen darum, was die Nachbarn wohl darüber dächten, dass sie schon wieder flanieren ging, statt sich dem Haushalt zu widmen, und ob sie dies ihrem Mann gegenüber erwähnen würden.

    Bei einem dieser Treffen saßen sie unter den Maulbeerbäumen am Platz nicht weit von Anahits Wohnung, sahen den alten Männern zu, die im Schatten der Äste auf niedrigen Hockern in Zweiergruppen saßen, meist mit zu großen und locker sitzenden Hosen, und in der angenehmen Spätnachmittagsluft Backgammon und Schach spielten. Bis auf wenige höfliche Worte dazu, ob es Karine hier gefalle, ja, tat es, behauptete sie jedenfalls, ob sie wirklich keinen Verlobten in Deutschland hätte, nein, habe sie nicht, und sie wusste auch nicht, wie es sich in den wenigen Tagen seit ihrer Ankunft in Armenien plötzlich hätte ändern sollen, sodass ihr die Frage mit jedem Mal sinnloser erschien, und wie ihr die Gurken schmeckten, hervorragend, tatsächlich, ignorierte Talin Karine. Auch Anahit bemühte sich heute weniger, sie in das Gespräch einzubeziehen.

    »Anahit, jan, vergib mir meine Impertinenz, aber ich muss dich fragen: Führst du noch diese kleinen Hilfen durch?«

    Talin beugte sich zu Anahit und sprach leise, doch Karine konnte sie hören und zu ihrem eigenen Erstaunen trotz ihres schnellen ostarmenischen Dialekts immer besser verstehen.

    Anahit hob fragend ihre sorgfältig gebürsteten Augenbrauen.

    »Was meinst du?«

    »Nun, jan, die Hilfen, wie soll ich sagen. Für die jungen Damen«, kam es

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