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Was zu beweisen wäre: Hallsteins erster Fall
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eBook351 Seiten5 Stunden

Was zu beweisen wäre: Hallsteins erster Fall

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Über dieses E-Book

Die Geschichte spielt hauptsächlich im Tiroler Stubaital. Ein älteres Ehepaar wird zunächst vermisst und später ermordet aufgefunden. Carla, die Tochter der beiden Opfer, lebt und arbeitet derzeit in Berlin und ist mit dem Dipl. Ing. Bruno Hallstein befreundet. Sie fahren beide zum Ort des Geschehens und werden in den Mordfall mehr und mehr verstrickt. Dabei verändert sich auch ihre Beziehung zueinander, sehr zum Leidwesen von Bruno Hallstein. Viele, für Bruno oft zu viele, Gefühle und Ereignisse prasseln auf ihn ein. Wie soll er da noch den coolen Detektiven geben? Aber er ist Ingenieur und mit der ihm eigenen Systematik kann er schließlich doch Stein für Stein des Mosaiks zusammentragen. Dabei helfen ihm viele alte und neue Freunde, besonders weibliche, die ihn auch von seiner zerbröckelnden Beziehung zu seiner Carla ablenken. Brunos Methoden führen schließlich zum Erfolg: der vermeindliche Mörder wird identifiziert, seine Schuld muss "nur" noch bewiesen werden...
Kulisse der Handlung ist das wunderschöne Stubaital in Tirol. Das Skiparadies zeigt sich besonders im März von seiner besten Seite. Dass hier auch Morde geschehen, man mag es kaum glauben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Juni 2014
ISBN9783847679462
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    Buchvorschau

    Was zu beweisen wäre - Jürgen Heller

    Berlin, Freitag, 12.03.2010

    1

    Bruno Hallstein liegt auf der Seite, mit dem schweren Kopf auf seinem linken Oberarm. Der ist dadurch abgestorben, ist so taub, dass er schmerzt und Bruno davon aufwacht. Er hebt den Kopf etwas an, kann aber den toten Arm mit eigener Kraft nicht bewegen, eben tot. Er muss tatsächlich den anderen Arm zu Hilfe nehmen und schafft es dann endlich, sich auf den Rücken zu drehen. Nach einigen Augenblicken fließt das Blut wieder in seine Bahnen, und der Arm fängt an, wie wild zu kribbeln, zu stechen, tausend Nadeln. Er flucht leise und massiert das taube Etwas mit der rechten Hand. Es dauert endlose Minuten bis das unangenehme Gefühl nachlässt. Bruno bleibt noch einige Momente liegen und versucht, seine Gedanken zu sortieren. Es ist wieder spät geworden. Nicht dass er betrunken war, aber das Auto hätte er doch stehen lassen sollen. Er ärgert sich darüber, dass er sich das immer wieder vornimmt, um dann doch das Risiko einzugehen.

    Eines Tages erwischen sie dich noch.

    Jedes Mal denkt er das, hinterher. Es ist schon nach 11 Uhr und er fühlt sich unwohl im Bett. Außerdem hat er das dringende Bedürfnis nach einer Dusche und frischer Wäsche. Quasi das Gestern abwaschen und das frische Heute anziehen. Das Bett gibt bedenkliche Geräusche von sich, als er sich aufrichtet. Er hat das Gefühl, dass es ihn von Tag zu Tag mehr anstrengt seine rund 100 Kilo hochzuwuchten. Dann sitzt er zumindest mal auf der Bettkante. Das aggressive Klingeln des Telefons kommt unverhofft und so laut, dass er erschrickt. Aber irgendwie werden dadurch die Kräfte frei, die er braucht, um endgültig aufzustehen. Er läuft ins Wohnzimmer, findet das Telefon auf dem Sofa zwischen zwei Kissen, drückt die grüne Taste und stellt fest, dass er zu langsam war. Auf dem Display blinkt ein kleines Telefon und dort, wo sonst immer der Name des Anrufers zu lesen ist, steht jetzt UNBEKANNT.

    Dann eben nicht, leck mich...

