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World Wide Wohnzimmer
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eBook378 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Lara hasst es, dass sich die hübsche, neue Arbeitskollegin in kurzer Zeit so beliebt machen konnte. Sie hasst es, selbst keine Freunde zu haben und nur mit einer Katze zu leben. Sie hasst ihre Mutter für ihr Aussehen, aber sie mag es, von guten Büchern oder dem Internet unterhalten zu werden. Lara weiß nicht, wieso sie täglich Mails von einem unbekannten Serienkiller erhält. Aber sie ist sich bald sicher, dass von der virtuellen Geschichte keine Gefahr ausgeht. Bis sich ihre Wege mit denen des Serienkillers kreuzen...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Juni 2014
ISBN9783847695523
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    Buchvorschau

    World Wide Wohnzimmer - Andreas Eichenseher

    I

    Bangkok

    „Dass alles im Leben zwei Seiten hat", las er in einer Zeitschriftenkolumne. „Das ist mittlerweile bekannt. Es aber auch stets anzuerkennen fällt vielen trotzdem schwer. Selbiges gilt für das Internet. Wo beginnen wir ihm zu vertrauen und wo hören wir damit auf? Nahezu jeder nutzt das Internet. Der Eine intensiv, der Andere nur marginal oder mit kritischer Einstellung. Die vielen Wege und Käfige dieses gigantischen Zoos lassen uns allen die Möglichkeit offen, immer wieder Neues zu Entdecken. Natürlich ist das meiste dabei schlicht überflüssig, manches gar erfunden. Man kann Kohärenzen finden, aber man muss es nicht.

    Dieser abundante Zoo, das Internet, ist riesig. Größer als die Erde. Er ist weniger endlich und nicht nur deshalb undurchsichtiger. All das macht ihn so interessant, so vielseitig und so gefährlich. Jedes Mal findet man beim Flanieren durch die Schotterstraßen des Tierparks neue Gehege in denen sich Bekannte und Unbekannte zur Schau stellen. Ständig errichten neue Tycoons und Oligarchen ihre Monumente, deren überall anwesende Düfte jeden mehrmals täglich zu ihnen locken. Und manchmal verlaufen wir uns und finden uns selbst in einem der Käfige wieder.

    Es ist eine Sucht, eine Gefahr. Wie der Alkohol oder der Zigarettenkonsum ist das Internet für viele Menschen bereits ein unverzichtbarer Lebensinhalt. Der möglichen Gefahren ist sich nahezu jeder bewusst, aber niemand will sich damit konfrontieren, ehe er nicht selbst auf die Nase fiel oder jemanden fallen sah, der ihm nahe stand."

    Er übersprang den nächsten Absatz und las sich nur noch den Schluss laut vor.

    „Es ist letztendlich eine Frage der Persönlichkeit, ob man sich von seiner Umwelt unterkriegen lässt, ob man nachgibt, oder, wie es Albert Camus einst beschrieb, den modernen Menschen mimt, der wie Sisyphus immer weiter machen wird und sich von größeren Mächten und Versuchungen nicht zum Abbrechen verleiten lässt.

    Das Internet ist wunderbar.

    Alkohol auch.

    Aber jedes Fest fordert seine Opfer."

    Mit einem nachdenklichen Blick schlug er die Zeitschrift, die er sich noch im Flughafen Franz-Josef-Strauß gekauft hatte, wieder zu und steckte sie in seinen Rucksack. Er schritt sanft zum Fenster und beobachtete das unendliche Treiben Bangkoks. Inmitten der breiten, trägen Masse aus hunderten PKW´s erspähte er mehrere Rikschas, sogenannte Kluk-Kluk´s. Die Fahrer der dreirädrigen Taxis trugen, ebenso wie die Polizisten am Straßenrand, größtenteils Gasmasken. Einer der Fahrer sah aus wie eine Ameise und transportierte einen weißen, stilvoll gekleideten, westlichen Mann.

    Aus einer schmalen, verdreckten Soi lief indessen eine junge Frau. Sie trug ein kleines Kind - man konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um einen Jungen oder um ein Mädchen handelte - auf ihren Schultern, das ihr bei der Orientierung half.

