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Und hieb ihm das rechte Ohr ab: Erzählungen
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Und hieb ihm das rechte Ohr ab: Erzählungen
eBook149 Seiten2 Stunden

Und hieb ihm das rechte Ohr ab: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Clemens Bergers Erzählungen handeln von Leidenschaften. Von der Liebe zu einer französischen Philosophin in Rom etwa, die bald aber nur noch per Brief, E-Mail oder Traum erreichbar ist. Die Titelgeschichte erzählt von Alfred, der in einer Laienaufführung der Passionsspiele den Judas spielen soll. Ohne es zu wollen, wird er von der Figur, in die er schlüpft, völlig absorbiert. Die Fragen, die er sich stellt, um seine Rolle möglichst glaubwürdig auszufüllen, stürzen ihn in immer heftigere Verwirrung. Ist nicht der Verräter im Grunde der verlässlichste Verbündete des Verratenen, weil ohne ihn die ganze Geschichte nicht aufgehen würde? Aber ist er dann überhaupt noch ein Verräter? Alle Zuordnungen entgleiten ihm auf immer umfassendere Weise. In der Erzählung "Schwere Geburt" geht es um eine Künstlerin, die sich aufs Land zurückgezogen hat, weil ihr die zeitgenössische Kunst auf einmal inhaltsleer vorkam und sie im Stil der Alten Meister in Altarbildern Relevantes für die Gegenwart malen will. Aber das bewahrt sie nicht vor Missverständnissen und gar Skandalen. Und auf ganz und gar ungeplante Weise und ohne ihr Zutun führt der Weg zurück ins Museum für Moderne Kunst. Die Liebesgeschichten Bergers sind brüchig, leidenschaftlich, philosophisch und modern.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum14. Aug. 2013
ISBN9783835325203
Und hieb ihm das rechte Ohr ab: Erzählungen

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    Buchvorschau

    Und hieb ihm das rechte Ohr ab - Clemens Berger

    Clemens Berger

    Und hieb ihm

    das rechte Ohr ab

    Erzählungen

    Inhalt

    Eine schwere Geburt

    Just because the sky

    Und hieb ihm das rechte Ohr ab

    So warm im Kopf

    Aufreizendes Geplapper

    Eine schwere Geburt

    1

    »Das wahrste Bild von allen, und das revolutionärste«, sagte Iris am Telefon, »ist noch nicht gemalt worden. Glaub mir, einmal werde ich es malen.« Dann erzählte sie vom Herbst am Eisenberg, vom warmen Grün ringsum, von der Wärme der verschiedenen Grüns, die es im Frühling und Herbst, vor allem aber im Herbst gebe. Von ihren einsamen Spaziergängen erzählte sie, von der unsichtbaren Grenze nach Ungarn, die sie für den Inbegriff der Grenze überhaupt hielt. Da wie dort sehe es gleich aus, da sei nichts, was eine Grenze hätte sinnvoll erscheinen lassen, kein Berg, hinter dem die Landschaft plötzlich verändert wäre, kein Gewässer, das unterschiedliche Ufer trennte, nur Weite, braun, ocker, gelb, von grünen Waldinseln unterbrochen, die je weiter entfernt, desto blauer würden. Die Grenze sei gezogen worden, einmal so, dann wieder so, und immer hätten die einen wie die anderen Gründe gefunden, sich denen jenseits der Atlaslinie überlegen zu fühlen. Von den Buschenschänken erzählte Iris, die wochentags nur von Einheimischen, Bauern, Rentnern und Tratschsüchtigen besucht seien und sich wie selbstverständlich an die Weinhügel anschmiegten, und man könne, wie Iris in einem ihrer seltenen Anrufe erklärte, gar nicht anders, als sich hinzusetzen und ein Achtel Rot zu bestellen, schweres, erdiges Dunkelrot, das den Kopf so angenehm verzaubere, die Gedanken so heiter Ringelreih tanzen lasse. Und beim Trinken, beim Schauen, beim Bildersehen werde sie beobachtet, begafft, besprochen. Wer sie diesen Leuten sei, wollte sie wissen, von mir, der ich die Gegend seit Kindesbeinen kenne, von mir, der sie vor einigen Sommern erstmals dorthin geführt hatte, um Wein zu trinken, auf der Wiese zu liegen und jenes Gefühl auszukosten, das der jäh aufblitzenden Erkenntnis entspringt, allein zu sein auf dieser Welt, und zu zweit in diesem Augenblick, der schön ist und bleiben soll, weil morgen ein anderer Tag ist. »Eine Künstlerin«, sagte ich, »die seltsam spricht, seltsam gekleidet ist, aber auch nur ein Mensch, will heißen, alles, nur nichts Besseres.« Sie seufzte und sagte: »Ich hab es so satt.« Sie musste nicht weitersprechen. Ich wusste, was sie meinte.