    Er stellt das Telefon in die Ladestation auf dem kleinen Ecktisch zwischen Couch und Sessel. Sein Blick streift dabei den Wohnzimmertisch, der mit Zeitungen vollgepackt ist. Mindestens drei Tagesspiegel, eine Berliner Zeitung, eine Programmzeitschrift und ein Spiegel Spezial zum Schwerpunktthema Industrierevolution. Irgendwo in dem Haufen findet er die Fernbedienung für den Fernseher. Dabei stößt er eine leere Bierflasche um, die dort halb auf dem Tisch, halb auf einer aufgeschlagenen Zeitschrift etwas wackelig gestanden hat. Sie malt nun eine kleine Pfütze Bier auf dem Tisch, kullert Richtung Tischkante und fällt dann auf den Boden. Allein dieses Geräusch nervt ihn, aber mehr noch, dass er sich wird bücken müssen, um diese dämliche Flasche aufzuheben.

    Es ist zu einer Gewohnheit geworden als erstes den Fernseher einzuschalten, wenn er morgens das Wohnzimmer betritt. Meist läuft dann sogenanntes Frühstücksfernsehen. Ein berufsjugendliches Moderatorenpärchen mit zwanghafter Guter Laune taumelt zwischen Bürgerkriegen, Erdbeben, Massenentlassungen, Highlights der Fußballbundesliga, diätischen Kochrezepten und dem DAX hin und her. Und das drei Stunden lang in ewigen Wiederholungsschleifen, echt hart. Wer dabei frühstücken kann, muss völlig schmerzfrei sein. Der Fernseher gibt ein kurzes Blubb von sich, dann ein leises Knistern und endlich zeigt die Bildröhre bewegte Bilder. Aber kein Frühstücksfernsehen, sondern Werbung. Er schaltet die Kiste sofort wieder aus und wirft die Fernbedienung zurück auf den Tisch, genau zwischen die Zeitungsstapel. Eigentlich wollte er sich schon längst einen von diesen modernen flachen Fernsehern gekauft haben. Er resigniert aber jedes Mal, wenn ihm bewusst wird, dass sich dadurch nur die Qualität des Bildes, nicht die des Programms wird verbessern lassen. So schaut er immer noch mit seinem alten Telefunken-Röhrengerät.

    Er geht ins Bad, um endlich zu duschen und öffnet das Fenster, um frische Luft in das völlig überheizte Bad zu lassen, schließt es aber sofort wieder, als ihm der kalte Luftzug von draußen entgegenweht. Seine Sachen vom Vortag liegen noch da, wo er sie gestern Nacht hingeworfen hat, schön verteilt.

    Toll, schon wieder bücken!

    Ihm fällt die Bierflasche im Wohnzimmer ein. Anstatt die Sachen aufzuheben, sucht er sich erst mal frische Wäsche aus dem kleinen Schränkchen neben dem Fenster. Er findet keine passende Garnitur, also wählt er eine schwarze Unterhose und ein weißes T-Shirt. Aus dem unteren Fach schnappt er sich ein paar schwarze Socken. Er zieht beide Strümpfe über die rechte Hand, sind in Ordnung, keine Löcher! Nachdem er einmal als Kind die peinliche Situation in einem Schuhgeschäft erlebt hat, wo sein Vater mit einem kleinen Loch im Strumpf einen Schuh nach dem anderen ausprobiert hat, sind Löcher im Strumpf für ihn eine real existierende Bedrohung. Er hat schon unzählige Socken weggeworfen, selbst wenn sie nur erste dünne Stellen an den Zehen oder an der Ferse zeigten.

    Seine Mutter hat früher kaputte Socken noch gestopft. Dabei wurde der Strumpf über ein Holzteil gezogen, dass wie ein Pilz aussah und deshalb, dreimal darfst du raten, auch Stopfpilz hieß. Es war in dieser Zeit das normalste der Welt, gestopfte Strümpfe zu tragen, niemand dachte sich etwas dabei. Sie kannten auch keinen, der es sich finanziell hätte leisten können immer neue zu kaufen. Umso peinlicher war für ihn das Loch im Strumpf seines Vaters, damals im Schuhgeschäft.

