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Die Autobiographie von Matthew Scudder: Matthew Scudder, #20
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eBook294 Seiten4 Stunden

Die Autobiographie von Matthew Scudder: Matthew Scudder, #20

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Die Autobiographie von Matthew Scudder

 

Lawrence Block schreibt seit den 1970er Jahren preisgekrönte Romane und Kurzgeschichten über Matthew Scudder. Nachdem inzwischen sowohl der Autor als auch sein Detektiv ein halbes Jahrhundert älter sind, überkam ersteren das Bedürfnis, ein Buch über seinen Protagonisten zu schreiben.

Allerdings fand er, dafür nicht der Richtige zu sein.

 

LB: »Wie muss man sich Matts Familie vorstellen? Wie sah seine Jugend aus? Wie verschlug es ihn zum NYPD? Wie schaffte er es von der Polizeiakademie bis zur goldenen Dienstmarke eines Detective? Welche Einflüsse und Erfahrungen machten ihn zu dem Mann, als den wir ihn kennengelernt haben? Lauter interessante Fragen. Es gab eindeutig Geschichten, die zu erzählen sich lohnte, was aber nicht hieß, dass ich der Richtige war, um sie zu erzählen. Wenn es Matt Scudders Memoiren verdienen, geschrieben zu werden, sollte er sie selbst schreiben. «

 

Also übertrug Lawrence Block diese Aufgabe derjenigen seiner fiktiven Figuren, die sich am längsten gehalten hat, und das Ergebnis – Die Autobiographie von Matthew Scudder – ist ein erstaunliches Dokument, sowohl ein überzeugender Bildungsroman als auch der zwangsläufige Höhepunkt einer herausragenden Serie.

Seit seinem Debüt in Die Sünden der Väter von 1976 ist Matthew Scudder in Echtzeit gealtert; das trifft, wer hätte das gedacht, auch auf seinen Schöpfer Lawrence Block zu, der am 22. Juni 2022 84 Jahre alt geworden ist, während Mr. Scudder denselben Meilenstein am 7. September erreicht hat. Die Autobiographie von Matthew Scudder zeigt in aller Deutlichkeit – und Nachdrücklichkeit –, dass sie es beide noch draufhaben.

 

Lawrence Block, ein Grand Master der Mystery Writers of America, ist mehrfach mit dem Edgar Allan Poe und dem Shamus Award ausgezeichnet worden; in Anerkennung seines Lebenswerks hat er unter anderem von der UK Crime Writers Association den Diamond Dagger verliehen bekommen.

SpracheDeutsch
HerausgeberLawrence Block
Erscheinungsdatum24. Juni 2023
ISBN9798223384861
Die Autobiographie von Matthew Scudder: Matthew Scudder, #20
Autor

Lawrence Block

Lawrence Block is one of the most widely recognized names in the mystery genre. He has been named a Grand Master of the Mystery Writers of America and is a four-time winner of the prestigious Edgar and Shamus Awards, as well as a recipient of prizes in France, Germany, and Japan. He received the Diamond Dagger from the British Crime Writers' Association—only the third American to be given this award. He is a prolific author, having written more than fifty books and numerous short stories, and is a devoted New Yorker and an enthusiastic global traveler.

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    Buchvorschau

    Die Autobiographie von Matthew Scudder - Lawrence Block

    Die große Frage: wo beginnen?

    Mit meiner Geburt wahrscheinlich, und dem muss ich gleich das Geständnis hinzufügen, dass mein Geburtsdatum nicht mit dem übereinstimmt, das Sie in mindestens einem meiner Bücher finden werden. Das sind faktische Angaben, oder zumindest sind sie so faktisch, wie es das menschliche Gedächtnis und die künstlerischen Erfordernisse zulassen. Manchmal weichen sie jedoch ein wenig von den Tatsachen ab. Ich weiß nicht, warum mir Lawrence Block einen Geburtstag im April oder Mai verpasst hat. Hat er aber, und er hat dabei auch noch gleich angeführt, dass ich Stier bin, mit der ganzen Hartnäckigkeit oder meinetwegen auch Sturheit, die angeblich mit diesem Sternzeichen einhergeht.

