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Bruno, 41, ledig: Wie das Internet hilft, erwachsen zu werden
Bruno, 41, ledig: Wie das Internet hilft, erwachsen zu werden
Bruno, 41, ledig: Wie das Internet hilft, erwachsen zu werden
eBook318 Seiten4 Stunden

Bruno, 41, ledig: Wie das Internet hilft, erwachsen zu werden

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Über dieses E-Book

Nach mehr als 40 Jahren im Bannkreis seiner alkoholkranken Mutter sucht Bruno den Eingang in ein neues Leben. Mit Unterstützung seines Kollegen Paul und der Nachbarin Rose startet er den Versuch, das eigene Ich neu zu entdecken. Einprägsame Erlebnisse bei der Partnersuche im Internet offenbaren viele Fallstricke, erzeugen zwanghafte Sehnsüchte und führen schließlich zu der banalen Erkenntnis, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Mai 2023
ISBN9783757834128
Bruno, 41, ledig: Wie das Internet hilft, erwachsen zu werden
Autor

Martin Ziegler

Martin Ziegler ist Pensionär, 74 Jahre, und hat seine Talente früh entdeckt, aber viel zu spät genutzt. Er ist begeisteter Musiker, Maler, Golfspieler und Autor.

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    Buchvorschau

    Bruno, 41, ledig - Martin Ziegler

    1

    Der kleine Plastikwecker nimmt um 06:00 Uhr die Arbeit auf. Ein zunächst schüchterner, dann aber sehr heftig anschwellender, aggressiver Brummton findet Brunos empfangsbereite Ohren. Die penetrant hohen Frequenzen bearbeiten das Trommelfell, bis das Gehirn den Empfang quittiert und den Befehl weitergibt: „Augen auf!".

    Manchmal weiß Bruno wirklich nicht, an welchem Wochentag er soeben gerade wach geworden ist. So ein Manchmal ist gerade heute. Sein Blick wandert zu dem Wandkalender, der rechts neben seinem Bett über dem Schreibtisch mit dem alten Computer hängt. Der rote Plastikreiter zeigt auf die Sechs und beantwortet alle Fragen nach Tag und Monat. Es ist der erste Montag im Juli des Jahres 2018. Bruno gähnt und zieht sich seine dünne, gesteppte Decke noch einmal über den Kopf. Seine rechte Hand streicht tastend über den Nachttisch. Sie findet ein kleines Transistorradio und zieht es unter die Bettdecke. Ein paar Sekunden später berichtet ein kaum verständlicher Sprecher, dass Frankreich und England um den Einzug ins Halbfinale der WM spielen. Als dann der Wettermann einen wolkigen Tag mit siebzehn Grad ankündigt, schiebt Bruno die Bettdecke mit beiden Beinen von sich und richtet den Oberkörper auf. Er wirft einen Blick auf seine dünnen Beine und stellt das Radio zurück auf den Nachttisch. Er streckt die Arme nach vorn, um nach seinen Zehen zu greifen. Enttäuscht stellt er fest, dass sein stattlicher Bauch die geplante Übung verhindert. Also heute keine Gymnastik. Seit 41 Jahren, von seinem ersten Tag an, lebt er nun schon in diesem Zimmer, in diesem Haus. Anfangs zusammen mit seinen Eltern, jetzt nur noch mit seiner Mutter. Hier wartet er Tag für Tag darauf, dass etwas passiert. Er hat keine Ahnung, worauf er wartet, was passieren sollte. Dass sich etwas ändert. Was soll sich ändern? Er hat keine Ahnung und denkt auch nicht besonders oft darüber nach. Bruno setzt sich an die Bettkante und stochert mit dem rechten Fuß unter dem Bett nach dem noch fehlenden Filzpantoffel. Nachdem er sich aufgerichtet hat, bleibt er einige Sekunden ziemlich unsicher stehen. Dann schlurft er zum Fenster und zieht den schmutziggrauen Store ein Stück zurück. Seine müden Augen mustern misstrauisch den Himmel und die grauen Regenwolken. Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums gegenüber stehen bereits die ersten LKWs. Bruno sieht, wie die Fahrer um die besten Stellplätze streiten. Die Rückwände der Lastwagen öffnen ihre Mäuler, turmhohe, folienverschweißte Pakete kommen zum Vorschein. Von den LKW-Laderampen werden die ersten Paletten gehievt und lautes Rufen und Geschrei weckt den Rest der umliegenden Nachbarschaft.