    Er war beeindruckt und erschrocken zugleich von der Vielfältigkeit dieser Primatstadt. Er konnte direkt auf die Behausung einer siebenköpfigen Familie sehen. Die ungleichen Holzlatten sprossen schräg aus dem trockenen Boden und das Wellblech diente als Dach, aus dem ein oranges KG-Rohr ragte und von der Familie als Kamin genutzt wurde. Grauer Rauch stieg aus ihm empor und vermischte sich mit dem dichten Abgasnebel, der über allem lag.

    Er öffnete sein Fenster. Sofort wurde es um ein Vielfaches lauter in seinem Zimmer. Langsam strich er mit seinem rechten Zeigefinger über das dunkle Fensterbrett, das von einer dicken Staub- und Rußschicht bedeckt war, die nun auch seine Fingerkuppe schmückte. Mit Bedacht reinigte er sie am Vorhang.

    Die Holzdielen gaben lange, sich ziehende Geräusche von sich, als er vom Fenster weg und auf den Schreibtisch zu trat. Sein Hotelzimmer war nicht von gehobener Klasse und dennoch schön anzusehen. Bis zu einer Höhe von einem Meter zwanzig waren die Wände in dunkles Holz gekleidet. Darüber erstrahlte der weiße Kalk-Putz, der stellenweise von farbenfrohen Gemälden unterbrochen wurde und über dem Eingang hing eine angeschraubte Ganesha-Figur, der ihr Stoßzahn fehlte.

    Auf dem sauberen, duftenden Bett lag noch sein Koffer. Er hatte ihn noch nicht einmal geöffnet und beließ es aus Vorsicht dabei, seine Kleider noch nicht in den akribisch verzierten Holzschrank zu räumen.

    Nein. Er setzte zunächst die Arbeit an einer E-Mail fort. Schon vor einer halben Stunde begann er mit dem Schreiben, aber vollendete sie erst jetzt. Immer wieder unterbrach er das Tippen, um nachdenklich auf die hellbraunen Vorhänge zu starren und dann seine Worte doch wieder zu löschen. Nur wenige Zeilen strahlten aus dem Bildschirm und als er dann endlich das letzte Wort schrieb, vibrierte sein Mobiltelefon.

    „Die Post ist da", erschien in schwarzen Lettern auf dem Display. Für einen kurzen Moment blieb er ganz ruhig sitzen. Ganz ruhig.

    Dann wandte er seinen Kopf blitzschnell dem geschlossenen Koffer zu, schloss hektisch die Nachricht und tippte hastig die E-Mail-Adresse des Empfängers in die Adresszeile.

    Er wollte keine Zeit verlieren, klickte eilig auf `Senden`, schloss den Browser, steckte das Handy in seine Hosentasche, machte noch das Fenster zu und rannte aus seinem Zimmer. Der rote Teppich und die roten Wände des Flurs gaben ihm das Gefühl, sich in einem überdimensionalen Blutgefäß zu befinden. Wie ein weißes Blutkörperchen eilte er zu dem Aufzug und drückte mehrmals auf den Anforderungsknopf.

    Er begann zu leuchten, fünf Sekunden später öffnete sich die graue Tür. Die Aufzugkabine war leer. Nervös schritt er hinein und drückte auf `0`.

    In der verspiegelten Metallbox prüfte er noch zwei mal grundlos hektisch die Uhrzeit, da stoppte der Aufzug abrupt und die Tür öffnete sich. Richtig. Erdgeschoss. Schnellen Schrittes bewegte er sich auf die Rezeption zu. Die hohe Eingangshalle war vollständig gefliest und in den großen, hellbraun glänzenden Quadraten spiegelte sich die Decke. Der junge, asiatische Mann hinter der Rezeption trug einen roten Anzug und eine ebenso rote, spitze Mütze. Vor ihm lag ein kleines Schild, das ihm sprachliche Fähigkeiten in Thailändisch, Englisch, Spanisch und Deutsch bescheinigte.

    „Wein. Zimmer 427. Für mich müsste Post da sein." Seine Nervosität spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.

    „Ja. Sehr richtig, sprach der Hotelangestellte abgehakt. „Es ist gerade für sie abgegeben worden.

    Er drehte sich um und öffnete einen der unzähligen, kleinen Schübe. Daraus nahm er ein helles Couvert.

    „Bitte zeigen Sie mir ihren Hotelzimmerschlüssel, damit ich sie identifizieren kann."

