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Überfluss
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eBook406 Seiten5 Stunden

Überfluss

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Über dieses E-Book

Zärtlich, zornig und wahrhaftig – die dramatische Geschichte eines jungen Vaters, der mit seinem Sohn in einem Truck lebt und um ein besseres Leben kämpft. Jedes Kapitel ist mit dem Geldbetrag überschrieben, der den beiden zum Leben bleibt.
Henry und sein Sohn Junior wurden aus ihrem Trailer vertrieben und leben nun in Henrys Pick-up. Nur ein paar Dollar trennen die beiden noch von einem Leben auf der Straße. Doch es scheint Hoffnung auf: Heute ist Juniors achter Geburtstag, und Henry hat morgen ein Vorstellungsgespräch. Zur Feier des Tages essen sie bei McDonald's und verbringen die Nacht in einem richtigen Bett im Motel. Während Junior fernsieht und Henry in der Badewanne für sein Vorstellungsgespräch übt, scheint einen Moment lang alles in Ordnung. Als aber Henry auf dem Parkplatz in eine fatale Auseinandersetzung gerät und Junior an Fieber erkrankt, werden Vater und Sohn in die Nacht hinausgetrieben, wo sie darum ringen, ihr Leben und ihre Würde zusammenzuhalten.
Überfluss wurde in den USA für seinen schonungslosen Realismus und seine psychologische Raffinesse gefeiert. Jakob Guanzon führt uns ins Niemandsland der endlosen Parkplätze zwischen Walmart und Trailerpark, Überfluss und Mangel. In Rückblenden erleben wir Henrys Familie vor der Zwangsräumung – eine rührende Liebesgeschichte und eine leidenschaftliche Abrechnung mit den zerstörerischen Auswüchsen des westlichen Kapitalismus.
SpracheDeutsch
HerausgeberElster Verlag
Erscheinungsdatum23. Jan. 2023
ISBN9783906903804
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    Buchvorschau

    Überfluss - Jakob Guanzon

    89,34 $

    Die Seife ist babyrosa. Eine viel zu fröhliche Farbe für die Männertoilette bei McDonald’s, und außerdem die falsche, genau wie heute vor acht Jahren. Michelle war sich sicher gewesen, dass der kleine Junge, der jetzt draußen auf Henry wartet, ein Mädchen werden würde. So sicher, dass sie Henry eine Zigarre mit rosa Banderole in die Hand gedrückt hatte, bevor sie sich aus dem Truck auf die Trage hievte.

    In Gedanken führt Henry eine umgekehrte Inventur durch, unterm Strich der blanke Hohn. Fehlendes Geburtstagszubehör – Ballons und Luftschlangen, Kerzen und Kuchen, Geschenkeberge, Freunde, eine Mutter – scheint sich wie eine Abwesenheitsliste in den vollgekritzelten Spiegel zu ritzen. Henry hat eine Gallone Sprit verfeuert, um speziell zu diesem McDonald’s zu fahren, drei Städte östlich der Grundschule des Jungen. Nicht nur wegen des Spielbereichs, sondern auch, weil es hier keine Bushaltestelle vor der Tür gibt. Für die Toilette braucht man keinen Zahlencode. Es ist eine der besseren Filialen, auch wenn das Elend auf der Durchreise ein paar Flecken hinterlassen hat. In den Spiegel gekratzte Telefonnummern, Initialen, Fuck-yous. Mittendrin eine einzelne krakelige Nachricht zur Ermutigung: Es wird besser.

    Henry sitzt der Tag noch in den Poren. Er hatte keine Gelegenheit, sich zu waschen. Nachdem er Junior von der Schule abgeholt hat, haben sie ein paar Stunden im Park totgeschlagen, statt in die Stadtbibliothek zu gehen. Er streckt sich nach der Seife, und aus seiner Achsel steigt müffelnder Moschus, feuchtes Laub im Rinnstein. Der Seifenspender mit seinem Guckloch ist ein müder Zyklop. Blutunterlaufen und beinahe leer. Er niest einen schwachen rosa Klecks in Henrys Hand. Henry pumpt und pumpt, bis er den letzten Tropfen herausgequetscht hat. Der Wasserhahn springt automatisch an, es gibt einen Sensor, aber keinen Regler, um den eisigen Schwall wärmer zu stellen. Der Hunger hat Henry ausgehöhlt, und ein Frösteln hallt durch seine Knochen, er verreibt die Seife zu einem schaumigen Film. Knibbelt den Dreck von Nägeln und Nagelhaut, von seinen verhornten Handballen. Bevor er Brust und Gesicht wäscht, streckt er ein Bein aus und drückt die Stiefelspitze gegen die Tür. Keine Lust, gesehen zu werden, hierbei.