    Auch wenn ich diese Charakterzüge nicht leugnen kann, bin ich in Wirklichkeit Jungfrau, am 7. September 1938 als erstes Kind von Charles Lewis Scudder und Claudia Collins Scudder im Bronx Maternity Hospital am Grand Concourse geboren. Ich erhielt den Namen Matthew Collins Scudder – Collins, weil das der Mädchenname meiner Mutter war. Soviel ich weiß, gab es in der Familie keinen Matthew. Ich glaube, der Name hat ihnen einfach nur gefallen.

    Wir müssen damals in der Bronx gewohnt haben, aber lange können wir nicht dort geblieben sein, weil wir in Richmond Hill waren, als am 4. Dezember 1941 in einer Klinik irgendwo in Queens mein Bruder geboren wurde. Sie nannten ihn Joseph Jeremiah Scudder, und drei Tage später bombardierten die Japaner Pearl Harbor, und zwei Tage danach starb mein Bruder, entweder an einem Geburtsfehler oder weil bei der Geburt Komplikationen auftraten. Was genau passiert ist, habe ich nie erfahren, aber ich glaube, dass es eine schwere Geburt war, weil meine Mutter fast dabei gestorben wäre. Sie musste bis Weihnachten in der Klinik bleiben. In dieser Zeit kümmerte sich ihre Schwägerin um mich. Das war meine Tante Peg, die mit Walter, dem Bruder meiner Mutter, verheiratet war.

    An nichts von all dem kann ich mich erinnern. Ich erinnere mich nur, davon gewusst zu haben, weil es mir erzählt wurde. Aber erinnern kann ich mich nicht daran. Ich hatte nicht ganz eine Woche lang einen Bruder, habe ihn aber nie gesehen.

    »Nach dem Tod deines Bruders war sie nicht mehr dieselbe.« Das hörte ich Tante Peg mehr als einmal sagen, und auch eine andere Tante, wahrscheinlich Tante Rosalie, obwohl es auch Tante Mary Katherine gewesen sein könnte. Ich hatte eine Menge Tanten und Onkel, die meisten mütterlicherseits. Mein Vater hatte zwei Schwestern, Charlotte, die eine dritte Klasse unterrichtete und nie heiratete, und Helen, die Jahre vor meiner Geburt heiratete und in Kansas lebte, in Topeka, glaube ich. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet, bei der Beerdigung meines Vaters. Sie kam nach New York geflogen, ihr erster Besuch in der Stadt, nachdem sie als Braut frisch von der Highschool fortgezogen war. Ich erinnere mich, dass sie auf mich aufpasste und mir Kindheitserinnerungen an meinen Vater erzählte. Allerdings war sie dann betrunken, und es waren immer wieder dieselben zwei, drei Geschichten.

    Inzwischen sind sie natürlich alle tot, die Tanten und Onkel. Helen hatte Kinder, und mindestens eins von ihnen muss älter gewesen sein als ich, weil ich glaube, dass es ihre Schwangerschaft war, die sie in eine frühe Heirat und fort von New York trieb. Ich habe nie erfahren, wie ihre Kinder, meine Cousins und Cousinen, hießen oder wie viele sie waren, und ich habe keine Ahnung, ob sie noch leben oder schon tot sind.

    Und natürlich waren da noch die Cousins und Cousinen mütterlicherseits, nicht gerade wenige, aber ich habe sie schon lange aus den Augen verloren. Wenn ich es wirklich wollte, könnte ich sie wahrscheinlich ausfindig machen. Für solche Fälle gab es in meiner Kindheit eine Radiosendung, Mr. Keen, Tracer of Lost Persons (Mr. Keen spürt verschollene Personen auf); auch ich sollte später einige Erfahrung im Aufspüren verschollener Personen sammeln, von denen das in meinem Fall die meisten allerdings auch bleiben wollten.

    Heutzutage ist das dank Google ziemlich einfach. Bisher habe ich jedoch noch keine Versuche in dieser Richtung unternommen und werde das wahrscheinlich auch nicht tun. Meine Frau Elaine hat einen Wangenabstrich gemacht und ein Wattestäbchen mit Epithelzellen an Ancestry.com oder ein ähnliches Unternehmen eingeschickt und dabei erstaunlich viel über ihre Vorfahren, die Mardells wie die Cheploves, erfahren. Außerdem wird sie regelmäßig über irgendwelche wildfremde Menschen benachrichtigt, die keinen dieser Familiennamen tragen, aber einen beträchtlichen Anteil DNA mit ihr teilen.