    Bruno beobachtet das Treiben einige Minuten lang, dann schließt er wieder den Vorhang. Die Radiowellen überfordern das kleine Radio, es krächzt, knistert und rauscht. Nur der echte Kenner addiert die zeitweise erkennbaren Musikfetzen zu diesem ‚Ketchup-Song‘. Es ist nicht Brunos Musik. Sie passt nicht zu ihm, das beweist auch das an der Wand hinter dem Fußende seines Betts hängende Tour-Plakat. Es zeigt die Gruppe ‚Die Flippers‘ im November 1997 in Stuttgart, ein Konzert, von dem Bruno heute noch schwärmt. Das knallgelbe Poster mit dem roten ‚Herz aus Schokolade‘ klebt schief auf der rotbraunen Tapete. Wie jung die Jungs noch sind!

    Darunter, auf der Schubladenkommode steht auf einer Häkeldecke ein Porzellanengel mit ausgebreiteten Armen. Gleich daneben liegt eine aufgeklappte, leere CD-Hülle. Benno schaltet das Radio aus und geht, begleitet von einer nicht erkennbaren Version von ‚Lady Bonita‘ zu seinem Kleiderschrank.

    Die beiden fast zwei Meter hohen Spiegel der Ikea-Schranktüren füllen sich mit einer 1,65 m großen Gestalt, unvorteilhaft bekleidet mit einer Feinripp-Unterhose und braunen Filzpantoffeln. Bruno betrachtet sich sehr ausgiebig, streicht sich einmal über das dunkelblonde Stoppelhaar und über den nicht sehr vollen Vollbart. Während er mit der Handfläche der linken Hand den Takt auf seinem nackten Bauch trommelt, öffnet er mit der Rechten den Schrank und greift nach seiner Latzhose. Die blaue Schrift auf gelben Grund auf dem Hosenlatz outet das Stück als Eigentum eines Praktiker-Baumarkt. Herrn Bruno Heisterkamp leihweise überlassen für seine Tätigkeit im Lager der Niederlassung in Nürnberg-West. Nach einem prüfenden Blick in seine Unterhose ist Bruno überzeugt, dass ein Wechsel durchaus noch einen Tag warten kann. Ein weißes T-Shirt vervollständigt das Outfit, Bruno steigt in seine Arbeitsmontur. Er dreht und wendet sich vor seinem Spiegel wie beim Anprobieren eines Hochzeitsanzugs. Er steckt noch barfuß in seinen Filzpantoffeln, packt deshalb ein Paar Socken in seine Hosentasche. Mit einem letzten prüfenden Blick durch das Zimmer macht er sich auf den Weg ins Bad.

    Die Tür nebenan ist zu, seine Mutter scheint noch zu schlafen. Er geht ganz leise durchs Wohnzimmer, trotzdem hört man bei jedem Schritt das Knarren des Dielenbodens. Auf dem Glastisch vor der Couch aus abgewetztem Cord steht noch ein voller Aschenbecher. Unter dem Tisch liegt eine scheinbar leere Weinflasche. Eine andere, noch halbvolle Flasche der gleichen Marke steht provozierend neben einem leeren Weinglas mit Lippenstiftspuren.