    Er zupft ein paarmal an seinem Pullover, um Luft über seinen Oberkörper zu fächeln, und tupft sich mit einem Papiertuch trocken. Alter Schweiß und Kalksteinstaub lassen seine schwarzen Haare abstehen, der Friseurbesuch ist seit Monaten überfällig, ein klobiger Helm umrahmt sein Gesicht. Er streicht die Strähnen streng zurück und lächelt beinahe. Denkt zurück an den Trailer, an ihre erste Nacht im neuen Zuhause. Als Michelle ihn so gesehen hatte, frisch aus der Dusche, hatte sie ihr Grinsen hinter ihrer Faust versteckt, den dunklen Umriss ihrer Schneidezähne verborgen, doch nicht ihr Markenzeichen, ihr Sticheleien vorgelagertes »Ha

    »Was ist denn jetzt schon wieder?«

    »Nichts.« Sie schüttelte das Laken aus wie ein Matador. »Aber mit den Haaren? Mein Dad könnte nicht sagen, ob du ein Spaghetti oder ein Bohnenfresser bist.«

    »Das passt ja«, sagte er. »Ich bin auch noch nicht sicher, ob du ein Redneck bist oder einfach nur White Trash.«

    »Komm.«

    Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

    Als er den Stiefel von der Klotür nimmt, klimpert etwas. Ein heller, metallischer Ton schlittert über den Fliesenboden und kommt in einer Ecke zum Erliegen. Ein Quarter. Henry geht in die Hocke, um ihn aufzuheben, steckt ihn in die Tasche seiner Jeans.

    89,59 $

    So wie Junior dort bei der Limostation hängt, der Unterkiefer so schlaff wie seine Schultern, die Augen vor Staunen aufgerissen, sollte er eigentlich eine Rakete anstarren, die ins Blau aufsteigt, nicht diese Fast-Food-Speisekarte. Er hat im Park eine Dosis Junisonne abbekommen, die einen fiebrig roten Glanz auf seiner Stirn hinterlassen hat. Als der Junge schließlich Henrys Blick bemerkt, springt seine krumme Haltung auf Strammstehen. Ob aus Respekt oder Furcht, kann Henry nicht sagen. Natürlich fragt er sich, ob der Junge noch immer Angst vor ihm hat. Wie dem auch sei, er ist stolz auf seinen Sohn, doch statt es zu sagen, knetet er dessen Nacken, aus dem die Wirbel hervorstehen wie die Knöchel eines Preisboxers.

    »Dad?«

    »Pa.«

    »Pa, wusstest du, dass das Happy Meal jetzt ein Sparmenü ist? Nur drei Dollar.« Junior runzelt anerkennend die Stirn, wie Henry es häufig tut, und sagt: »Nicht schlecht.«

    Ist es aber – schlecht. Schlecht, dass Junior schon jetzt jeden Cent umdreht. Noch schlimmer ist der Schmierfilm Erleichterung, der sich über Henry legt, sobald sein automatischer innerer Kassensturz eine Summe ausspuckt, die nur ein Drittel vom eingeplanten Budget für diese Geburtstagssause beträgt.

    »Bestell, was immer du willst.« Er nimmt Junior bei den Schultern und lenkt ihn in die Schlange.

    Der Verkäufer steht an der Kasse wie ein Politiker am Rednerpult. Seine Ähnlichkeit mit Junior kann nicht mal annähernd als unheimlich bezeichnet werden, trotzdem ist sie Grund genug zur Sorge. Dieselben mandelförmigen Augen, die hohen Wangenknochen, der eiförmige Schädel. Pigmentierung schwer einzuordnen, aber definitiv dunkel. Was wohlmeinende Weiße gern als exotisch bezeichnen.

    Nichts Exotisches ist an der Akne, die das Gesicht des Verkäufers sprenkelt, so vernarbt und geschwollen, dass die Pusteln an seinem Hals aussehen, als wäre ihm die Sauerei die Wangen runtergelaufen. Nichts Exotisches an der Fließbandschinderei hinter der Geometrie aus Edelstahlelementen und Nischen im sanften Bernsteinlicht der Wärmelampen. Zwar sind sie eine Gallone ostwärts gereist, um hier zu feiern, in einer hübscheren Filiale auf der letzten Stufe des vorstädtischen Orbits, doch die halbwegs verborgene Maschinerie dieser Läden bleibt immer dieselbe. Nur die Kundschaft ändert sich, und mit ihr ändern sich die Erwartungen.

    Die größte Veränderung, die Henry bemerkt hat, seit er wieder auf freiem Fuß ist: Die Leute verneigen sich jetzt permanent vor dem Display in ihrer Hand, als würden sie beten. Und seit wann gibt es statt der großen Karte über den Kassen nur noch Plasmabildschirme? Jedes Mal, wenn er den Blick hebt, verschwinden gerade die Sparmenüs, und stattdessen prangen dort Dessert-Optionen oder ein riesiges Foto von einem Big Mac, das Foodporn-Äquivalent zu einem Playboy-Poster.

    Die Filialleiterin ruft Bestellnummern auf, ihr Akzent zwirbelt eine Melodie aus den Zahlen. Die obere Hälfte eines Angestellten verschwindet aus dem Drive-in-Schalter. Ein zischender Frittierkorb wird aus dem Öl gehoben und einmal gerüttelt, bevor die Pommes in ein wärmebestrahltes Becken geworfen und mit einem Gerät – halb Schaufel, halb Trichter – in rote Pappschachteln gefüllt werden. Trotz des Lärms kann Henry den Salzstreuer hören, und seine Nase füllt sich mit einem Geruch, der keinen Namen hat, nur eine Farbe: Gold.

