Ein Brief an Hanny Porter: Die digitale Werkausgabe – Band 3
Von Thor Kunkel
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Über dieses E-Book
Heile Welt – kaputte Welt: zwei Seiten einer Medaille. Auf der Gewinnerseite stehen die Porters, in deren wohlgeordnetes Leben das alte Ehepaar Marv und Ellie einbricht, um just zu dem Zeitpunkt, an dem sie nichts mehr zu verlieren haben, ihr Recht auf Glück einzufordern. Welten prallen aufeinander und der Plot hat alles, was ihn als großen Hollywood-Film auszeichnen würde: Horror, Spannung, Sex und Sozialkritik.
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Buchvorschau
Ein Brief an Hanny Porter - Thor Kunkel
Kapitel 1
«Madame?»
Etwas Klammes, Feuchtes wie ein Waschlappen berührte Hannys Puls und schreckte sie aus einem flirrend hellen Nachmittagsschlaf.
«Verzeihen Sie …» Die Stewardess zog ihre Hand eiligst zurück. Hannys Ohren waren noch immer dicht, erst als sie gähnte, holte sie das Rauschen der Turbinen wieder ein.
«Wir landen in wenigen Minuten in Kahului. Würden Sie sich bitte anschnallen, Ma‘am.»
Es klang nach Extraeinladung, und Hanny nickte pikiert. Das Wachsgesicht unter dem blauen Barett passte zu diesen schlaffen, transpirierenden Händen, und Hanny war noch immer nicht abgebruht genug, um das professionelle Lächeln einer Stewardess schlicht zu erwidern.
Tu ihr doch den Gefallen, dachte sie. Lächle zurück. Akzeptiere den kleinen Service, den sie dir leistet. Vielleicht hat sie Zellulitis oder Krebs. Oder beides …
Auf jeden Fall hatte sie in der nächsten Reihe Ärger mit einer starrköpfigen alten Dame: «Was unterstehen Sie sich? Ich schnalle mich an, wenn ich es für richtig halte …» Ein runzeliger Ellenbogen flatterte über der Armlehne, als die Flugbegleiterin den Sicherheitsgurt ruckartig anzog. «Dann halten Sie es mal für richtig», zischte sie, und Hanny zog es vor, wieder die Augen zu schließen.
Ausblenden, dachte sie. Vor Stunden auf dem Flughafen von Louisville hatte sie einen Artikel über Brustamputationen und berufsspezifische Risikogruppen gelesen. Die Stewardess war eine sichere Anwärterin: Nichts schien das Wachstum der Metastasen so zu fördern wie Höhenstrahlung und Stress. Die Statistik ließ daran keinen Zweifel aufkommen. Überhaupt war die Brustkrebs-Rate in den Staaten während der letzten Jahre sprunghaft gestiegen, ein allgemeines Phänomen – als hätte der Sensenmann heimlich gesät, und die Chirurgen hielten jetzt blutige Ernte. Hannys Mann hatte auf die Folgen eines vertuschten Reaktorunfalls getippt: «Ich sage nur Harrisburg …»
Auch in ihrem Bekanntenkreis hatte es einen Fall gegeben, eine resolute, lebenslustige Frau, Anfang vierzig, die bei Kentucky Fried Chicken in der Hackordnung ganz oben gestanden hatte.
Jetzt war ihr Schreibtisch leer, die Personalabteilung suchte noch immer Ersatz. Hanny hatte nie Karriere gemacht, sie war Hausfrau – gottlob. Wenn man dem Artikel Glauben schenken durfte, gehörte sie damit zu der Berufsgruppe mit dem geringsten Risiko. Trotzdem las sie öfter, fast regelmäßig diese unangenehmen Meldungen. Medizinisches Kauderwelsch von Mammosektionen und Gebärmutterzysten verfolgten sie inzwischen bis in den Schlaf.
Unangenehm. Was beunruhigt dich so?
Hanny wusste, dass es das Alter war. Sie hatte sich gut gehalten, das stand fest. Ihr blondes Haar, das sie manchmal in Zöpfen trug, unterstrich noch ihr jugendliches Aussehen. Wie viele Frauen aus den Südstaaten, hatte sie Sommersprossen und kornblumenblaue Augen, und wenn sie dann noch in einem Holzfällerhemd und Jeans über die Straße lief, pfiffen ihr selbst junge Kerle hinterher. Sie sah aus wie ein College-Girl. Cheerleader-Material. Dabei war sie einundvierzig. Und sie wollte es bleiben.