    Er griff in seine Hosentasche und stellte erschrocken fest, dass er seinen Schlüssel nicht darin auffinden konnte.

    „Die Karte. Vielleicht haben Sie sie in ihrem Portemonnaie."

    „Ach, ja. Natürlich. Die Karte." Vorsichtig fingerte er nach dem Geldbeutel in seiner Gesäßtasche und zog die Zimmerkarte hervor. Der junge Asiate warf einen flüchtigen, aber dennoch aufmerksamen Blick auf die Nummer, verglich sie mit den Daten, die er auf dem Bildschirm vor sich hatte und gab sie anschließend zurück.

    „Hier ist Ihr Brief. Bitte sehr."

    „Vielen Dank. Das ist für Sie." Er reichte dem Mann im Gegenzug zu seiner Post einen hellblauen 50-Baht-Schein. Alles unter zehn Baht war eine fürchterliche Beleidigung für Trinkgeldanwärter in Thailand.

    Nachdem er seinen Geldbeutel wieder verstaut hatte ging er mit dem Brief in seiner Hand zurück in sein Zimmer. Dieses Mal nahm er allerdings die Treppe. Auf den vielen, kalten Stufen kam er sich, im Vergleich zu der bedrückenden Enge eines Aufzuges, freier und komischerweise auch unbeobachteter vor. Unkonzentriert schritt er durch den leeren, roten Flur und öffnete seine Zimmertüre mit dem elektronischen Schlüssel. Er betätigte sanft den Lichtschalter und riss vorsichtig den Briefumschlag auf. Aus ihm zog er einen Bogen Papier, an dem das Foto eines Mannes geheftet war. Er sah sich den Mann genau an. Er war etwa 40 Jahre alt, trug dunkles, kurzes Haar und hatte braune Augen. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Thailänder. Laut las er sich vor, was in der ersten Spalte des Dokumentes geschrieben stand.

    „Nintau Suprija. 43 Jahre. Verheiratet. Zwei Kinder. Wohnhaft in der Soi Long Tha 9, nähe Romaneenart Park. Polizist."

    Er klopfte mit seinen Zähnen. Man konnte das Trommeln laut hören, bis er begann die zweite Spalte zu lesen.

    „Suprija ermittelt seit Kurzem auf eigene Faust gegen eine Vielzahl von Hotelzimmereinbrüchen, die bisher von den zuständigen Behörden vertuscht wurden, um die Stadt für ausländische Touristen nicht unattraktiv zu machen. Ihr Job ist daher klar. Vernichten Sie den Spaßverderber.

    Alles was Sie brauchen, finden Sie in ihrem Kleiderschrank.

    Viel Spaß und Erfolg wünscht Ihnen der Dealer.

    P.S.: Benutzen Sie bitte das Feuerzeug, um dieses Schreiben zu verbrennen. Danke."

    „Feuerzeug", murmelte er. Sofort stürmte er auf den Kleiderschrank zu und riss beide Türen auf. Ernüchtert stellte er fest, dass er leer war. Lediglich drei Kleiderbügel hingen schief an einer Metallstange.

    „Wieso...", flüsterte er, als er sich fragte, weshalb die Stange so im Schrank montiert war, dass die Kleiderbügel nicht mal frei hängen konnten, sondern an der Rückwand anstießen.

    Da begann er zu grinsen.

    „Der Dealer. Wohl eher ein Zauberer mit doppeltem Boden."

    Vorsichtig drückte er gegen die dunkle Rückplatte, die sich auch leicht bewegen ließ. Aber ganz konnte er sie nicht lösen, bis ihm schließlich an der Decke des Schrankes ein metallener 90°-Winkel auffiel, der die Rückwand an ihrer neuen Position mit zwei Schrauben befestigte.

    Aus seinem Koffer holte er ein Taschenmesser und klappte einen Kreuzschraubenzieher aus dem klobigen Multifunktionswerkzeug. Nervös drehte er beide Schrauben aus dem eisernen Winkel, legte die drei Metallstücke auf den Schrank und drückte ganz oben gegen die Rückwand, bis sie sich unten weit genug nach vorne schob, um sie herausziehen zu können. Er legte die dünne Hartfaserplatte leise auf den Boden. Ein schwarzer Koffer kam zum Vorschein. Als er ihn aus dem Schrank zog hörte er etwas auf den Boden fallen. Das Feuerzeug. Aufgehoben, eingesteckt. Behutsam öffnete er auf seinem Bett den Waffenkoffer neben seiner Kleidertasche. Es roch nach Ballistol.