    Nun heißt man ihn bei McDonald’s willkommen und bittet ihn um seine Bestellung. Er bringt es nicht über sich, die verpickelte, hochgewachsene Version seines Sohnes anzusehen, und dass ihn dieser arme Kerl so sehr abstößt, verstärkt nur sein schlechtes Gewissen. Schlimm genug, dass er keinen Sohn will, der irgendwann bei McDonald’s am Grill endet. Noch schlimmer ist, dass er sich für was Besseres hält, obwohl er nicht mal das hat, einen fettigen Mindestlohnjob. Das letzte Feld in jedem Bewerbungsbogen. Liegen Vorstrafen vor? Ein Kreuzchen bei Ja. Das schließt ihn von so viel mehr aus als von einer Nine-to-five-Stelle oder von Lebensmittelmarken.

    Erst als Junior sich noch einmal nach dem Preis erkundigt und beim Happy Meal bleibt, sieht Henry dem Kassierer in die Augen.

    »Nein«, sagt er. »Einen Big Mac, als Menü. Und zwar supersize.«

    »Ohne Gurke, bitte«, sagt Junior.

    »Ohne Gurke«, wiederholt Henry, bevor er sich einen McChicken als Sparmenü bestellt. Er schaufelt eine Handvoll Münzen auf den Tresen. Mit dem Zeigefinger schiebt er Münze für Münze rüber – vier Pennys, sieben Nickel, zwei Dimes und acht Quarter. Nicht gerade angenehm, drei Einer und einen Fünfer abzudrücken, doch er ist erleichtert, die schwere Kleingeldtasche los zu sein, die mit jedem Schritt gerasselt hat wie winzige Handschellen.

    79,00 $

    Henry schickt Junior Hände waschen, bevor er sich vor der Limostation in Position bringt. Er füllt den größten Becher mit Coca-Cola, nimmt zwei große, prickelnde Schlucke, die bis ganz nach unten kitzeln, und füllt ihn wieder auf. Dann ein knapper Blick über die Schulter – die Luft ist rein – und drei gierige Handvoll Ketchup-Päckchen landen auf seinem Tablett.

    McDonald’s muss als eines der ersten Franchise-Unternehmen des Landes einen neuen Anstrich verpasst bekommen haben. Die klobigen Kunststoffbänke, türkis- und lilafarben wie Neunzigerjahre-Wegwerfgeschirr, wurden herausgerissen, entsorgt und durch einen pseudo-urbanen Minimalismus ersetzt: eckige, asymmetrisch arrangierte Tische und Stühle, alles in einer unaufgeregten Palette aus matten Bordeauxrot- und Marineblautönen, und das trotz der enormen Entfernung zu Ost- wie Westküste.

    Dem PlayPlace ist das Lifting erspart geblieben. Offenbar haben die neuesten Raumgestaltungstrends keinerlei Einfluss auf die zeitlose Funktionalität von Röhrenrutsche und Bällebad. Im Glaswürfelanbau des Spielbereichs wurde lediglich die Möblierung erneuert, die aussieht, als hätte sie irgendein verkopfter Schwede in der festen Absicht entworfen, die wohlige amerikanische Vorstellung von Wärme und Überfluss zu untergraben, die die goldenen Bögen da draußen nicht nur verkörpern, sondern versprechen.

    Sofort wird Henry sein Fehler klar. Er hätte nicht den Ecktisch neben dem Mülleimer wählen sollen. Von hier aus sieht er zu viel. Eine Frau wirft eine nicht unerhebliche Menge verschmähter Pommes weg, Burger-Bun-Reste und Chicken-Nugget-Stummel, sodass sich Henrys Mund zu einem angewiderten Oval verzieht, das exakt wie das Loch des Mülleimers aussieht.

    Als die Frau mit ihrer Kinderhorde das Glashaus verlässt, bleiben nur noch Henry und ein Tisch mit zwei Müttern, deren Töchter hoch oben über die Plastikbrücken tapern. Die Mütter sind mindestens zehn Jahre älter als er, doch sie wirken gesund und gut betucht, ihre Arme sind muskulös und straff vom morgendlichen Besuch im Fitnessstudio, und ihre Haut ist aus irgendeinem Grund sonnengebräunt und trotzdem seidig. Die Hübschere der beiden – vakuumiert im Stretch ihrer Sportbekleidung, die teerschwarzen Haare zu einer Oberschichtsfrisur aufgetürmt – erwischt ihn beim Starren. Henrys Blick springt zurück auf Junior, bevor er herausfinden kann, ob ihr gekräuselter Mund Abscheu oder ein Lächeln andeutet. Insgeheim war er damals anderer Meinung gewesen als Michelle. Er findet immer noch, dass er annähernd gut aussieht, wenn er die Haare so zurückgeklatscht trägt. Und es fühlt sich gut an, die Hoffnung zuzulassen – und sei es auch nur für eine Sekunde –, dass diese hübsche Mutter vielleicht dasselbe denkt.