    Ob es heute auch noch Frauen gibt, die Strümpfe stopfen? Ich kenne keine. Oder Laufmaschen. Lassen Frauen heute noch Laufmaschen an ihren Strümpfen reparieren? Da hat uns wohl der Wohlstand erreicht. Gibt es überhaupt noch Laufmaschen? Ich erinnere mich, dass es in Berlin ganz viele Geschäfte gab, wohin die Frauen ihre kostbaren Nylons oder Perlonstrümpfe zur Reparatur brachten. Mutter auch. Pro Masche 6 Pfennig. Meist waren es so kleine Holzbuden, gerade so groß, dass eine Person darin sitzen konnte, sozusagen Laden und Werkstatt in einem. Es waren fast nur Frauen, die diese Arbeit machten. Ich hab nie verstanden, wie das funktioniert, es muss eine Art Minilötkolben gewesen sein. Auf jeden Fall konnte man die reparierten Stellen hinterher immer noch sehen. Aber laufen konnten sie nicht mehr, die Maschen.

    Der Zeremonie im Bad ist jeden Morgen die gleiche, erst Zähne putzen, dann duschen. Unter den warmen Wasserstrahlen entspannt er sich und ist zum ersten Mal an diesem Tag zufrieden. Mit einem Stück sehr grüner, von Hand gefertigter Seife, das ihm irgendwer zum letzten Geburtstag geschenkt haben muss, schäumt er sich ein. Dann lässt er warmes Wasser über seinen Rücken laufen.

    Ob die Seife eventuell ein Geschenk von Carla ist? Könnte sein, würde auf jeden Fall zu ihr passen. Muss ich mal lobend erwähnen, kann ich ein paar Pluspunkte sammeln.

    Er kann in diesem Augenblick nicht mal ahnen, wie viele Pluspunkte er demnächst brauchen wird. Carla ist seine große Liebe, zumindest hätte er das gerne. Sie haben sich in Tirol beim Skifahren kennen gelernt, besser gesagt abends in einem kleinen Restaurant. Alle Plätze waren besetzt, und er musste am Tresen Platz nehmen. Sie saß mit Freunden an einem Tisch für 4 Personen und war ihm zunächst nicht weiter aufgefallen. Dann hörte er zum ersten Mal diesen Namen: Carla. Als die Freunde zahlten und gingen, beobachtete er, dass sie sitzen blieb. Wenig später stand sie auf, kam direkt auf ihn zu und sprach ihn an. An den Tagen danach trafen sie sich öfter und sie erzählte ganz viel von sich und ihrer Familie. Ihre Mutter ist Italienerin, Tochter einer alteingesessenen Familie aus Caldaro, seit Generationen Winzer und Besitzer eines ziemlich kleinen aber unter Kennern sehr geschätzten Weingutes. Der Vater kommt aus Innsbruck, ist aber in Potsdam geboren. Als er fünf war, hatten seine Eltern Deutschland verlassen und in der Tiroler Hauptstadt eine neue Heimat gefunden. Das ist jetzt über 60 Jahre her. Noch immer besitzen Carlas Eltern eine Stadtwohnung in Innsbruck, ganz in der Nähe der alten Hungerburgbahn, mit Blick auf den Inn. Sie verbringen fast das ganze Jahr hier. Die Lage ist einfach ideal. In einer halben Stunde ist man mitten in den Bergen, in gut zwei Stunden in Carlas Heimat, am Kalterer See. Dazu hat man den Flughafen und den Hauptbahnhof in unmittelbarer Nähe.

    Bruno selbst hat seit Jahren immer wieder seinen Urlaub hier verbracht. Er liebt diese Stadt Innsbruck, die Berge, im Winter, wie im Sommer und ganz besonders sein Stubaital. Und nun kommt noch Carla dazu. Er muss sich ernsthaft fragen, was ihn immer noch in Berlin festhält. Und Carla ist schön, wunderschön findet er. Sie ist fast so groß wie er, hat dunkelblondes Haar und dunkle Augen, die ihn ununterbrochen ansehen, wenn sie mit ihm spricht. Sie benutzt so gut wie kein make up, lediglich die Augen betont sie mit einem Lidstrich und ihre Lippen zeigen einen matten Schimmer in einem undefinierbaren Rot. Er liebt ihre leicht gebräunten, großen Hände mit den schlanken Fingern und den hellen unlackierten Nägeln.