Zweimal die Woche rannte sie auf dieser vollautomatischen Tretmühle gegen den Berg des Alters an, bis sie vor Erschöpfung fast umfiel. Wer nicht rastet, der rostet auch nicht, ihre deutsche Großmutter hatte das immer gesagt. Es ging einzig und allein darum, die biologische Uhr zu überlisten, die Spannung der Feder wieder anzuziehen. Hanny hielt nicht viel von den Segnungen der plastischen Chirurgie, boob jobs und gelifteten Gesichtern, nur die Ansätze zu Tränensäcken hatte sie sich wegmachen lassen. Vorsichtshalber.
«Madame, haben Sie nicht gehört?»
Die Stewardess war noch einmal zurückgekommen, und Hanny dachte einen Moment daran, ihr zu sagen, dass Flugbegleiterinnen besonders krebsgefährdet waren und dass sie ihren lausigen Job besser an den Nagel hängen sollte.
Sie haben wohl einen Höhenrausch, Täubchen …
Natürlich biss sie sich auf die Zunge und schnallte sich an.
«Vielen Dank, Ma‘am.»
Die Stewardess tippelte weiter, und Hanny beschloss, sich dem Anflug auf Maui zu überlassen.
No Kaoi, dachte sie. Maui ist das Beste.
Von ihrem Fensterplatz aus konnte sie die Inseln sehen, eine Muschelkette, die sich über tausend Meilen dahinschlängelte.
Der seidenblaue Himmel war dunstig, und der Pazifik wölbte sich darunter wie eine Silberplatte bis zum Horizont. Nur um die Inseln herum leuchtete die See türkisblau und grün, als hätte ein Riesenkind mit Wasserfarben gespielt.
Maui kam endlich in Sicht und überall klickten die Kameras. Vielleicht war es der Anblick des wolkenverhangenen Haleakala-Kraters oder die Tatsache, dass man hier zweimal King Kong gedreht hatte, jedenfalls drückten sich eine Menge Nasen an den Bullaugen platt. Ein Dreikäschoch glaubte vor der Küste die Finne eines Schwertwals ausmachen zu können, ein anderer den Weißen Hai. Ein australischer Pensionär konnte Einbäume und halb nackte Hula-Mädchen sehen und geriet darüber ins Schwärmen. Seine Frau riet ihm schließlich, leise zu sein.
Hanny lächelte indigniert. Sie war keine Touristin oder malihin, wie die Einheimischen sagen. Sie flog nach Hause. Jedenfalls stand ihr Name an der Tür.
Hanny Porter und ihr Mann hatten das Haus vor zehn Jahren als Kapitalanlage gekauft – ein schmucker, moderner Bungalow, den sie das Jahr über an Schießbudenfiguren aus aller Welt vermieteten, an gestresste Manager oder honeymooners, die hier im Rausch der Hormone ein paar Wochen laichten. Hanny fand den fremden Zeugungsakt zwischen ihren Laken noch immer eine unappetitliche Vorstellung. Manche der Gäste hatten doppeldeutige Dankesbezeigungen hinterlassen, man wurde das Kind, im Falle eines Mädchens, nach ihr benennen und Ähnliches. Das Gästebuch strotzte von allgemeiner Zufriedenheit. Auch die Porters hatten allen Grund, zufrieden zu sein: Der Strom der Urlauber finanzierte ihnen die Hypothek, und eines schönen Tages wäre der Bungalow abbezahlt. So einfach konnte das Leben sein.