    „Eine G22! Wie kommen die nur an solch ein Zeug? Er hob das Gewehr hoch und betrachtete es im gelben Schein der Deckenbeleuchtung wie eine prächtige Trophäe. Ganz ruhig legte er es sich an die Schulter und zielte auf ein Bild an der Wand. Er visierte einen der beiden Delphine an, die zusammen mit zwei gelben Fischen auf dem Gemälde abgebildet waren. Wie ein Sekundenzeiger drehte er sich langsam mit seinem Gewehr. Nun zielte er auf eine kleine Ablage an der Wand, auf der ein rotes Buch lag. Die Mao-Tsetung-Schrift hatte in diesem Hotel wohl eher dekorativen Charakter und war nicht von politisch verpflichtender Bedeutung. Er drehte sich weiter und zielte auf die Türe. „Bumm, sagte er und freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten.

    Bumm!

    Da unterbrach ein lauter, erbarmungsloser Knall die zufriedene Ruhe. Das Türschloss riss aus der Zarge und die Türe wurde hart aufgetreten. Er zuckte schlagartig zusammen, ließ um ein Haar sein Gewehr fallen, sprang einen Satz rückwärts und fiel auf sein Bett. Mit dem Rücken landete er auf dem Kleiderkoffer. Sofort!

    Sofort stand er wieder auf, um den drei thailändischen Einbrechern die Mündung vors Gesicht zu halten. Die drei Männer, die nur kaputte Jeans und schmutzige, graue Shirts trugen, standen verblüfft im Eingang, als ein Scharfschützengewehr auf sie gerichtet wurde. Sie wussten nicht wirklich, wie sie handeln sollten.

    Der Erste hob langsam seine Hände, da sprach der Scharfschütze mit zitternder Stimme.

    „I´m on your side!" Er grapschte nach dem Steckbrief, der hinter ihm auf dem Bett lag und hielt den Dreien das Papier vors Gesicht. Sie schienen den Polizisten auf dem Dokument nicht gleich zu erkennen, doch nach einigen Sekunden verstanden sie. Und auch er.

    „You´re here to kill him?"

    „Yes." Sein Rücken wurde heiß, es rannten Schweißperlen hinab.

    „Fuck, sagte der Kleinste. „Why didn´t Ajahn say anything?

    Er stellte die Frage an seine beiden Komplizen, doch die schüttelten nur ihre Köpfe und zuckten mit den Schultern.

    „We´re sorry for the mistake."

    „Ajahn is the Dealer?", fragte er nach.

    „No."

    „Not the one, you would suppose", sagte der Größte.

    „OK. Could you please tell me how to get to... Er spähte auf den Steckbrief. „...To Soi Long Tha 9, near Romaneenart Park?

    II

    Landratsamt. Laras Arbeitsplatz. Dienstag

    Der gelbe Kugelschreiber schien das einzige farbenfrohe Element in der grauen Bürolandschaft zu sein. Lara führte abgehakte Bewegungen mit ihm aus und achtete gar nicht auf das karierte Papier, auf das sie schrieb.

    Neben ihrem Büro war das Zimmer von Daniela, einem fröhlichen, blonden Wesen, das sie partout nicht ausstehen konnte. Nur eine dünne Wand aus Rigipsplatten und eine hellgraue Tür trennte die beiden. Und eben diese Türe öffnete sich.

    „Pause. Ich kauf mir was im Supermarkt nebenan. Willst du mitkommen?", fragte Daniela in einem gewohnt netten, fast unwiderstehlichen Ton. Sie arbeitete erst seit ein paar Wochen im Landratsamt.

    „Nein, danke. Ich hab mir selbst eine Brotzeit mitgenommen." Lara konnte ihr problemlos widerstehen.

    „Na gut. Bis gleich." Es glich schon fast einer Tanzbewegung, mit der sie das Büro verließ und durch die niedrige Eingangshalle ins Freie trat.

    Laras Schinkenbrot kauerte gequetscht in ihrem Rucksack, doch sie wollte zuerst noch ihr privates E-Mail-Fach checken.