    Iris hatte die Kunst satt. Nicht die Kunst überhaupt, sondern die zeitgenössische, die Kunst am Puls der Zeit, der man doch, wie sie heute meint, den eigenen entgegenpochen lassen sollte. Das Abstrakte, die Installationen, die Fotos, die Videos, die Beipackzettel, die Selbstverstümmelungen, kurz, was sie Scharlatanerie nannte, widerte sie an. Der erste Staubsauger im Museum, sagte sie einmal, sei noch interessant, vor allem wenn ein Kübel mit Putzlappen daneben stehe, der zweite öd, der dritte eine Gemeinheit, für die man, sie meine es zwar nicht todernst, aber eigentlich doch, eingesperrt gehöre. Und all das Weiß, all die leeren Flächen, all die Linien und Quadrate und Kreise, all die abgedrückten Hände und abgeschmackten Selbstbespiegelungen, die verborgen zur Schau gestellte Depression – das hatte sie satt. Dabei hatte Iris selbst so begonnen und war erfolgreich gewesen mit ihren Arbeiten. An der Akademie, wenn Interessierte durch die Klassen schlenderten, blieben sie in neun von zehn Fällen vor ihren Bildern stehen, die eine Rastlosigkeit ausdrückten, ein Irren und Suchen und Verwerfen, eine Anklage der Welt im Namen einer gefeierten, die nicht war und doch. »Und doch«, hatte sie im Café Prückel mit zusammengekniffenen Augen gesagt, kurz nachdem wir einander zum ersten Mal begegnet waren, »gibt es diese andere Welt immer schon, weißt du, wir leben in ihr, aber der Glassturz darüber, der Glassturz.« Also viel Glas, viel Glassturz, Kugeln wie jene, über die Wahrsagerinnen sich beugen, um den Leuten zu sagen, was sie hören wollen und was ihnen ohnehin ins Gesicht geschrieben steht. Und diese Glaskugeln hatte Iris, eifrige Studentin des durchsichtigen Leitfadens, wie man’s macht, mit Rasierklingen gefüllt, mit Kondomen, Rosenkränzen, Embryos, mit zerrissenen Geldscheinen, zerschnipselten Fotos aus der Geschichte des Grauens, mit kleinen Zetteln, auf die sie im Rausch Sinnloses gekritzelt hatte. Und dann, zwei Jahre nachdem wir ineinander eingezogen waren, flog sie nach Barcelona, um einen Freund zu besuchen, einen blutleeren Hasenfuß, der sich als verletzlicher Künstler verkleidete, der Angst vorm Leben hatte, vorm Geruch der Menschen in der U-Bahn, vorm Lärm der Menschen am Strand, vorm Lachen, Essen, Trinken und Nasedrehen, kurz, ein Prachtexemplar dessen, was sie satt hatte nach Barcelona, nach ihrem Ausflug auf den Montserrat.