    Er stellt sich vor, sie würde ihn damit berühren und steht immer noch unter der Dusche. Dann hat er den kurzen kalten Schauer überstanden und trocknet sich ab. In der sauberen Wäsche fühlt er sich nun richtig wohl. Er holt den Rasierer aus dem Spiegelschrank und sieht sich dann zum ersten Mal an diesem Vormittag. Es ist schon deprimierend, wie sehr man sich in den Jahren verändert. Seine Lieblingsschwester Anette widerspricht zwar immer und meint, er rede sich selber schlecht und er solle zu seinem Alter stehen und in Wirklichkeit sehe er jünger aus als er sei und...und...und. Aber Anette sieht vieles ganz anders, deshalb ja Lieblingsschwester, und sie ist seine einzige Schwester.

    Er macht sich jedenfalls keine Illusionen. Aus dem markanten Gesicht, mit den großen Augen seiner Mutter, den schmalen Lippen seines Vaters, ist ein doch ein ziemlich anderes Antlitz geworden. Falten kräuseln sich unter den Augen und die hängenden Mundwinkel lassen die weichlichen Wangen noch trauriger wirken. Von den einst längeren Haaren hat er sich schon lange verabschiedet. Er hasst es, wenn Männer mit schütterem Haar weiter auf Heavy Metal machen, wenn möglich noch mit Zopf. Da zieht er es vor, seinen Restbestand an Haaren in zwei Zentimeter langer Restpracht zu pflegen. Sieht nicht nur besser aus, wie er findet, ist auch viel praktischer. Außerdem kann man eine Mütze aufsetzen, ohne eine hingefönte Frisur darunter zu verhunzen. Früher hat er keine Mützen getragen.

    Er zieht sich seine Lieblingsjeans an und ein ziemlich neues Sweatshirt, bisher nur einmal getragen. Da steht er nun in der Küche, geduscht, mit frischer Kleidung und einem schwarzen Kaffee in der Linken. Sein Gute-Laune-Barometer steigt. Er überlegt, wie er am besten den heutigen Tag gestalten soll. Nach dem Frühstück wird er etwas einkaufen für das Wochenende, dann vielleicht kurz bei seiner Schwester vorbeischauen. Den Freitag Nachmittag hat er wie immer für seine Mutter reserviert. Abends ist er mit Carla verabredet. Sie will mit ihm ins Kino. In irgendeinem Bezirkskino läuft Cinema Paradiso mit irgendeinem Poiret, oder so ähnlich. Er kennt den Film nicht, aber Carla hat ihm schon oft davon erzählt. Was heißt erzählt? Sie schwärmt geradezu.

    * * *

    Sonntag, 27. März 1955

    Ich bin total aufgeregt und glücklich. Habe über meinen Vater die Verbindung zu Prof. R.v.C. hergestellt. Heute ist Sonntag und ich werde ihn treffen. Er hat mich zum Kaffee zu sich nach Hause eingeladen. Er kann bestimmt etwas für mich tun. Ich muss unbedingt die Zulassung zum Studium am Geologischen Institut bekommen. Habe recherchiert, er ist in Brixen zur Welt gekommen, also ein engerer Landsmann von mir. Das kann mir vielleicht helfen.