    Langsam. Er ist zu sehr damit beschäftigt, möglichst winzige Bisse von seinem McChicken zu nehmen, um auf Junior zu achten. Gerade beäugt der Junge seinen einmal angebissenen Big Mac, als wäre selbst dieser erste Biss ein Fehler gewesen. Henry wischt einen Mayotropfen vom Papier und verreibt die schmackhafte Fingerspitze an seiner Zahnreihe. Mit der Zunge presst er Salz und Serum in seinen Gaumen. Egal, wie langsam er isst, jeder Bissen landet mit einem hohlen Fump in den Untiefen seines Magens wie ein Gummiball auf dem Grund eines versiegten Brunnens.

    Junior zieht die Nase hoch. Lässt den Big Mac sinken, um sie abzuwischen. »Kann ich spielen gehen?«

    Henry bewertet den Zustand des Big Macs. Der Junge hat den halben Burger geschafft und die Pommes angekratzt. Nicht schlecht. Es ist die größte Portion, die er in dieser Woche von einer Mahlzeit gegessen hat. Aber an diesem Abend will Henry, dass der Junge sich derart vollstopft, dass ihm das Zeug zu den Ohren rauskommt. Er soll hier rauswatscheln, den Bauch so prall gespannt, dass er noch in mageren Zeiten davon zehren kann.

    Andererseits hat der Junge heute Geburtstag, also fragt Henry ihn, welcher Tag heute ist.

    Junior bringt den Kiefer in dieselbe trotzige Position, wie Michelle es immer getan hat, bevor sie schnippisch wurde. »Dienstag.«

    »Klugscheißer. Du weißt genau, was ich meine.«

    Junior zieht den Kopf ein. Das altbekannte, scheue Lauern, das Henry ihm durch gutes Zureden und Vorträge über Körperhaltung und Selbstvertrauen auszureden versucht hat. Das sein Pa ihm als Kind durch Anblaffen und Schläge auf den Hinterkopf ausgetrieben hat.

    So wichtig es auch sein mag, den eigenen Sohn gegen die Reißzähne der Welt zu stählen – Henry hat verstanden, dass er es nicht übertreiben darf. Ein Junge braucht mehr als das glühende Erz des Vaters, um auf eigenen Füßen zu stehen, und so beschließt er, es besser zu machen als sein Pa. Er zieht Juniors Kopf zu sich heran, gibt ihm einen Kuss auf den Scheitel und sagt: »Das Geburtstagskind kann machen, was es will.«

    Junior zischt ab, bevor Henry von der Überraschung heute Abend erzählen kann. Die Reste seines Essens werden vor Henrys Augen kalt. Noch vor wenigen Sekunden ist eine hauchzarte, wirbelnde Dampfwolke wie eine Fata Morgana über den glänzenden Pommes aufgestiegen. Jetzt sind sie farblos und so appetitlich wie ein Haufen Kanthölzer, eher geeignet, verbaut als verdaut zu werden. Trotzdem will er eine. Innerlich brütet er ein Verlangen aus, spitz wie die Zähne einer Harke, doch ein noch tieferes Gefühl sagt ihm: Nein. Nicht das Essen deines Sohnes, nicht sein Geburtstags-Dinner. Denk an die Konsequenzen, hat der Therapeut im Gefängnis immer gesagt. Wenn es dich in den Fingern juckt, denk jedes Mal an die Menschen, denen du damit wehtun wirst.

    Die Schimäre dieser einen Pommes, die sich in seine Zungenspalte presst, ist das Einzige, was Henry sieht und schmeckt, wenn er die Augen schließt, doch er hat den Gipfel der Willensstärke erklommen. Er ist die Ruhe selbst, hat sich völlig unter Kontrolle, er ist Mahatma fucking Gandhi in Stahlkappenstiefeln. Nähme er seinem Sohn auch nur eine einzige Pommes weg, wo würde das enden? Man sieht doch, wozu das geführt hat, wer er gewesen ist. Er muss garantiert noch einiges lernen, aber eines weiß er verdammt sicher, nämlich, dass sogar ein Haarriss im Staudamm seiner Selbstdisziplin auf direktem Weg zurück zu der gierigen Bilderbuch-Ratte führt, die er gewesen ist – wenn man einer Maus einen Keks gibt, will sie auch ein Glas Milch, und wenn man einer Maus ein Glas Milch gibt, dann will sie und so weiter und so fort, bis Henry um drei Uhr nachmittags zu sich kommt, den Kopf zwischen einer Badewanne und einem Klo eingequetscht, verkrustet von Magensäure und Blut von Gott weiß wem oder wie oder was.

    Das Warum dagegen lag auf der Hand: Weil Henry die Kontrolle verloren hatte.