    An einem sonnigen Maimorgen, an dem sie wahrscheinlich neben dem verletzlichen Künstler erwacht war, verließ Iris allein seine Wohnung, trank einen Kaffee auf dem nächstgelegenen Plätzchen, hielt den Kopf in die Sonne, die Arme im Genick verschränkt, dass man, dass ich sie am liebsten in die Achselhöhlen geküsst hätte. Beim Zahlen scherzte sie mit dem Kellner, winkte leutselig zum Abschied und schlenderte durch die verwinkelten Gassen des Barri Gòtic, um doch wieder in die Ramblas einzubiegen, an all den Gauklern, Schaustellern und Randexistenzen vorbei, auf ihrem Weg zum Hafen und zum steinernen Kolumbus, dessen Hand in die Neue Welt weisen sollte, in Wirklichkeit aber, wie sie mir schrieb, in die falsche Richtung weise. An diesem Vormittag aber kam sie nicht so weit. »Wovor bleiben die Leute stehen?«, fragte sie in ihrer ersten E-Mail aus Barcelona. Richtig, vor den Karnickeln, die in ihren engen Käfigen gar nicht anders könnten als rammeln; vor Charlie Chaplin, der eine Gemeinheit sei, und zwar Chaplin gegenüber, anzüglich und dummdreist zeige er mit seinem Stock ins Irgendwo, spitze den Mund, düm dürüm düdüm, kratze sich verstohlen die Eier, bevor er Frauen entgegenpfeife, sich vor ihre Männer schiebe, seinen Stock nach hinten und in deren Eier stoße, ihn einhole und naserümpfend daran rieche – unterm Strich die ödesten Scherze von der Welt, und alle jubelten und klatschten. Sie schilderte ihren Ekel sehr eindringlich.

    An diesem Vormittag blieb Iris selbst lange vor einem Gaukler stehen. Ein feingliedriger Mann in weißer Unterhose und weißem Sakko mit viel zu kurzen Ärmeln, der ansonsten nackt war, aber nicht fleischfarben, sondern weiß. Weiß geschminkt das Gesicht, weiß geschminkt die Beine, weiß geschminkt der Oberkörper. Auf einem Podest stand eine Klomuschel, auf der Klomuschel saß der Weiße Mann, las in einem Buch und kümmerte sich weder um die Straße noch um ihr Treiben. Klirrte eine Münze in dem kleinen weißen Topf vor dem Podest, blickte er wie ertappt von seinem Buch auf, presste schrecklich, blähte die Backen, ehe er sich über die Stirn wischte, erleichtert ausatmete, sich abermals wie nach gerade noch überstandenem Entsetzen übers Gesicht fuhr, um seinen Blick erneut den Buchstaben zuzuwenden. Iris stand da, schaute begeistert, »das gibt’s ja nicht«, murmelte sie vor sich hin, mit dieser wunderbar auf- und abhüpfenden, ungemein begeisterungsfähigen Stimme, »großartig«. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und beobachtete ihn. Die Vorbeigehenden hielten kurz inne, kratzten sich am Kopf, lachten und kramten nach Münzen. Auf dem Podest stand chalkwhiteman@hotmail.com, und Iris schrieb mir in ihrer zweiten E-Mail, in der sie den verletzlichen Künstler wohlweislich nicht mehr erwähnte, vom Weißen Mann. Wie er Geld verdiene, indem er auf die Welt scheiße. Wie er nicht nur auf die Welt scheiße, sondern auch auf sich selbst, auf seine Zeit, die er anders besser verbringen könnte als auf einer Klomuschel mit einem Buch in der Hand. Wie sie ihm das, nur genauer, gleich jetzt schreiben werde, also damals, nachdem sie in irgendeinem Internetcafé oder Computerraum einer Universität oder in der Wohnung des Abziehbildes, auf dem verletzlicher Künstler stand, die Nachricht an mich abgeschickt haben würde. So kam Francis zu uns. So wurde Francis Teil unseres Netzes, das uns zu stützen dient, unsere Sprache auszubilden, unsere Einsätze zu verhandeln, unsere Einsamkeiten zu verbinden und unsere Welten denen gegenüberzustellen, in denen wir nicht mehr leben wollen. »Wer sind wir?«, sagt Iris dann gereizt. »Ich weiß nicht«, antworte ich.