    * * *

    2

    Bruno Hallstein blinzelt gegen das grelle Sonnenlicht und versucht auf dem Fahrplan der BVG zu ergründen, wie er denn nun von hier am besten nach Hause kommt. Er fährt nicht oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln und weiß nicht mal genau, was ein Fahrschein kostet. Seit seine Mutter hier in Zehlendorf in einem kombinierten Senioren- und Pflegeheim untergebracht ist, muss er immer einmal quer durch die Stadt von Tegel bis Onkel-Toms-Hütte. Mit dem Auto ganz einfach, da fährt er den Weg im Schlaf, aber so? Egal, er will das Auto heute stehen lassen und muss nun da durch. Im Prinzip ist es auch nicht weiter schwer, mit der U3 bis Bahnhof Spichernstraße, von hier mit der U9 bis Leopoldplatz und dann in die U6 nach Alt-Tegel. Den Rest kann er zu Fuß machen. Wie er so in der U-Bahn steht, entdeckt er direkt über sich den Streckenplan. Er schaut ihn noch einmal genauer an und beschließt, einen anderen Weg zu nehmen. Er bleibt in der U3 bis Wittenbergplatz, steigt dann in die U1 Richtung Warschauer Straße und fährt bis Hallesches Tor. Der Grund für den spontanen Wechsel liegt in der Vergangenheit. Ihm ist nämlich eingefallen, dass er diese Strecke während seines Studiums fast täglich gefahren ist. Es ist eine der Linien, die durch den Ostteil der Stadt führt. Zu Zeiten der Berliner Mauer hielten die Züge aber nicht an den Ostberliner Stationen. Mit verlangsamter Fahrt durchfuhren sie dunkle Geisterbahnhöfe und manchmal konnte man im Vorbeifahren die bewaffneten Grenzer sehen. An einem Bahnhof hielt die Bahn aber doch: Friedrichstraße, Transitübergang für Bahnreisende zwischen Ost- und Westberlin. Genau das war das besondere an diesem Bahnhof, hier durfte man aus- und einsteigen. Das nutzten auch Nicht-Transitreisende, beispielsweise arme Westberliner Studenten, um sich an eigens dafür ausgestatteten Bahnhof-Kiosks Zigaretten und Schnaps zu kaufen, natürlich Westware. Man musste auch in DM bezahlen. Darin steckte ja der Sinn für die DDR. Aber es war deutlich billiger, als in den Westberliner Geschäften. Devisenbeschaffung für den Osten mahnten die Westberliner Zeitungen und Politiker. Den meisten war es egal, Hauptsache billig. Auch damals war Geiz schon geil. Einer seiner Kommilitonen war der Sohn eines Bezirksbürgermeisters, selbst der kaufte dort ein. In der Morgenpost regte er sich darüber auf und abends dann, Peter Stuyvesandt, zwei Stangen. Man musste aber auch aufpassen. Wenn man Pech hatte und der Zug wieder im Westen das erste Mal hielt, konnte es sein, dass der Westberliner Zoll Kontrollen durchführte. Bruno ist zum Glück nie erwischt worden.

    Mein Gott, ist das alles lange her. Wie viele Flaschen Ballantines werden wir wohl damals geschmuggelt haben? Und erst die Zigaretten, stangenweise Roth Händle und Gaulloises ohne Filter...

    Nun leben sie wieder, die ehemals toten Bahnhöfe. STADTMITTE, Französische Strasse, oranienburger tor. Die Züge halten ganz normal, die Menschen steigen ein und aus und die Bahnhöfe selber sind schön herausgeputzt. Im pseudohistorischen Gewand präsentieren sie ein Stück Geschichte. Die meisten Fahrgäste kennen diese Geschichte gar nicht mehr.

    Irgendwie bedauerlich, wir hatten wenigstens noch die Teilung und Hoffnung auf eine Wiedervereinigung. Die könnt Ihr gar nicht haben, alles schon passiert. Worauf hofft Ihr denn jetzt? Auf eine noch billigere Flatrate?

    Sein Blick wird von einem bildhübschen Mädchen eingefangen, dass ihm genau gegenüber sitzt und ununterbrochen in ein pinkfarbenes Handy redet. Türkisch, er versteht kein Wort. Sie hat pechschwarzes Haar, dass sie ziemlich chaotisch hochgesteckt hat und dass von einem rosa Stirnband so gehalten wird. Sie ist stark geschminkt, besonders die Augen und ihre hellblauen Jeans sind so eng, dass er sich wirklich fragt, wie sie da wohl hineingekommen ist. Er schätzt sie auf vierzehn. Die war noch nicht mal geboren, als es noch Ost und West gab.

    3

    Carla Weißensee ist bereits zu Hause. Sie fühlt sich nicht gut und so wurde ihr der Tag in der Firma zur Hölle. Sie kann ihr Unwohlsein gar nicht genau beschreiben. Sie friert, fühlt sich schwach und ist müde, zum Glück tut ihr nichts weh. Am liebsten würde sie ins Bett kriechen aber da ist noch die Verabredung am Abend und außerdem will sie ihre Eltern anrufen.