    Immerhin darf man den Becher nachfüllen, so oft man will. Kein schlechtes Gewissen, weil er sich den Bauch mit Cola vollschüttet. Ein zufrieden sprudelnder Seufzer steigt in ihm auf. Ohne darüber nachzudenken, streckt er die Hand nach den Ketchup-Päckchen aus, einer Notration Zucker gegen spätere Hungerattacken, zögert dann jedoch. Auch dabei will man nicht gesehen werden. Er riskiert einen Blick zu den beiden Müttern, die nun gemeinsam über einem Handy hängen. So unauffällig wie möglich stopft er eine Ladung Ketchup nach der anderen in seine Hosentaschen und zieht den Saum seines Pullovers über die unförmigen Beulen in der Jeans.

    Ist das der Grund, warum er nicht »Happy Birthday« gesungen hat, bevor sie sich über die Burger hergemacht haben? Um keinen Scheinwerfer auf ihren traurigen Anblick zu richten? Er hat alles getan, was in seiner Macht steht, und wird es auch weiterhin tun, doch was diese beiden Mütter am Ende sehen, ist nur der nächste nutzlose Vater, der sein Kind mit Cholesterin und Salz und Analogkäse und Krebs vollstopft, und jetzt mal ehrlich – glaubt er echt, so zu feiern, sei in Ordnung? Erbärmlich. Billig. Trashig. So offensichtlich Mittlerer Westen, Endstation Unterschicht.

    Aber wer sagt eigentlich, dass diese Frauen so viel besser sind als er? Immerhin sitzen sie auch hier und füttern ihre Töchter mit demselben lauwarmen Mist.

    Henry hat sich in Rage gedacht, allein, im McDonald’s PlayPlace, neben dem Müll. Er beruhigt sich mit einem tiefen Atemzug. Beim Ausatmen öffnet er die Augen: So eine mentale Hasstirade, ausgelöst von einer Pommes.

    Die Mündung der Röhrenrutsche spuckt zwei Mädchen aus, die über den gepolsterten Boden spurten, die Stufen hochflitzen und einen Bauchplatscher in die Plastikbälle machen. Hoch oben, von einem labberigen Spanngurtkäfig aus, sieht Junior zu, wie die Mädchen kichernd durchs Bällebad schwimmen. Vielleicht ist es nur eine optische Täuschung, wer kann das auf die Entfernung schon sagen, doch auf Juniors Gesicht liegt eine Verlorenheit. Eine abgestandene, mutlose Sehnsucht, die kein Achtjähriger verstehen sollte, geschweige denn ertragen. Als ob das nicht genug wäre, streckt sein Sohn jetzt auch noch die Hände durch die Käfiggurte, und diese ganze Gefängnismetapher ist definitiv mehr, als Henry ertragen kann.

    Außer der hübschen Mutter gibt es hier nichts zu sehen. Diesmal versucht er es subtiler, aus dem Augenwinkel, während sein Kinn dem Fenster zugewandt ist und er zur Not so tun kann, als würde er jemandem auf dem Parkplatz zuwinken, falls sie ihn wieder beim Gaffen erwischt. Doch als er sie diesmal ansieht, sucht er nach einem Makel. Ein heimlicher Rachefeldzug wegen alldem, was sie angeblich über ihn gedacht hat.

    Er kommt zu dem Schluss, dass sie zu viel Make-up trägt – viel zu viel für einen Dienstagabend bei McDonald’s. Noch so eine Ballkönigin mittleren Alters, ein Splitter der Granate, die sie einst war. Vielleicht donnert sie sich so auf, weil sie selbst nicht erkennt, wie schön sie – das muss er einfach zugeben – tatsächlich ist. Ihre markant gerundeten Gesichtszüge und ihre Haut wie poliertes Eichenholz lassen an ein sonnendurchflutetes Dorf am Mittelmeer denken, nicht an eine Franchise-Frittenhölle irgendwo im Nirgendwo. Weißes Leinen sollte sie umwehen, nicht so ein glänzender Athleisure-Fummel. Wobei der elastische Stoff ihren Körperbau auf eine liebeskrank machende Art zur Schau stellt, jede Kurve und jede Mündung wohlkalkuliert, als hätte Henry einer Skulptur seiner Traumfrau Leben eingehaucht. Sie wirkt irgendwie heißblütig, als hätte sie kein Problem damit, einem Mann ganz genau zu sagen, wie sie geküsst werden will und wie er sie lieben soll.

    Er ist sich ziemlich sicher, dass er sich genauestens an ihre Anweisungen halten könnte.

    Vielleicht hat das Crescendo seines gedanklichen Feuerwerks ihre Aufmerksamkeit geweckt. So schamlos, wie sie ihn in seiner Fantasie genommen hat, verdreht sie nun in der Wirklichkeit, in diesem PlayPlace, die Augen.

    McChicken. Burger-Fleisch. Schwein.

    Die Rutsche hustet Junior aus. Als der sich aufrappelt, lässt er ein paarmal die Schultern kreisen, bevor er die aufrechte Haltung annimmt, die Henry ihm beigebracht hat. Unter dem Gürtel wirft sein Hosenbund Falten, hässliche Jeansdellen rund um seinen Bauch. Selbst von hier aus kann man sehen, dass seine Klamotten dreckig sind. Er wirft Henry ein verschwitztes Jetzt-pass-mal-auf-Grinsen zu und marschiert in Richtung Bällebad, zu den Mädchen. Ein klares Ziel scheint seine Storchenbeine anzutreiben, als er die Stufen eine nach der anderen hochstakst.