    Bruno geht zum Fenster und schiebt angewidert den nach Zigarettenrauch stinkenden Store zur Seite. Er öffnet die beiden Fensterflügel, die frischen Luftmassen wälzen sich träge in den Raum und nehmen den Kampf auf gegen Nikotin, Ruß und Alkohol. Bruno atmet kräftig durch und nimmt dann Weinflaschen, Glas und Aschenbecher vom Tisch und bringt alles in die Küche. Dort hat er Mühe, einen freien Platz zum Abstellen seiner Fracht zu finden. Er schiebt mit dem Ellbogen einige Teller und Schüsseln beiseite und platziert das Glas und den Aschenbecher daneben. Der Weinkarton für die leeren Flaschen quillt bereits über, Bruno stellt das Leergut einfach daneben ab.

    Der Inhalt der Plastiktüte im Abfalleimer verströmt einen beißenden Geruch, Bruno wird übel. Er zieht den Beutel heraus und leert noch zwei weitere herumstehende Aschenbecher darin aus. Er verknotet den Beutel und stellt das Paket neben der Tür ab. Danach geht er schnell zum offenen Fenster und gönnt seinen Lungen wieder eine Portion Sauerstoff.

    Die orange Porzellanuhr an der Wand drängt Bruno zur Eile, sein Arbeitsbeginn ist um 7:30 Uhr. Er kann es sich absolut nicht leisten, zu spät zu kommen. Er stellt das herumstehende Geschirr in die Spüle und geht ins Badezimmer gegenüber der Küche. Das kleine Fenster ist gekippt, Bruno registriert Regentropfen auf dem Glas und flucht. Während die linke Hand die Zahnbürste im Mund bewegt, hebt er mit der anderen den Deckel der Toilette an und leert seine Blase mit einem festen Strahl. Er wirft sich noch zwei hohle Hände voll Wasser ins Gesicht und kramt an der Garderobe nach seiner Regenjacke. Er schlüpft barfuß in seine schweren Sicherheitsschuhe, schleicht langsam zur Schlafzimmertür und öffnet sie einen Spalt. Seine Mutter liegt bäuchlings auf ihrem Bett, sie trägt noch immer ihr rotes Schürzenkleid und das hellblaue Kopfkissen hat einen dunklen Fleck dort, wo ihr offener Mund von Zeit zu Zeit Fäden von Speichel absondert. Ihre roten Schuhe liegen achtlos hingeworfen auf dem schmuddeligen Bettvorleger, daneben ihre Handtasche. Die stickige Luft aus dem Wohnzimmer hat sich auch hier ausgebreitet. Seine Mutter atmet laut. Stoßweises Schnarchen gibt Bruno die Gewissheit, dass noch Leben in ihr ist. Er schließt die Tür, nimmt den vollen Abfallbeutel und verlässt leise die Wohnung.

    Ein Stockwerk über ihm wird eine Tür zugeworfen, man hört das Einschnappen des Türschlosses. Von oben kommt Bruno das Klopfen dünner Schuhabsätze auf den Holzstufen entgegen. Mit dem Müllbeutel in der Hand bleibt er vor der Treppe stehen und wartet. Das Klopfen hört zwei Treppenstufen über ihm auf. Er blickt sich um.

    Bruno sieht wohlgeformte Beine, einen weinroten Rock und eine weiße Bluse mit großem Kragen. Über der Bluse ein Blazer, der mit zwei goldglänzenden Knöpfen vorne geschlossen ist. Eine braune, blond gesträhnte Pagenkopffrisur umrahmt ein jugendliches Gesicht mit braunen Augen. Ein kleiner Mund, zwei süße Grübchen und die kecke, etwas zu kleine Nase sorgen für einen spitzbübischen Gesichtsausdruck. Als sich dann auch noch der Mund zum Sprechen öffnet, bestätigen die weißen Zahnreihen den sympathischen Gesamteindruck.

    „Guten Morgen, Bruno."

    „Guten Morgen, Frau Doktor, sagt Bruno und lächelt seine hübsche Nachbarin an, „so früh schon wieder auf dem Weg in die Klinik?