    Die sind vor wenigen Tagen in die Berge gefahren, wandern, wie sie es seit über fünfzig Jahren tun. Carla erinnert sich gern an die Zeit, wo sie als kleines Mädchen immer zwischen den Eltern laufen musste, Mama vorne und Papa hinter ihr. Nie fühlte sie sich geborgener, nie spürte sie mehr Liebe und Zuwendung. Wenn es den Eltern für ihre einzige Tochter zu schwierig erschien, wurde sie auch mal getragen. Anfangs ließ sie sich das noch gefallen aber als sie älter wurde, so mit neun oder zehn Jahren, wollte sie nur noch alleine laufen. Ihr Papa war natürlich trotzdem immer in ihrer Nähe, besonders als es dann auch auf steilere Wege ging. Mit zwölf Jahren hatte sie bereits die Gipfel von über zwanzig Dreitausendern in den Tiroler Alpen bestiegen. Dabei gab es Pfade, die über Klettersteige oder Leitern führten. Sie liefen dann immer gesichert am Seil und sie musste einen gelben Helm tragen, der sie drückte und an den Haaren ziepte. Einige Male waren sie nur zu zweit unterwegs, Mama hatte sich die Tour nicht zugetraut. Carla war immer sehr stolz, wenn sie am Gipfelkreuz standen, sich in das Buch einschrieben und zuletzt noch ein Foto machten. Und ihr Papa war stolz auf sie, auf seine Tochter. Es war damals noch etwas besonderes, als junges Mädchen in diese Domäne der Männer einzudringen. Sie lernte sehr schnell, dass in dieser Welt des Hochgebirges eine reizvolle, ganz spezielle Atmosphäre herrschte, die nur durch die einzigartige Natur vorgegeben schien, ganz anders als in ihrer gewöhnlichen Alltagswelt, in der sie nie diese Art von Freiheit empfinden konnte. Alle, die man hier traf waren sich irgendwie ähnlich, hatten die gleichen Motive und die gleichen Geschichten erlebt. Man konnte niemandem ansehen, welcher Schicht er angehörte, ob er nun Chef oder Mitbearbeiter war. Jeder duzte jeden, und es gab keinerlei Standesdünkel. Die Hütten, in denen sie übernachteten, waren einfach aber für alle gleich. Duschen und Toiletten wurden von vielen benutzt, das war normal. Alles wirkt in ihrer Erinnerung sehr harmonisch, friedlich und gemütlich. Abends saßen sie zusammen, die Männer tranken Bier oder Wein, und besonders gefiel es ihr, wenn welche dabei waren, die Gitarre oder Harmonika spielen konnten. Dann wurde es oft spät, irgendwer stimmte ein Lied an und dann sangen die anderen mit. Noch heute kennt sie fast alle Texte auswendig. Carla erlebte eine traumhafte Kindheit, nicht nur wegen der Bergtouren.

    Daraus resultiert auch ihr liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern. Sie liebt ihren Vater, weil er sie immer wie ein Mädchen und später wie eine Frau behandelt hat. Er hat ihr nie das Gefühl gegeben, dass er womöglich lieber einen Sohn gehabt hätte. Die Liebe zu ihrer Mutter funktioniert völlig anders. Sie ist die logische Folge der absoluten Ähnlichkeit zwischen ihnen. Nicht nur die Ähnlichkeit, die jeder sehen kann. Es sind die Bewegungen, die kleinen Gesten. Meist vertreten sie nicht nur gleiche Meinungen, sie formulieren sie auch mit den gleichen Worten und einer identischen Mimik. Sie sind in einer Art gleich, dass sie auch Geschwister sein könnten. Sie genießt es, bei ihren Eltern zu sein. Sie kann sich an keinen Streit zwischen den beiden erinnern. Wenn es je einen gegeben hat, haben sie ihn perfekt vor ihr versteckt.

    Ihre Mutter kommt aus einer alten adligen Familie, da kann man vielleicht solche Charakterzüge erwarten. Dass auch ihr Papa fast aristokratische Eigenarten verkörpert, lässt sich zumindest nicht durch seine Wurzeln erklären. Er entstammt einer brandenburgischen Bürgerfamilie. Sein Vater war Lehrer für Geographie und Geschichte an der 1. Städtischen Oberschule für Jungen in Potsdam, und er war Halbjude. 1942 zog die Familie nach Innsbruck. Der Vater bekam eine Anstellung als Hilfsdozent an der Universität. Und obwohl der berühmte Österreicher sein Heimatland längst in sein Großdeutsches Reich eingegliedert hatte, konnte sich die Familie Weißensee dem zuletzt unerträglich gewordenen Druck durch die Nationalsozialisten, wie er an der Potsdamer Schule herrschte, entziehen. Carlas Vater war damals 5 Jahre alt und wurde ein Jahr später in Innsbruck eingeschult. Er hat nie viel über diese Zeit gesprochen. Als Carla einmal alleine zu Hause war, hat sie im Schreibtisch ihres Vaters herumgestöbert, auf der neugierigen Suche nach irgendwas. Dabei entdeckte sie in einer kleinen Schachtel einige alte Fotografien. Auf einem der Fotos saß ein kleiner Junge auf dem Schoß eines streng in die Kamera blickenden Mannes mit einem schwarzen Seelöwenbart in einem dunklen Anzug. Er machte ihr Angst. Ein Schwarzweißbild, das an den Ecken schon helle Flecken hatte. Auf der Rückseite stand ein handgeschriebener Text in einer Schrift, die sie damals nicht lesen konnte, nur die Jahreszahl: 1944. Da musste er 7 Jahre alt gewesen sein. Sie hat nie nachgefragt aus Furcht, sie würde sich und ihre Neugier verraten.