    Und dann, just in dem Moment, als Junior für den Sprung in die Hocke geht, ruft die hübsche Mutter die Mädchen zu sich. Zeit, nach Hause zu gehen.

    77,41 $

    Ein Geburtstagskind sollte den ganzen Tag lang lächeln, also ist es Henrys Job, Juniors Mundwinkel von unten nach oben zu befördern. Eistropfen rinnen vom Hörnchen über die Hand des Jungen, milchige Verästelungen bis an sein Handgelenk. Von Henrys jüngstem Versuch, seine väterliche Pflicht zu erfüllen, scheint mehr auf Juniors Arm zu landen als auf seiner Zunge.

    Auf dem Parkplatz vor McDonald’s steht ihr Zuhause der letzten sechs Monate: Henrys guter alter F-250. Die Ladefläche ist eine schwarze Hügellandschaft aus Müllsäcken, vollgestopft mit ihren Klamotten. Gleich unter der Heckscheibe befindet sich eine verschließbare Werkzeugkiste aus Riffelblech, in der sich die paar Wertsachen befinden, die nicht bei ihrem kurzfristigen Yard Sale Mitte Dezember draußen in der Kälte gelandet sind. Ein paar Elektrowerkzeuge und eine schlichte weiße Urne beschweren einen Plastikordner mit ihren Geburtsurkunden und ein paar alten Fotos.

    Henry öffnet die beiden Türen auf der Fahrerseite. Auf der schmalen Rückbank fliegen Juniors Bettzeug, Spielsachen, Schulbücher, ein Plastikcontainer für Wasser und Moms Bese-Saka-Tuch herum. Der Heizkranz ist umgekippt, ein nestförmiges Metallgestell, das Henry aus einem Kleiderbügel zurechtgebogen hat, um den Zigarettenanzünder aus dem Armaturenbrett unter einer Konservenbüchse festzustecken. Seit gestern Abend ist ihr Essensvorrat aufgebraucht. Alle Büchsen sind ausgekratzt und im Automaten verschwunden, damit er die nötigen Nickel für die Überraschung heute Abend zusammenbekommt.

    Bevor er sich hinters Steuer klemmt, leert Henry den Inhalt seiner Taschen ins Türfach. All die Ketchup-Päckchen fallen auf ein Prepaid-Klapphandy, dessen Guthaben längst verbraucht ist, der Akku seit einer Woche leer. Der Fensterrahmen auf der Beifahrerseite ist mit etlichen Schichten aus Frischhaltefolie zugeklebt, dick wie Spinnweben im Keller. Als Junior die Augen schließt und sein Gesicht dem Sonnenlicht zuwendet, das sich in der Frischhaltefolie verfängt, erinnert er Henry an seine eigene Mutter. Ein trauriger Gedanke, dass weder der Junge noch seine Grandma je sehen werden, wie ähnlich sie einander sind.

    »Iss auf«, sagt er zu Junior. »Du machst eine Sauerei.«

    Der Junge funkelt das Eis an, als hätte es ihn gerade um einen riesigen Gefallen gebeten. Er sagt ans Hörnchen gerichtet: »Mein Bauch tut weh.«

    »Du bist satt, das ist alles«, sagt Henry. »Iss das jetzt auf.«

    »Ich kann nicht, Pa. Ich glaub, ich bin krank.«

    »Krank, was?« Er dreht den Zündschlüssel. »Dann wird deine Überraschung wohl warten müssen.«

    Junior kneift den falschen Teil seines Gesichtes zusammen. Die Lippen sollte der Junge vor Neugier aufeinanderpressen, doch nun werden seine Wimpernkränze zu argwöhnischen Schlitzen. Der Anblick ist Henry vertraut – seit November sieht der Junge ihm kaum noch in die Augen.

    »Was für eine Überraschung?«, fragt Junior.

    »Tja, wenn ich das verraten würde, wäre es keine Überraschung mehr, oder?«

    Der Satz könnte geradewegs von einem schenkelklopfenden Sitcom-Dad stammen, und irgendwie gefällt Henry die Rolle. Um das heimelige Bild abzurunden, wuschelt er Junior über den Kopf. Fettige Strähnen bleiben stehen, und dann riecht es plötzlich, als ob der kurze Handgriff Sporen ungewaschener Kopfhaut in die abgestandene Luft des Trucks gewirbelt hätte. Schon bald wird er dem Jungen nicht bloß ein Bad einlassen, er wird jeden Quadratmillimeter seines Körpers schrubben, bis Juniors Haut in vollem Glanz erstrahlt, zart und sauber wie ein Babypopo.