    Frau Dr. Rosemarie Richling ist Ärztin für Anästhesie in der Birkenwaldklinik in Nürnberg-West. Sie wohnt seit einem Jahr im ausgebauten Dachgeschoss. Bruno war vom ersten Moment an fasziniert von ihr, denn sie bat ihn um seine handwerkliche Unterstützung in den ersten Tagen des Umzugs. Er war sich ziemlich armselig vorgekommen, als er in seiner Arbeitsmontur mit dem Werkzeugkasten in der Hand das erste Mal vor ihrer Tür stand. Aber während er Nägel einschlug, Löcher bohrte und Schränke aufbaute, lernte Bruno die Ärztin in diesen Tagen immer besser kennen. Er genoss ihre ehrliche Freundlichkeit und seine Faszination wandelte sich immer mehr in eine stille, unausgesprochene Verliebtheit. Doch Bruno war nicht ganz dumm. Deshalb verstand er sofort, dass Rosemarie Richling ihn zwar nett fand, gern mit ihm plauderte und scherzte, er sich aber keinesfalls Hoffnungen auf mehr machen sollte. Und das tat er auch nicht. Jedenfalls nicht sofort. Zusammen gehen sie hinunter zum Hauseingang.

    „Heute Nacht habe ich wieder deine Mutter gehört, sagt Rose und Bruno darf sie mittlerweile auch so nennen, „sie war ziemlich laut. Geht es ihr gut?

    „Sie hat noch geschlafen, als ich eben gegangen bin, antwortet Bruno und seufzt, „es waren wieder fast zwei Flaschen Wein. Weiß der Himmel, wo sie die immer wieder herbekommt.

    „Hast du ihr den Vorschlag mit der Suchtklinik gemacht?, fragt Rose, „dann hättest du mal für ein paar Wochen Ruhe.

    Mittlerweile stehen sie beide vor der Haustür. Bruno bringt den Müllsack zur Tonne. Dann begleitet er Rose zu ihrem roten Audi 80, der einige Meter vom Haus entfernt am Straßenrand geparkt ist.

    „Ich habe es wirklich versucht, Rose. Sie hat dann aber den Aschenbecher nach mir geworfen. Die Antwort war also ziemlich deutlich, stöhnt Bruno und zuckt mit den Schultern. „Aber glaub mir, Rose, ich schaff das schon irgendwie, du brauchst dich damit nicht belasten. Ich muss jetzt los. Während Bruno sein Fahrrad aus dem Haltegestell nimmt, winkt Rose ihm noch einmal zu und steigt in ihr Auto.

    Bruno radelt in Gedanken versunken im morgendlichen Berufsverkehr die Geisseestraße entlang. Das Bild seiner schlafenden Mutter auf dem Bett hat er ständig vor Augen. Er dachte, er hätte gelernt, damit zu leben, aber da hat er sich wohl geirrt. In solchen Momenten zwingt er sich dann immer angenehme, wohltuende Erinnerungen in seinen Kopf. Erinnerungen an eine sanfte, liebevolle Mutter, an eine stolze, lustige Frau, überquellend vor Lebensfreude und Optimismus. Es hilft ihm meist nur kurz. Diese Person hat er zusammen mit seinem Vater vor 25 Jahren begraben. Nach dem frühen Tod von Georg Heisterkamp war nichts mehr, wie es war.

    Es fing langsam, sogar sehr unauffällig an, er brauchte lange, bis er die Veränderungen bemerkte. In den ersten Jahren hatte sie noch einige Freundinnen. Die bemühten sich, sie aus der unerwartet eingetretenen Lethargie zu holen. Sie begleiteten sie öfter ins Kino oder gingen mit ihr ins Theater. Sie saßen mit ihr im Café und besuchten sie auch regelmäßig zu Hause. Ein paar Jahre später erkrankten drei der Freundinnen. Als dann die vierte dem Leberkrebs erlag, war Maria nicht mehr stark genug, dem Leben eigenständig entgegenzutreten. Bruno musste hilflos zusehen, wie der Alkohol heimtückisch und aufdringlich in den Tagesablauf und in die Nächte eindrang. Er raubte ihr jede Energie. Er sorgte auch dafür, dass sie ihre feste, gute Anstellung als Näherin in einer nahegelegenen Schneiderei von einem auf den anderen Tag verlor.