    Tagsüber saß Francis auf seiner Muschel, las, was ihm gerade Freude bereitete, las sich ein Englisch gegen das Englisch seiner Herkunft an, und unterhielt sich nach Arbeitsschluss in verrauchten Bars im chinesischen Viertel mit anderen Gauklern, lauter, allen Abschminkversuchen zum Trotz, immer noch weiß, grau, silbern, golden schimmernden Gesichtern. Sie sprachen über ihren Tag, was sie verdienten, erzählten einander, was sie sonst wollten vom Leben und wie sie sich durchschlugen. Gab es nichts mehr zu sagen, verbeugte sich Francis, rief »Goodbye, ladies and gentlemen, what a pleasure to meet you, I wish you a dazzling journey!«, nahm seinen Hut von der Bar, setzte ihn lächelnd auf und ging nachhause. Von zuhause konnte er, wie er mir einmal schrieb, nicht sprechen. Er sprach von dem Ort, an dem er meistens übernachtete. An diesem Ort ruhte er sich aus, kochte, trank Kaffee, legte eine Platte auf den Plattenteller und sich aufs Bett, rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, sprang irgendwann auf, zog seine schönsten Kleider an und verschwand im Habana Barcelona, ganz nah am Hafen. Francis war aus Birmingham geflohen. Die Backsteinbauten, der schreckliche Dialekt, den die Dummköpfe in den soap operas sprachen, die Industrieruinen, das Grau in Grau, der Regen, wie er mir anderthalb Jahre später im verschneiten Volksgarten erzählte, das lächerliche Wirsindauchdabei der Bond Street, die billigen Lokale am Kanal, der Vodka, one pound a shot, das Bier, die Fußballspiele in den Pubs – all das hatte er satt gehabt. In den Süden wollte er. Und so kam er nach Barcelona, wo er nicht heimisch wurde. Wo er fremd bleiben konnte. Wo ihm nicht jeder Satz an einem Nebentisch schon wie tausendmal gehört und im Endeffekt schrecklich vorkam. Wo er nicht an jeder Intonation schon erkannte, wer jemand war. Er vermied es, Engländer zu treffen, hatte nicht einmal Lust, sich mit einer gut aussehenden Frau oder einem hübschen Mann länger als nötig zu unterhalten, sobald er bemerkte, dass sie oder er von der Insel kam. Selbst in Barcelona wollte er in den Süden, und dieser Süden war das Habana Barcelona, ganz nah am Hafen. Dorthin bestellte er Iris, zu einem Treffen, auf einen Cocktail, wie er in seiner prompten Antwort auf ihre Nachricht geschrieben hatte. An irgendeinem Tag war er in seine Wohnung gekommen, das Stiegenhaus unverändert, die Eingangstür, die beiden Zimmer, die angebrannten Pfannen, sein Schatten an der weißen Wand – alles gleich. Er schaltete seinen Computer ein, rief seine E-Mails ab, und neben den üblichen Be- und Verwunderungsbekundungen, neben einer Nachricht von einem alten Freund, der in Los Angeles saß und ununterbrochen von seinem unbeschreiblichen Glück schrieb, fand er ihre Zeilen, die Bemerkung, dass er auf sich selbst scheiße. Francis lachte. Er drehte sich eine Zigarette, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und prostete sich im Wandspiegel zu. Dann setzte er sich an den Computer. Er mache bloß, was alle anderen auch machten, um leben zu können, vor allem jene, die gut leben wollten: Er schiss auf die Welt und lächelte, solange das Geld im Topf klang. Keine Seele sprang aus dem Feuer, Ωniemand hatte die Befriedigung, einem Blinden, einer Witwe, einem Landminenopfer, einem Aidskranken, einer zur Steinigung Verurteilten, einer unschuldig zum Handkuss Gekommenen, einem aufrechten Kämpfer

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