Zweimal im Jahr gönnten sich die Porters selbst etwas Urlaub. Gewöhnlich verlief das Unternehmen wie eine Norman-Schwarzkopf-Attacke: in drei Wellen. Hanny, die «Aufklärungseinheit», flog voraus und füllte den Kühlschrank. Sie bezog die Betten frisch und schrubbte die Wanne sorgfältig aus. Vierundzwanzig Stunden später erschien ihr Mann auf dem bereiteten Terrain und schließlich folgten ihre Jungs als Nachhut. Immer häufiger ließ diese Nachhut auf sich warten, denn die Kids gingen in letzter Zeit ihrer eigenen Wege. Jonas und Robert hatten feste Freundinnen, und Mark, der Jüngste, begann auch, sich für pickelige Teenager zu interessieren. Richard war das ganz recht. Er wollte seine Ruhe, und die ewigen Fachsimpeleien seiner Söhne über Surfbretter und Riffe waren diesem Bedürfnis nicht gerade zuträglich: «Auf einer Welle gibt‘s kein Wenn und Aber, Dad. Entweder hast du es drauf oder nicht …» Die Tatsache, dass sein Ältester unverhohlen Pakalolo – einheimisches dope – rauchte, hatte allerdings ein Jahr davor zu einem Riesentheater geführt. Dabei war er in Jonas‘ Alter nicht anders gewesen, er hatte Pot geraucht und in Washington gegen Nixon und Vietnam protestiert.
Aber das war lange her, und Hanny ahnte, was in jüngster Zeit in ihm vorging. Richard hatte sein Leben lang hart gearbeitet. Jetzt war er alt genug, um an seine Pensionierung zu denken – und an die Rentenfonds, von denen sie leben würden. Das Ende vom Lied. Letztes Jahr war er bereits «Wimbledon West» beigetreten, dem mit 200 $ Greenfees teuersten Golf-Club der Insel, und für diesen Sommer hatte er sich vorgenommen, Stunden zu nehmen. Irgendwann wurden sie ganz nach Makena ziehen und ihren Lebensabend am Rande des Pazifik verdämmern. Sorgen- und schuldenfrei. Die Kinder wären aus dem Haus. Auch das erledigt. Richard wäre die Ruhe selbst, ein großer, alter Mann, der viel Golf spielt. Hanny wurde ihm zusehen, von ihrem Caddy aus, und immer nur lächeln. Sie sähe attraktiver aus als früher, und Richard wurde sie anhimmeln.
Alles wäre perfekt.
Aber noch war es nicht so weit.
Vom Flughafen aus nahm Hanny ein Taxi, das sie auf der staubigen Küstenstraße über Wailea nach Makena brachte.
Der Taxifahrer war ein elender Schwätzer.
«So, howzit, Lady, wie geht‘s? Goody sunshine …»
Der Wagen stank wie eine Kifferbude, und am Handschuhfach klebte der Wahlspruch einer Eskort-Agentur aus Kihei: «Big, small … we do it all.» Hanny hatte den debilen Reim schon öfters in Taxis gesehen und machte den fortschreitenden Massentourismus für den Verfall der Sitten verantwortlich. Hawaii galt inzwischen als drittgrößter Einfuhrhafen für Heroin aus dem Fernen Osten. Ob sich das der Große Kamchameha, Napoleon des Pazifiks, jemals hätte träumen lassen? Auch das Geschäft mit der Prostitution blühte wie nie zuvor, und die Kuhio Avenue in Waikiki konnte seit Langem mit dem Sunset-Strip mithalten. An jeder Ecke lauerten Mahjong-Zocker auf ahnungslose Touristen.
«Howzit, Lady? – Nice fly? – Oh, Sie sind cool … Just sea, sex’n‘sun … No hubby, eh? – Schon was vor heute Abend?»
Offenbar hielt er sie für eine reiche, amerikanische Bums-Touristin, denn sie wäre nicht die Einzige auf der Insel gewesen.
«Halt den Rand, Schwätzer», versetzte sie ihm grob.
Der Fahrer machte ein entsetztes Gesicht, als ob er irgendwie aufgeflogen wäre.
«Kein Hotel, eh?»
«Aole, ich lebe hier. Wikiwiki, man.»
«Sorry, Lady.» Er gab Vollgas und schien sich jetzt auf die Fahrt zu konzentrieren. Die Landstraße führte in südwestliche Richtung, dorthin, wo es noch echte hawaiianische Wildnis gab: Golfplätze und kostspielig bewässerte Palmenhaine, die mit jedem botanischen Garten konkurrieren konnten.
Kuaaina, dachte Hanny. Landschaft. So nannten die Einheimischen ihre Insel. Das war davon übrig geblieben.