    Bruno wird unaufmerksam und kommt dem Autoverkehr auf der Fahrbahn gefährlich nahe. Ein Fahrzeug hupt aggressiv und lautstark. Er richtet seine Konzentration wieder auf die Straße und an der nächsten Ampel nimmt er den Fußgängerüberweg, der direkt in den Parkplatz des Baumarkts führt. An der großen Lagerhalle ist das Rolltor bereits hochgezogen. Bruno schiebt seinen Drahtesel in eine Nische hinter dem Büroverschlag und startet seinen Arbeitstag. Die Türen des Markts werden um 8:30 Uhr geöffnet. Sofort danach beginnt der Strom der Kunden zu fließen und die blaugekleideten Mitarbeiter verteilen sich entsprechend der festgelegten Organisation auf die verschiedenen Themenbereiche.

    Bruno wird keinen Kundenkontakt haben. Sein Chef hat ihm von Beginn an unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihm beratungsintensive, eigenständige Verkaufsgespräche nicht zutraut. Seine Ausdrucksweise sei zu derb, schnörkellos und leider immer brutal ehrlich. Bruno legt keinen Wert auf Diplomatie, er sagt was er denkt. Er macht sich nicht die Mühe, seinen fränkischen Dialekt zu verbergen, seine Gesprächspartner sehen ihn oft fragend und verständnislos an. Sie warten auf eine Übersetzung ins Hochdeutsche. Auch seine äußere Erscheinung ist im hinteren Lagerraum weniger störend als im Verkaufsraum des Marktzentrums, im Lager fällt sein ungepflegtes Äußeres nicht besonders auf. Dass er mittlerweile auch nicht mehr problemlos hinter das Steuer des Gabelstaplers kommt, verdankt er dem Umfang seines mittlerweile deutlich dominierenden Bauchs.

    Bei seinen Kollegen ist ‚Rolli‘, wie sie ihn wegen seiner Statur liebevoll nennen, beliebt. Rolli ist wie kein anderer stets bereit, für wen auch immer, Zusatzaufgaben freiwillig zu übernehmen. Er steht für anstehende Wochenenddienste immer zur Verfügung und seine Vesperbrote verteilt er meist großzügig. Bruno hat noch nie einen Gedanken daran verschwendet, ob man seine Gutmütigkeit und seine stets gezeigte Kollegialität vielleicht nur ausnutzt. Ein Schulterklopfen genügt und Bruno ist stolz und hat das Gefühl, ein wichtiger Teil eines guten Teams zu sein.

    „Na, Rolli, wie war Dein Wochenende? Wieder mal was richtig Fettes abgeschleppt? Du warst doch sicher wieder im Reichelsdorfer Keller, mit Tischtelefon und so."

    Paul Feichter, der Fliesenleger, grinst Bruno an und klopft ihm mit der Faust an die Brust. Im Hintergrund beginnen einige andere Kollegen schon zu kichern. Sie wissen, dass der gutmütige Bruno gerne und ausführlich von seinen Aktivitäten berichtet. Er bemüht sich stets nach Kräften, alle Details erschöpfend zu beschreiben. Seine Naivität gaukelt ihm fälschlicherweise ein ernsthaftes Interesse der Kollegen an seinen Geschichten vor. Die aber machen sich hinter seinem Rücken lustig über seine tölpelhaften Bemühungen, endlich die Liebe, die Frau seines Lebens zu finden.

    „Nein, gestern war ich im Café Nobis in Schwabach. Hab zwar ein paar Mal getanzt, aber die Auswahl war diesmal nicht besonders", berichtet er bereitwillig und nicht ganz wahrheitsgemäß.