    Sie fahren Richtung Westen, tiefer ins Dämmerlicht hinein, einen grandiosen Farbschleier aus Jackfrucht und Amethyst. Der Anblick des Himmels ist bemerkenswert schön, und es ist schade, dass da niemand ist, den er darauf aufmerksam machen könnte. Der Junge ist zu sehr damit beschäftigt, das Eis hinunterzuschlingen, als hätte ihm jemand befohlen, auf Henrys Wuscheln zu reagieren. Den Sonnenuntergang mit niemandem zu teilen, ihn nicht gemeinsam zu bewundern, tut seiner Schönheit keinen Abbruch. Man könnte sogar so weit gehen, ihn atemberaubend zu nennen, nur fühlt sich die Beobachtung seltsam an. Sieht ihm nicht ähnlich. Keine Ahnung, wann er sich das letzte Mal die Zeit genommen hat, etwas so Banales wie den täglichen Rückzug der Sonne mit Bedeutung aufzuladen.

    Vermutlich liegt es daran, dass der heutige Abend anders ist als die letzten sechs Monate. Nicht nur, weil Junior Geburtstag hat, sondern weil wahrhaftige Behaglichkeit zum Greifen nahe ist. Auch der Hoffnungsschimmer des morgigen Vorstellungsgesprächs schadet nicht.

    Nachdem er in der letzten Woche am PC-Pool der Stadtbibliothek die Mail mit der Zusage geöffnet hat, stand schnell sein Entschluss fest, am Tag vor dem Gespräch, an Juniors Geburtstag, ein bisschen zu prassen. Sie hatten sich eine moderate Belohnung verdient. Ist es komisch oder traurig, dass anhaltende Entbehrungen jede noch so kleine Annehmlichkeit in Luxus verwandeln? Sie werden in einem Motel ein Bad nehmen, im heißen Wasserschwall schmoren, so lange sie wollen, bis sie schrumpelig sind und vor lauter Dampf nach Luft schnappen. Sie werden Vorhänge zuziehen und einen Riegel vorschieben, Garanten für ausgiebigen, ungestörten Schlaf auf echten Matratzen, zusammengerollt unter sauberen Laken, ohne Angst vor einem nächtlichen Tock tock an der Windschutzscheibe des Trucks.

    Die Aussicht auf Gemütlichkeit. Ein Hoffnungsschimmer. Er beschließt, dass es komisch ist, nicht traurig, dass es mehr nicht braucht, damit er hier plötzlich den Poeten raushängen lässt.

    Hoffnung mag ein wenig viel verlangt sein, aber Behaglichkeit ist ein guter Anfang. Sollte es ihm eines Tages gelingen, ihnen diese Behaglichkeit wieder dauerhaft zu ermöglichen – wird er seine Umwelt dann immer noch betrachten wie ein Kiffer, der aus dem Staunen nicht rauskommt? Oder ist das hier nur ein Glücksfall? Ein kurzer Halt in der Schlammpiste der harten Zeiten, ein Hauch Hickory-Lagerfeuer inmitten der Tundra? Wird er wie all diese Fremden werden – mit ihrem leeren Blick im Stau, wie sie in der Kassenschlange stöhnen, auf dem Einkaufswagen hängen – und vor Selbstgerechtigkeit beinahe platzen? Wird er sich in die abgestumpfte Herde einreihen? Wie alle anderen der einzigen Sache hinterherhumpeln, die noch bleibt: Mehr.

    Wenn morgen alles klappt – und was soll schon schiefgehen, so viel, wie er geübt und geprobt hat –, dann schwört er, jeden Morgen mit Dankbarkeit zu beginnen. Er wird eine olympische Disziplin daraus machen, einen Teil seiner Morgenroutine, genau wie die hübsche Mutter, die vermutlich mit Yoga oder Meditation mit Weizengrasturbo in den Tag startet. Selbst wenn sie sich irgendwann wieder besser über Wasser halten können, ist ihre derzeitige Enthaltsamkeit eine ehrbare Angelegenheit, also sollte er danach streben, genügsam zu bleiben und mager wie ein Kojote.

    Die Szenerie am Erdboden kann mit dem Himmel nicht mithalten. Je weiter sie die Stadt hinter sich lassen, desto trister wird die Landschaft, auf jede Ampel in westlicher Richtung folgt eine weitere Stufe des Verfalls. An den Franchise-Ketten und Autobahnausfahrten des Zentrums sind sie längst vorbei, nach den letzten Sozialwohnungsblöcken, deren idyllische Namen genauso himmelschreiend künstlich sind wie die aufgeschütteten Hügel, auf denen sie hochgezogen wurden, verschmälert sich die Hauptstraße von vier Spuren auf zwei.

    So weit westlich ziehen sich die verrammelten Bungalows immer weiter vom Straßenrand in die Baumreihen zurück, sie sehen aus wie Kadaver, die noch während der Autopsie aufgegeben wurden. Dazwischen brachliegende Stücke versengter Prärie. Ein Wasserturm mit verstauchtem Standbein. Bibelverse auf maroden Plakatwänden. Das Schlingelschlangel der Stromleitungen steigt und fällt von einem schiefen Pfosten zum nächsten, bis zum reglosen Horizont. Schnell folgt eine Reihe kastenförmiger Einkaufspassagen und leerer Parkplätze, buckelig und aufgeplatzt wie Warzen unter dem Mikroskop. Die Schaufenster sind staubig und leer, dazwischen der eine oder andere Tante-Emma-Laden, in dem Gott weiß was verkauft wird, damit das Licht an bleibt und sich die Inkasso-Eintreiber fernhalten. Die paar Fenster, hinter denen Licht brennt, sehen nicht einladend aus, eher wie die letzte Glut im Aschenbecher.