    4

    Carla bereitet sich einen Tee zu, wenigstens etwas Gesundes, denkt sie sich. Sie kann das Gedruckte auf dem Teebeutel nicht erkennen, da sie ihre Brille im Büro vergessen hat. Es entspricht ihrer Eitelkeit, dass sie die Brille nicht permanent trägt, sondern immer noch versucht, ohne sie zurechtzukommen, schließlich wird sie im nächsten Jahr fünfzig. Sie fühlt sich bei diesem Gedanken aber gut, im Kopf will sie gar nicht jünger sein. Und körperlich? Na ja, sie hält seit Jahren ihr Gewicht und trägt immer noch Konfektionsgröße 40. Trotzdem nimmt sie sich immer wieder vor, öfter in die Berge zu gehen, wandern, Ski fahren oder radeln mit dem Mountainbike. Seit sie in Berlin lebt, ist das viel zu kurz gekommen. Das bisschen Jogging alle zwei Wochen bringt nichts und macht auch keinen rechten Spaß, bei dem ewig schlechten Wetter und der allgegenwärtigen Hundescheiße. Vielleicht sollte sie sich doch dieser Nordic-Walking-Gruppe in ihrer Firma anschließen? Wenn sie nur darüber nachdenkt, muss sie grinsen. In den Bergen mit Stöcken zu laufen ist für sie normal. Im Flachland aber findet sie es einfach nur albern. Sollte man nicht froh sein, keinen Stock zu benötigen?

    Carla hat sich umgezogen, rutscht auf ihrem Lieblingssessel so lange hin und her, bis sie die richtige Position gefunden hat und sucht auf dem Display ihres Telefons nach der Handynummer von Bruno. Er geht sofort ran und scheint sich zu freuen, dass sie anruft. Die Freude weicht aber ganz schnell der Enttäuschung, als er hört, dass aus ihrer Verabredung heute nichts wird.

    Bruno, sei bitte nicht sauer aber ich fühle mich wirklich nicht. Ich werde früh schlafen gehen. Vielleicht morgen. Ich kann uns was kochen, wenn du willst. Und der Film läuft noch die ganze nächste Woche.

    Bruno ist angefressen, das spürt sie, besonders als sie es ablehnt, dass er sie besucht, um den Krankenpfleger zu spielen. Das ist so ein Punkt, der sie nervt und wo sie immer wieder in Zweifel gerät, ob das Verhältnis zwischen ihnen eigentlich das ist, was sie sich wünscht. Bruno ist sicherlich ein Pfundskerl, im wahrsten Sinne des Wortes. Er ist zuverlässig und hilfsbereit, wo immer es geht. Aber gerade das erdrückt sie manchmal, dieses immer-für-sie-da-sein, diese übertriebene Fürsorge. Ob es am Altersunterschied liegt? Immerhin ist er über zehn Jahre länger auf dieser Welt als sie. Wenn sie zusammen sind, merkt sie nichts davon. Dazu ist er zu selbstbewusst, ohne eingebildet zu wirken und hat sich darüber hinaus etwas jungenhaftes, verrücktes bewahrt, trotz seiner 60 Jahre. Er ist geprägt durch seine Erziehung, seine Schul- und Studienzeit und eben seinem Leben in diesem Nachkriegsberlin. Natürlich hat er sich in den Jahren auch angepasst, steht aber immer noch zu seinen alten Idealen, im Gegensatz zu vielen seiner früheren Freunde, die die roten Fahnen gegen die Lifestyle-Symbole der Bildungsbürger eingetauscht haben, denen der wichtigste Rote Stern inzwischen der des geschätzten Mailänder Mineralwassers ist. Er hingegen ist noch nie den Oberschlauen gefolgt, bis heute nicht, hat immer seinen eigenen Kopf benutzt, braucht deshalb heute auch nichts rechtfertigen und keine neuen Standpunkte erklären. Das mag sie an ihm, auch, dass er die Dinge immer auf das wesentliche reduzieren, auf den Punkt bringen kann. Sicher hängt es auch mit seinem Beruf zusammen. Als Ingenieur ist er gewohnt, zu recherchieren, zu analysieren und methodisch zu agieren. Er beherrscht die Kunst der sachlichen Argumentation und ist jederzeit in der Lage, Rationalität von Emotionalität zu trennen. Im Prinzip tut er ihr gut, auch wenn er nicht da ist. Sie nimmt sich vor, ihm das bei Gelegenheit einmal zu sagen.