    Tatsächlich saß er den ganzen Abend mit vier anderen Gästen und einer Flasche Bier allein an seinem Tisch. Er hoffte vergeblich darauf, dass die einzige, anwesende Frau bei der ausgerufenen Damenwahl ihn wählen würde. Er selbst brachte nicht den Mut auf, sie selbst aufzufordern. Es war eigentlich deutlich erkennbar, dass sie ebenso wie Bruno ständig darauf hoffte, dass sich jemand ihrer erbarmte. Nicht zuletzt verpasste er dann auch noch den letzten Bus zurück nach Nürnberg. Er war gezwungen, 25 Euro für eine Taxifahrt auszugeben.

    „Ich werde es jetzt wirklich mal über das Internet versuchen, verkündet er dann stolz, „da soll es ja ganz einfach sein mit der Partnerwahl.

    Wieder erntet er zustimmendes Kopfnicken, bekommt die anerkennenden, nie ernst gemeinten Klopfer auf die Schulter und die üblichen witzigen und aufmunternden Kommentare. Die zotigen und abfälligen Bemerkungen, die ständig gemacht werden, während die Kollegen sich wieder zurück zu ihren Bereichen begeben, hört Bruno gottseidank nicht. Er steigt gerade auf seinen Drahtesel, als Paul nochmal auf ihn zukommt. Er hat eine Broschüre in der Hand und wedelt damit vor Brunos Nase herum.

    „Ich habe hier was ganz Spezielles für dich, sagt er mit geheimnisvoller Stimme, „nimm es und lies dir das mal durch. Wir können darüber reden, wenn du möchtest. Und ich helfe dir gern dabei. Bruno stellt sein Fahrrad in den Ständer zurück und blättert in dem Papier. Die Überschrift ‚Bildflirt‘ ist vielversprechend, er sieht Paul fragend an. „Was soll ich damit?, fragt er unsicher, „ich habe mich doch schon angemeldet.

    „Das ist ein neuer Ratgeber, so eine Art ausführliche Beschreibung. Quasi eine einfache Bedienungsanleitung fürs Leben", erklärt ihm Paul, „so ähnlich wie ‚Partnersuche für Dummies‘ oder ‚Partner finden – leicht gemacht‘. Arbeite dich da durch, dann bist du fit für den Fleischmarkt."

    „Wieso Fleischmarkt?", fragt Bruno argwöhnisch.

    „Das sagt man so, weil man auf der Suche nach frischem Fleisch ist, schiebt Paul ungeduldig hinterher, „jetzt lies es einfach. Wenn du Fragen hast, komm zu mir. Dann fällt ihm noch etwas ein. „Und von selber kommt keine Frau zu dir, denk dran. Du musst aktiv werden, sonst passiert nichts. Aktiv werden! Was tun dafür! Klar?" Paul steigt in sein Auto und lässt Bruno stehen, der ihm mit offenem Mund und der Broschüre in der Hand hinterherblickt.

    2

    Brunos Schicht an diesem Montag endet um 17:00 Uhr, der Regen hat aufgehört und er macht sich auf den Weg nach Hause. Mit gemischten Gefühlen stellt Bruno sein Fahrrad vor dem Haus ab. Ein paar Kinder sehen ihn vorwurfsvoll an, weil er mit seinem Rad eines der Kellerfenster, ein Tor für ihr Fußballspiel, versperrt. Bruno schiebt sein Gefährt an eine Stelle etwas außerhalb des Spielfelds und erntet dankbare Blicke der kleinen Fußballer. Er öffnet die Haustür, steigt nach oben in den ersten Stock und betritt die Wohnung.

    Im Flur dringt ihm Essiggeruch in die Nase, vielleicht wurde wirklich etwas gereinigt. Bruno geht hoffnungsvoll in die Küche, sieht sich aber demselben Chaos gegenüber, das er am Morgen verlassen hatte. Seine Mutter ist nirgends zu sehen, das Wohnzimmer ist ebenfalls noch in unverändertem Zustand. Sogar die Fenster stehen immer noch sperrangelweit offen. Darunter hat sich auf dem Dielenboden eine große Wasserlache gebildet. Gottlob war die Regendauer heute nur kurz, der Schaden hält sich in Grenzen. Aus der Küche nebenan holt er einen Putzlappen und einen Eimer, wischt das Wasser auf und stellt den Eimer in den Flur.