    Es gab zwar niemanden, der ihr für gewöhnlich schrieb, aber die Sehnsucht nach irgendeiner Form der Aufmerksamkeit, wenn auch nur virtuell, hielt Lara täglich dazu an, ihr Konto auf Post zu überprüfen. Nach wenigen Klicks war sie in ihrem Account eingeloggt.

    Tatsächlich. Gleich zwei neue Nachrichten.

    Bei der Ersten handelte es sich um Werbung eines Online-Buchvertriebs, bei der Zweiten um Spam. Lara wollte die Nachricht eigentlich schon löschen, doch irgendwie machte sie die Betreffzeile neugierig. Das gestrige Datum prangerte darin. Nicht mehr und nicht weniger. Es reichte aus, um Lara auf die E-Mail klicken zu lassen. Sie überflog erst nur kurz den Inhalt, schüttelte verwirrt ihr Haupt und las sich die Nachricht anschließend noch einmal genauer durch.

    Ich sitze gerade in meinem Hotelzimmer, das einen ausgezeichneten Ausblick auf die Stadt bietet. In der Ferne kann ich sogar einen Skytrain erkennen. Aber um ehrlich zu sein gefällt es mir hier nicht. Es ist viel zu unübersichtlich, eng und die Luft ist furchtbar schlecht in dieser Stadt.

    Wenn ich das Fenster öffne, dann prallt eine akustische Entropie auf mich ein, die ich so nur ansatzweise von deutschen Autobahnen kannte.

    Wenigstens bin ich nicht lange hier. Morgen wird alles erledigt sein. Die Zielperson, der Auftrag.

    Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt wie es sein wird. Werde ich zögern? Werde ich etwas fühlen? Angst habe ich keine, gar keine mehr.

    Ausgenommen Jana. Ihr Verlust ist die einzige Angst, die mich quält.

    „Was soll denn das?", murmelte Lara vor sich hin. Sie verzog ihre unförmige Nase, als wäre in ihrem Büro vor Tagen eine Kanne Milch ausgelaufen, löschte die Mail und erhob sich von ihrem Platz. Ihre Brotzeit ließ sie weiterhin unberührt, denn eine ganz neue, aus Angst und Hass geborene Idee animierte sie aufs Geratewohl. Unauffällig schlich Lara in Danielas Büro.

    Es war menschenleer.

    Ingrid, ihre andere Arbeitskollegin, arbeitete nur noch halbtags und war schon vor fünfzehn Minuten gegangen. Leise umkurvte Lara den klobigen Metalltisch, der makellos und sauber mittig im Büro stand. Aktenschränke apparierten wie schlagfertige, aufmerksame Türsteher vor den Wänden, während konträr dazu ein natürlicher, frischer Duft friedlich in dem Büro lag. Der gleiche wohltuende Geruch, der auch mit Daniela schwang.

    Ganz langsam zog Lara die zweite Schublade aus ihrem Schreibtisch. Ein ungleichmäßig lautes und ungewolltes Kratzen begleitete die Aktion, denn der Schub war schwer und die Rolllager alt. Ein Stapel von unausgefüllten Papierbögen und einige Rollen Klebestreifen hatten darin ihren Platz. Seitlich verstaute Daniela ein Bild ihrer Mutter.

    Lara nahm es kurz an sich und legte es mit der Rückseite nach oben vor die Tastatur des Computers. Sämtliche Passwörter waren auf der weißen Fläche notiert. Mit feuchten Händen weckte Lara den Rechner aus seinem Standby-Modus und loggte sich unter Danielas Account im Betriebssystem ein. Sie öffnete sofort das verwaltungsinterne E-Mail-Programm und fand eine neue Nachricht vor. Ein Kollege bat sie um die Vorlage der Statistiken für Baugenehmigungen auf einem alten Kasernengelände. Das verwirrte Lara zunächst ein wenig, da Daniela gar nicht für solche Belange zuständig war. Doch dann fuhr sie fort, machte mit schnellem Atem weiter.

    Sie stellte zuerst die Uhrzeit des Systems um zwanzig Minuten zurück, deklarierte die Nachricht anschließend als `Gelesen` und löschte sie. Nachdem sie die Uhrzeit wieder korrigierte, meldete sie Daniela von ihrem Computer ab, platzierte das Bild ihrer Mutter an seiner Stelle im Schub und flüchtete geduckt in ihr eigenes Büro zurück.