    Inzwischen hat sie schon dreimal die Nummer ihres Vaters gewählt, keine Reaktion. Mama hat kein Handy. Sie schaut auf die Uhr über dem Kamin, eine alte italienische Wanduhr, die sie von ihrer Tante geerbt hat. Die Tante lebt noch, hat aber fast alles, was sie besitzt, an ihre Erben verschenkt. Sie wünscht Kontrolle darüber haben, dass wirklich alle das bekommen, was sie will. Und sie will keinen Streit darüber. Außer der Uhr stammen noch einige Möbelstücke und das gesamte Geschirr von Tante Giuliana.

    Carla überlegt, ob sie im Hotel anrufen soll, es scheint ihr aber noch zu früh. Ihre Eltern steigen seit Jahrzehnten immer im Monte Cristallo ab, einem kleinen aber sehr gepflegten Haus mit nur 20 Betten. Dafür gibt es eine hervorragende Küche nur für Hotelgäste und die sind seit Jahren immer dieselben, jedenfalls zu bestimmten Jahreszeiten. Carla kennt die Hoteleigentümer gut, obwohl es Jahre her ist, dass sie dort wohnte.

    Im Hotel wird immer um 19:00 Uhr zu Abend gegessen. Es ist jetzt 16:00 Uhr, ihre Eltern könnten also noch unterwegs sein. Sie weiß, das Mama sich auf jeden Fall vor dem Essen umziehen wird. Sie hat also noch zirka 2 Stunden Zeit.

    Sie steht auf und geht in die Küche, um sich einen weiteren Tee aufzubrühen. Der erste hat sie etwas aufgewärmt. Sie trägt schwarze Leggins und einen großen grauen Pullover darüber. An den Füßen hat sie selbstgestrickte, bunt gestreifte Wollstrümpfe, die normalerweise bis übers Knie reichen. Jetzt sind sie heruntergerutscht und geben den Blick auf ihre ausgeprägten Waden frei. Um den Hals hat sie ein dunkelrotes Seidentuch geknotet. Der Tee ist fertig und sie überlegt kurz, ob sie sich etwas zu essen machen soll, aber sie weiß nicht was, hat keinen Appetit, auf nichts. Sie setzt sich wieder in ihren Lieblingssessel von Tante Giuliana, lehnt ihren Kopf nach hinten an und schließt die Augen.

    Ihre Gedanken verlieren sich. Gerade fünf Jahre ist es her, dass sie Bruno beim Skifahren kennen gelernt hat. Sie wohnte damals noch in Innsbruck und hatte eine Anstellung an der Universitätsbibliothek. Nicht gerade ein Traumjob, aber er wurde gut bezahlt, und sie hatte relativ viel Freizeit. So konnte sie oft hinüber ins Stubaital fahren, meist mit ihrem alten Saab, wenn er nicht in der Werkstatt stand. Zur Not ging es auch mit dem Bus oder der Straßenbahn. Die fuhr allerdings nur bis Fulpmes. Bis zu ihrer kleinen Pension war es dann noch ein gutes Stück zu Fuß. Im Sommer kein Problem, im Winter schon eher aber es gab ja Taxis.

    An einem Abend saß sie mit ein paar einheimischen Freunden beim Haffnerwirt. Sie hatten am Ende eines wunderschönen Skitages noch etwas

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