Maui war ein künstliches Paradies wie Las Vegas. Tag für Tag wurden hier Unmengen frisches Wasser in den Boden gepumpt, damit der Rasen schön grün blieb. Den Porters war das egal, sie konnten ihre Wasserrechnung bezahlen. Ihr Bungalow «Porter‘s Paradise» – der Name war Richard eingefallen – lag am äußersten Zipfel von Makena, einen Katzensprung entfernt von der See, die sich an dieser Stelle mit ungeheurer Wucht auf die zerklüfteten Basaltfelsen stürzt.
Auf der Rückseite wucherte ein dichter Mangroven-Hain, und schützte vor neugierigen Blicken. Hanny sonnte sich gern nackt. Es gehörte gewissermaßen zu ihren ehelichen Pflichten; Richard mochte keine Bikinistreifen.
Es waren letzten Endes die Kleinigkeiten, auf die es ankam.
Der Taxifahrer trug ihr noch die Koffer zur Tür.
Hanny gab ihm zwei Dollar Trinkgeld.
Weil er den Mund gehalten hat, sagte sie sich.
Kaum war der Wagen abgefahren, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und schlüpfte in ihre ausgelatschten zoris, die Badeschuhe, die wie immer neben dem Abtreter standen.
Hanny liebte ihr Haus. Ein vergleichbares Eigenheim in Kihei kostete inzwischen anderthalb Millionen Dollar. Früher hatte Richard mit dem Gedanken gespielt, ein größeres Anwesen in Wailea zu kaufen. Aber das hätte bedeutet, neben Einheimischen zu wohnen und Monstertrucks und ewigen Hula-Tam-Tam ertragen zu müssen. Die jungen Polynesier krakeelten rund um die Uhr. Hanny hätte sich dort nicht sicher gefühlt. Sie wusste genau, was sie an Makena Surf hatte: Die Anlage war eingezäunt und vierundzwanzig Stunden am Tag bewacht. Selbst nachts schlichen Wachleute um die Villen.
Willkommen zu Haus, Hanny …
Aber diesmal war es anders. Schon als sie die Tür öffnete, glaubte sie etwas Fremdes zu riechen. Es war eine unscheinbare Geruchsnote, etwas aus dem alkalischen Bereich. Hanny vermutete, Miranda, die Putzfrau, hätte sich wieder am Salmiakgeist vergriffen.
Diese Einheimischen, dachte sie, die werden nie lernen, wie man mit Chemikalien umgeht … Nachdem sie ihre Koffer abgestellt hatte, ging sie ins Badezimmer, und dort, vor einem Duschvorhang mit aufgedruckten Lotosblüten, schluckte sie zwei Prozac und zog ihren wasserfesten Eyeliner nach. Anschließend öffnete sie alle Fenster in der Glaswand und die Schiebetür zur Terrasse.
Die frische Luft und der herrliche Ausblick brachten sie sofort auf andere Gedanken. Gleich nachdem sie geduscht hatte, legte sie etwas aromatherapeutischen Lippenstift auf und setzte sich dann in die Sonne.
Das Licht spielte auf ihren Brüsten, und sie musste an Richard denken, der wahrscheinlich an seinem Schreibtisch saß und die Jahresbilanz der Hühnerfarm polierte. Der Umsatz war in den letzten Jahren enorm gestiegen. Nach der Modernisierung – vollautomatische Futterstraßen –, die Richard eingeführt hatte, war der Bestand auf zwei Millionen Hennen gewachsen. Der Betrieb galt inzwischen als Hauptlieferant von Kentucky Fried Chicken. Der Umsatz hatte sich verzehnfacht, und der nüchterne Richard war jetzt Vize-Präsident. Nicht schlecht für einen ehemals politisch engagierten Ex-Hippie. Auf den gerupften Rücken unzähliger Hennen hatte er Karriere gemacht.
Hanny hatte ihn immer bewundert, wie er an all seinen Kollegen vorbeigezogen war. Jetzt hatte er es geschafft und Hanny ihren strammen, gut trainierten Hintern im Trocknen.
Sie lächelte fast selig bei dem Gedanken. Es tat so gut, zu wissen, dass man ausgesorgt hatte. Natürlich war sie nicht