    „Das reicht für heute", murmelte sie mit rasendem Herzschlag vor sich hin und konnte sich nicht zwischen einer ängstlichen Mimik und einem siegesgewissen Grinsen entscheiden.

    „Oh, nein, stöhnte Lara gedanklich, als sie ihre nassen Hände an den Hosenbeinen trocknete. „Ihre Maus wird ganz feucht sein!

    Und in Laras Gesicht blähte sich schlussendlich doch noch der latente Ausdruck schüchterner Angst auf.

    III

    Weg zur Arbeit. Lara. Am Morgen

    Ein früher, aber warmer Sommerwind wehte durch die alten, einst feudalen Gassen und Straßen. Heute waren sie nur noch einfache Fußgängerzonen und die letzten perforierten Stellen der malerischen Fassaden wurden mit Werbeplakaten und Straßenschildern gestopft. Prunkvolle Bauten mit weißen Stuckelementen säumten den breiten, gepflasterten Weg, über den Lara schritt. Der markante Geruch von Zaziki kroch aus einer Dönerbude direkt in ihre Nase.

    „Werde ich nächste Woche noch oft genug riechen", dachte sie sich laut. Unbeeindruckt marschierte sie weiter. Und sie machte große, zügige Schritte.

    In etwa 50 Metern Entfernung bog ein junger Mann in die Straße. Er war eindeutig südländischer Herkunft und schien in Eile zu sein. Während hinter ihm die schwache Sonne um ihren Aufstieg zum Zenit kämpfte, drangen die lauten Schrittgeräusche des attraktiven Anzugträgers bereits zu Lara. Ohne Zweifel, es war nicht zu übersehen, dass sie den jungen Mann ausgesprochen hübsch und interessant fand. Sie lächelte sogar ein wenig und es stand ihr sehr gut. Doch dann durchschnitt ein fahler Gedanke die Stricke an denen ihre sympathische Ausstrahlung wie eine nackte Marionette hing und hinterließ die typische Visage einer betrübten, leicht dicklichen Frau, die ungern ihr wanderndes, mattes Spiegelbild in den Schaufenstern links und rechts von ihr betrachtete.

    Wenn sie so einen attraktiven Mann sah, dann verstrickte sie sich meist in warmen, weichen Wünschen. Aber dann der Fehler. Der intrinsische Blick nach links oder rechts auf die Schaufenster. Und da sah sie sich selbst, unauffällig und hässlich. Immer noch. Jeder Blick voller Hoffnung, vielleicht nun schön zu sein. Und jeder Blick Enttäuschung. Spirale der Verzweiflung. Sich selbst ein Dorn im Auge.

    Und trotzdem!

    Dieses Mal packte sie all ihren Mut. Sie spürte ihn schon fest in ihren Händen, als sie sich die Frage stellte, was sie damit tun sollte. Sie konnte ihn doch nicht einfach ansprechen, den jungen Mann, der immer näher kam.

    Mit weit geöffneten, ängstlichen Augen sah sie ihn an. Es war kein ungewöhnlicher Blick für Lara. Sie spähte meistens so durch die Gegend wenn sie unterwegs war. Ihren wachsamen Augen entging auf diese Weise nur selten eine Person, die sie hätte anlächeln können. Nur im Winter, oder wenn ein besonders kalter Wind blies, trieb es ihr Wasser aus den weit offenen, gereizten Augen und sie kniff sie zusammen.

    Nichtsdestotrotz kam der junge Mann mit Aktentasche näher. Schon gleich würde er Lara passieren und dann wird es wieder zu spät gewesen sein etwas zu tun.

    „Wohin des Wegs?, „Schöner Anzug!, „Entschuldigung, wissen Sie wie ich zum Bahnhof komme?". Diverse Sätze gingen Lara durch den Kopf. Manche waren mehr, manche weniger dazu geeignet, irgendeine Kommunikation zustande zu bringen. Er sah sie ja nicht einmal an, fokussierte sich nur mit seinem inneren Auge auf sein Ziel, vielleicht seine Arbeit, bei der er schon längst hätte sein müssen. Man wusste es nicht.