    Auch das Schlafzimmer ist leer, das weiße Laken, die Bettdecke und der hellblaue Bezug der Kissen sind zerknüllt und verknittert und übersät mit Flecken. Neben dem Bett steht erneut eine leere Weinflasche, daneben ein gläserner Aschenbecher. Auf dessen Rand liegt noch eine abgebrannte Zigarette. Die Asche ist noch bis zum Filter erhalten, sie hatte also noch gebrannt, als die Mutter das Zimmer verließ. Bruno schüttelt verzweifelt den Kopf. Er weiß, wie sinnlos es sein wird, seine Mutter damit zu konfrontieren. Abhängig von ihrem jeweiligen Zustand ist ihre Reaktion entweder gleichgültig oder zornig. Auf jeden Fall kann er nicht auf Einsicht oder Verständnis hoffen. Seine persönliche Verantwortung für die Mutter, die Wohnung und für sich wächst unablässig und droht ihn zu erdrücken.

    Er geht in sein Zimmer, schält sich aus seiner Latzhose und tauscht sie gegen seine Jogginghose. Seine Füße haben seit dem Morgen noch keine Socken gesehen und auch jetzt steckt er wieder barfuß in seinen Filzpantoffeln. Er marschiert in die Küche, nimmt das schmutzige Geschirr aus der Spüle und lässt Wasser ins Becken laufen. Er säubert Porzellan und Gläser und wischt anschließend noch die Arbeitsplatte trocken. Der Mülleimer wird mit einem neuen Beutel bestückt. Den Karton mit den leeren Flaschen stellt er zum späteren Abtransport in den Flur, daneben einen Einkaufskorb mit dem restlichen Leergut.

    Er sieht sich ernüchtert in der Küche um, sein Blick fällt auf den zweiteiligen Kühl-Gefrierschrank. Er öffnet ihn. Man könnte getrost den Stecker ziehen, geht ihm durch den Kopf. Der Inhalt beschränkt sich auf eine halbvolle Flasche Wodka, ein angebissenes Stück Käse und eine Tüte haltbare Milch. Der Gefrierschrank ist ebenso spärlich bestückt. Vier Kartons Pizza im obersten Fach, ein eingeschweißtes Paket Nürnberger Bratwürste schlummert einsam in der mittleren der drei Schubladen.

    Für eine abwechslungsreiche Ernährung sorgt Bruno durch die Auswahl unterschiedlicher Beläge auf seinen Pizzavarianten. Von Zeit zu Zeit findet aber auch ein kompletter Blumenkohl und ein Broccoli den Weg über den Kochtopf auf seinen Teller. Er hat nie gelernt, richtig zu kochen, es war auch nie erforderlich. Seine Mutter ist bzw. war früher eine hervorragende Köchin. Mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln zauberte sie trotzdem immer wohlschmeckendes Essen auf den Tisch. Das ist lange her. In den letzten Jahren griff auch sie auf das reichhaltige Angebot der Fertiggerichte zurück, die sie lange verteufelt hatte. Bruno hat sich damit abgefunden, er sorgt schon längere Zeit für sich selbst. Sein nicht sehr üppiges Gehalt reicht aus, um täglich mindestens einmal satt zu werden. Wofür seine Mutter ihre Rente ausgibt, darüber macht er sich schon lange keine Gedanken mehr.

    Er nimmt den vollen Leergutkarton unter den linken Arm und greift mit der rechten Hand die Einkaufstasche mit den restlichen Flaschen. Dann öffnet er mit dem Ellbogen die Wohnungstür. Vorsichtig balanciert er seine gläserne Last Stufe für Stufe nach unten in den Hof.