    Waschsalon.

    Pfandhaus.

    Schnapsladen.

    Landschaftsbau.

    Saint Jude’s.

    Nagelstudio.

    Waffenshop.

    XXX.

    Bowling.

    Check Cashing.

    Dann weichen die Malls und Lagerhallen einer verlassenen Graslandschaft, die weder Rasen noch Weide ist und in einen Walmart-Parkplatz mündet. In der am weitesten vom Eingang entfernten Ecke bildet sich für die Nacht ein Slum auf Rädern. Herzstück der Siedlung ist ein Wohnmobil. Darum verstreut stehen Vans und Pick-ups mit notdürftig zusammengezimmerten Anhängern aus Sperrholz und Wellblech. Eine Silhouette hebt gerade einen Grill aus dem Kofferraum eines Sedans. Weitere Anzeichen von Leben: Fehlanzeige. Es ist nur allzu leicht, all diese vagabundierenden Schatten zu vergessen.

    Vor wenigen Stunden erst, bevor er Junior von der Schule abholen musste, ist Henry noch kurz in genau diesen Walmart gesprungen, um das Geburtstagsgeschenk zu besorgen. Am Eingang hatte ihn Gevatter Tods übergewichtige Cousine höchstselbst begrüßt, in ihren blauen Kittel gezurrt wie in ein Bungee-Geschirr. Hinter ihr pulsierte die Produktkathedrale in höhnischer Fluoreszenz. Henry brauchte weder Korb noch Wagen. Lehnte den Smiley-Sticker dankend ab.

    Er hatte absichtlich am anderen Ende des Gebäudes geparkt, weit weg vom Supermarkt, um sich die lockenden Lebensmittel zu ersparen. Trotzdem blieb die bohrende Frage, wie viele hundert Zentner Gemüse und Fleisch und Backwaren und Reste aus dem Deli draußen in den verschlossenen Müllcontainern landen würden. Von diesem Eingang aus ließen sich Deko- und Drogerieabteilung nicht vermeiden, wenn man zu den Spielwaren vordringen wollte, der Mittelgang zum entlegeneren Teil des Geschäfts ein einziger Hindernisparcours. Planlos umherschlurfende Kunden. Verlassene Einkaufswagen, in denen sich die profane Ausbeute stapelte. Aufdringliche Schilder am Ende jedes Ganges, Immer Niedrigpreise, an jedem Turm mit Sonderangeboten, der die Hauptader verstopfte. Zur Linken kam er an den Haushaltswaren vorbei, die er weder brauchte noch wollte und die er sich ohnehin nicht leisten konnte. Zu seiner Rechten kamen die Drogerieartikel, reihenweise Make-up und Seifen und Shampoos und Zahnpasta und Medikamente und Rasierer. Die Klinge seines Rasierers war mittlerweile rostspröde und dreckverschmiert, sodass er seinem schwachen Bartwuchs in den letzten Wochen freien Lauf gelassen hatte, er rangiert jetzt irgendwo zwischen Fu Manchu und pubertierendem Holzfäller. In der stickigen Fahrerkabine des Trucks trägt er Junior zuliebe vor dem Schlafengehen eine Schicht Deo auf, die Old-Spice-Roller verbrät er mit kostspieliger Geschwindigkeit, bald braucht er einen neuen. Um seine Kräfte für das morgige Gespräch zu schonen, hat er sich für den Morgen keinen Job von Craigslist besorgt. Die Kohle kann er wann anders verdienen, sie reicht ohnehin nie. Mit etwas Glück werden das regelmäßige Einkommen und ein Dach über dem Kopf von allein dafür sorgen, dass Rasierklingen und Deo wie von selbst aus der heiklen Sphäre des ständigen Sparkurses verschwinden – sobald er seine offenen Mietschulden, Strom- und Wasserrechnungen, Verbandsbeiträge, Müllabfuhr, Endreinigung und das Umzugsunternehmen samt Neujahrszuschlag bezahlt hat.

    Das Spielzeug war ganz hinten. Mit zunehmend flauem Magen lief er auf seinem benommenen Streifzug durch die vielen Gänge. Vorbei an der Aluminium-Lawine der Fahrräder, aufgetürmt bis unter die Decke. Durch einen Korridor voller überdimensionierter Plastikwaffen und Lego-Sets. Um ein mit Gummibällen gefülltes Gehege herum. Ohne die Cartoons am Samstagmorgen wirkten die Actionfiguren im nächsten Gang wie aus dem Zusammenhang gerissen, nur die neu aufgelegten G. I. Joes und Turtles-Figuren sagten ihm etwas, da er als Kind selbst damit gespielt hatte. Doch

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