    Es kitzelte Lara in den Fingern, war kurz davor aus ihr herauszubrechen. Und mit einem dementsprechend verkrampften Eulenblick visierten ihre Augen den jungen Mann beim Vorübergehen an.

    „Halt", schrie Lara dann plötzlich und sie klang schon fast aggressiv, auch wenn es ungewollt war. Dem jungen Mann waren schnellen Schrittes zwei Blätter Papier entwichen. Sie waren aus seiner Aktentasche gefallen, die offensichtlich nicht ganz geschlossen war, und flogen nun wild durch die Luft. Überrascht drehte er sich im Gehen um und runzelte kopfschüttelnd seine Stirn, als er Lara am Boden knien und nach den Zetteln fischen sah. Sie schielte zu ihm hinauf und wollte ihn eigentlich noch dazu animieren, stehen zu bleiben. Doch der Anzugträger drehte seinen Kopf wieder zurück. Als hätte er Angst oder Abscheu gegenüber Lara empfunden. Vielleicht war ihm auch die stark verunreinigte Haut auf ihrer Stirn aufgefallen. All die Makel übertünchten ihre Persönlichkeit, passten ihren Charakter im Laufe der Zeit aber auch daran an.

    Ein herber Rückschlag für sie. Das machte sich auch in ihrem Ausdruck sichtbar.

    „Scheiß Wichser", murmelte sie gekränkt und stand mit den beiden Papieren in der Hand auf.

    „Das hast du davon." Sie hielt zwei leere Steckbriefe in den Händen. Die Papiere sahen aus wie Arbeitsblätter für eine Schulklasse im anfänglichen Mittelstufenbereich.

    Kurzerhand faltete sie die Blätter und steckte sie in ihre Handtasche, ehe sie mit eingezogenem Genick weitermarschierte.

    Rot leuchtete es und sie mussten stehen. Eine dicke arabische Frau, ganz in schwarz gehüllt und mit einem Kinderwagen, stand neben dem Pfosten der Ampel. Rechts von ihr zwei junge Mädchen, nicht älter als elf oder zwölf Jahre. Beide hatten langes, blondes Haar. Das etwas größere Mädchen bezauberte nebst ihren Haaren mit ihren himmelblauen Augen, während ihre Freundin ein unwiderstehliches Lächeln im Gesicht sitzen hatte. Zwei hübsche, liebe Mädchen, die auch sofort den pubertären Teenager rügten, der in seiner Baggy-Jeans bei Rot über die Ampel humpelte.

    Lara stellte sich mit anderthalb Metern Abstand hinter die wartenden Personen. Verbissen beobachtete sie die beiden Mädchen. Es war ein hässlicher Blick, der sich über die Kinder legte. Er war gezeichnet von Eifersucht und bei genauerem Betrachten auch von Selbstmitleid.

    IV

    Laras Wohnung. Mittwoch Feierabend

    Die Kleider waren exakt geordnet. Es gab ein Fach für ärmellose schöne Klamotten und eines, in dem ärmellose Sachen für zuhause lagen. Darunter stapelten sich dünne, langärmelige Sweatshirts und daneben dicke Pullover. Lara legte ein gefaltetes T-Shirt in das oberste Fach und schloss den hellen, neuen Holzschrank. Sie hatte bei ihrem Umzug damals keine Möbel von zuhause mitgenommen.

    Ihre Katze schmiegte sich an ihre Beine und tunnelte sie. „Minka, hast du immer noch Hunger?"

    Lara ging in die Küche und holte eine bunte Schachtel mit Katzenfutter aus einer Ecke hervor. Sie füllte ein wenig davon in eine schwarze, flache Schüssel und stellte sie auf den Boden. Während Minka tiefe, unregelmäßige Geräusche beim Fressen von sich gab, streichelte Lara zärtlich ihr Fell vom Kopf bis zum Schwanz. Und nachdem ihre Katze das zweite Feierabendmahl verzehrte, setzte sich Lara am Balkon auf ihren alten Schaukelstuhl aus Bambus. Die Sonne war schon lange hinter dem Nachbargebäude verschwunden, doch der Himmel leuchtete noch schwach violett und rosa. Erleichtert ließ sich Lara von ihrem Stuhl bewegen, der immer im selben Takt ein kurzes, knarzendes Geräusch von sich gab. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein und aus.