    Neugierige Blicke aus den umliegenden Fenstern begleiten den Weg jeder einzelnen Flasche. Alle verschwinden sie klirrend im Schlund des Containers. Bruno blickt nach oben zum Nebenhaus. Blitzschnell taucht das Gesicht wieder ab, das eben noch hinter dem Vorhang zu sehen war. Die alte Frau Schneider führt sicher wieder Strichlisten, denkt sich Bruno, bei welcher Summe sie wohl mittlerweile ist? Mit dem leeren Karton und der Einkaufstasche in der Hand stapft er zurück ins Haus. Als er vor der Treppe steht, wird die Haustür geöffnet.

    Maria Heisterkamp trägt immer noch das rote Schürzenkleid, mit dem Bruno sie bereits auf dem Bett liegen sah, dazu die roten Schuhe, keine Strümpfe. Das Kleid wird nur notdürftig mit einem dünnen Band zusammengehalten, der Ansatz ihres Busens ist sichtbar. Scheinbar trägt sie auch keine Unterwäsche. Von der einst für teures Geld gemachten Dauerwelle pendeln nur noch vereinzelt strähnige Locken um den Kopf, das Haar sieht ungepflegt und fettig aus. Maria hat den Türgriff noch in der Hand, als sie Bruno auf der Treppe stehen sieht.

    „Jetzt steh hier nicht rum, nimm mir das ab", knurrt sie ihn an und streckt ihm eine Plastiktüte entgegen.

    Bruno steht wie versteinert, als er ins Gesicht seiner Mutter sieht. Um ihre Augen haben sich dunkle Ringe gebildet, ihre Augäpfel enthalten mehr rot als weiß und links und rechts von ihrer Nase ziehen sich zwei tiefe Falten bis unter den Mund. Ihre Gesichtsfarbe ähnelt der des nikotingeschwängerten Stores aus dem Wohnzimmer, ihr Atem verbreitet den Geruch von billigem Schnaps. Die Finger, die aus dem Tragegriff der Plastiktüte ragen, sind gelb verfärbt und die Ränder ihrer Fingernägel sind so schwarz wie Brunos Gedanken, die bei diesem Anblick beginnen, in ihm aufzusteigen.

    Er greift wortlos nach der Tüte und eindeutige Klick-Geräusche identifizieren sofort den Inhalt. Er zieht die beiden Griffe auseinander und sieht nach einem schnellen Blick seine Befürchtung bestätigt. Ein bunter Pappkarton trägt die Aufschrift ‚Schwäbischer Linseneintopf‘, daneben zwei Packungen Marlboro. An zwei Literflaschen Wein lehnt sich noch eine Flasche Chantré.

    Stumm steigen Mutter und Sohn hintereinander die Treppe nach oben bis zur Wohnungstür. Hinter den Türspionen im Erdgeschoß verfolgen neugierige Augen den Auftritt von Maria Heisterkamp. Bruno stellt die Tüte ab und kramt in seiner Hose umständlich nach dem Wohnungsschlüssel. Seine Mutter hinter ihm wird immer unruhiger, tritt von einem Bein aufs andere und wippt schließlich mit zusammengepressten Knien auf und ab. „Beeil dich, ich muss aufs Klo, jetzt mach schon!"

    Bruno öffnet eilig die Tür, seine Mutter verschwindet umgehend im Badezimmer. In der Küche positioniert er den ganzen Inhalt der Tüte auf der Arbeitsplatte. Der Kassenzettel gibt den Wert des Einkaufs mit 21,90 € an, allerdings steht auch noch eine kleine Flasche Korn auf der Quittung. Sie ist nicht beim Inhalt der Tüte zu finden. Bruno muss nicht lange darüber nachdenken. Er weiß, seine Mutter hat sich auf dem Weg vom Supermarkt bis nach Hause eine kleine Wegzehrung genehmigt. Jetzt kommt sie schwankend aus dem Bad zu ihm in die Küche. Sie öffnet umständlich eine der Zigarettenschachteln und geht mit einer brennenden Zigarette

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