    Aber schon nach wenigen Sekunden störte ein Vogel auf dem Geländer des Balkons ihre innere Ruhe. Eine junge Blaumeise pfiff, bis sie erschrocken Minka hinter der Balkontüre erkannte und davonflog. Lara senkte erneut entspannt ihre Lider und reflektierte den Tag. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Rechner abstürzte, als sie gerade ein lästiges, neues Programm-Update installieren wollte. Herr Kratzinger, der Abteilungsleiter, beseitigte zum Glück alle Unannehmlichkeiten binnen weniger Minuten.

    Lara musste an ihren Vater denken. Er war nie da, wenn er solche Probleme für sie hätte lösen sollen. Wenn sich ein Scharnier ihres Schrankes nicht mehr einwandfrei bewegte, oder die Kette ihres Fahrrades aus dem Zahnrad sprang, dann war ihr Vater nie da.

    Als ihre Nachbarin, Michaela, mit fünfzehn Jahren einen Roller fuhr und Benzin aus einer Cola-Flasche einfüllte, da fiel ein Plastikring des Verschlusses in den Tank. Kurze Zeit stocherte sie mit einem Holzspieß blind und erfolglos darin herum. Schon sehr bald aber war Michaelas Vater zur Stelle und füllte den Tank weiter auf, bis das Plastikteil so weit oben schwamm, dass man es problemlos herausfischen konnte. Als Lara das damals beobachtete, wurde ihr, wie so oft, auf schmerzliche Art und Weise bewusst, wie sehr ihr ihr Vater fehlte. Und sie benutzte die Erinnerung an diese Szene noch heute gelegentlich als Quelle einer Selbstmitleidsorgie.

    Laras Vater war Maschinist eines Transportschiffes. Als sie zwei Jahre alt war heuerte er bei einer bayerischen Reederei, an sich schon eine Rarität, an und sorgte seitdem dafür, dass verschiedenste Baugrundstoffe, wie Kies, Sand, Ziegelsteine und etliches mehr sicher von Europa nach Südamerika und zurück transportiert werden konnten. Das ganze geschah natürlich auf Kosten seiner Familie. Laras Mutter, Susanne, war bei vielen Problemen ebenso auf sich alleine gestellt, wie Lara. Beide brauchten jemanden als Stütze, konnten sich jedoch selbst nicht nützen.

    Dieser kalte Mantel des Selbstmitleids hatte sich schon wieder um Laras Schultern gelegt. Er erzeugte eine sanfte Gänsehaut, ließ andere Körperstellen dadurch aber wieder wärmer erscheinen. Ein Geräusch aus der Nachbarwohnung holte Lara aus ihrem Gedankennetz. Jemandem war etwas Schweres, vielleicht eine Pfanne, zu Boden gefallen. Zumindest klang es so.

    Lara korrigierte ihre krumme Position, die sie während ihrer Erinnerungen an ihren Vater im Schaukelstuhl einnahm. Sie kratzte sich am Ohr und dachte an die E-Mail, die sie auch heute Vormittag in der Arbeit erhalten hatte. Sie war eigentlich schon am Abend zuvor eingegangen. Aber wieder vom gleichen Absender. Schon wieder!

    Neugierig verließ sie den Balkon, pfiff zu Minka und ging in ihr Schlafzimmer, in dem sich auch ihr Computer befand. Gerade als sie es betrat, klingelte plötzlich ihr Telefon und Lara nahm nichtsahnend den Hörer ab.

    „Ja?"

    „I grüß dich mein Kleine. Wie geht dir?"

    Ihre Mutter. Augenblicklich war Lara von ihr genervt.

    „Es geht mir gut." Das war schon immer die einfachste und sicherste Antwort.

    „Das´t schön", sagte Laras Mutter und stieß auf.

    „Weshalb rufst du an?"

    „Ich wollt dich dran erinnern, dass der Sonntag der, der..."

    „Der Flieger", half ihr Lara.

    „Ja, dass Sonntag der Flieger geht."

    „Ja Mama, stöhnte sie laut ins Telefon. „Ich vergesse doch nicht eine ganze Woche Urlaub!

    „Gut. Ja, ich ollt boß no mal..." Ihre Artikulation erlaubte es gelegentlich nicht sie einwandfrei zu verstehen und auch

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