    Ich könnte auch so einen Abstrich einschicken. Ich weiß so gut wie nichts über meine Großeltern und gar nichts über frühere Generationen von Scudders und Collins’ – aber was würde es schon groß ändern, wenn ich wüsste, welche Helden und Halunken in meinem Stammbaum genistet haben?

    Und wenn ich eine Cousine dritten oder vierten Grades in Pembroke, Oregon, habe, na und?

    Ich könnte auch erfahren, dass Michael und Andrew, die Söhne aus meiner ersten Ehe, nicht meine einzigen Nachkommen sind. Vor einem halben Jahrhundert, sowohl vor als auch nach meiner ersten Ehe, habe ich ein reges Sexualleben geführt. Ich habe in dieser Zeit auch getrunken und mit wildfremden Frauen geschlafen – und bin dabei stillschweigend davon ausgegangen, dass sie die Pille nehmen.

    Inzwischen glaube ich allerdings, dass meine Partnerinnen bei diesen Abenteuern, die wie ich in den Bars tranken, in denen ich sie kennenlernte, nicht nennenswert verantwortungsbewusster waren als ich. Eine von ihnen könnte ein Kind von mir bekommen haben, ohne zu wissen, von wem es war.

    Oder ohne sich an mich erinnern zu können.

    Man hört da immer wieder Geschichten. Ein Brief, oder inzwischen eher eine E-Mail. »Du kennst mich nicht, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass du mein Vater sein könntest …«

    Das mit dem Wangenabstrich lasse ich lieber, glaube ich.

    ∗ ∗ ∗

    Vermutlich war auch mein Vater nach dem Tod meines Bruders nicht mehr derselbe. Das sind natürlich nur Annahmen oder Schlussfolgerungen, denn aus der Zeit vor dieser fatalen Woche habe ich keine Erinnerungen an meine Eltern.

    Sie waren gute Eltern, glaube ich. Ich wurde nie geohrfeigt, geschweige denn richtig geschlagen, und falls einer von ihnen jemals die Hand gegen den anderen erhoben haben sollte, habe ich es nicht mitbekommen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie viel gestritten haben, aber wenn ich an diese frühen Jahre zurückzudenken versuche, kommen mir lange schweigsame Nachmittage und Abende in den Sinn, in denen die einzige Stimme, die zu hören war, aus dem Radio kam.

    »Heute Abend habe ich gute Nachrichten!«

    Das war Gabriel Heatters Slogan in seiner WOR-Nachrichtensendung, und in meiner Erinnerung kann ich die Worte heute noch in seiner warmen, sonoren Stimme hören. Wenn mein Vater es schaffte, rechtzeitig nach Hause zu kommen, versäumte er Heatters Sendung nie. Ich bin sicher, es muss Abende gegeben haben, an denen der Nachrichtensprecher diese Worte nicht sagte, weil ein Weltkrieg tobte und nicht jeder Tag gute Nachrichten mit sich brachte. Doch Gabriel Heatter sah die Dinge gern von der erfreulichen Seite, und ich glaube, mein Vater freute sich über diese sechs Wörter mindestens ebenso sehr, wie er wissen wollte, was in der Welt passierte.

    Manchmal kam er spät nach Hause, lange nach der Sendung, die meine Mutter vielleicht, vielleicht aber auch nicht angemacht haben könnte. »Heute Abend habe ich gute Nachrichten!«, rief er dann in Nachahmung von Heatters Ankündigung, wenn auch nicht seiner Stimme. Und manchmal beließ er es dabei, oder er verkündete die guten Nachrichten des Abends selbst – meistens einen Sieg der Yankees. Wie unsere Soldaten in Europa und Asien waren die Yankees ein Team, zu dem man gern hielt. Sie gewannen wesentlich öfter, als sie verloren.

    Ich weiß nicht, warum ich um den heißen Brei herumrede. Deshalb rücke ich jetzt lieber damit heraus: Er trank. An den Abenden, an denen er Gabriel Heatter versäumte, blieb er normalerweise länger als üblich in der Bar, die er damals gerade favorisierte. Aber wenn er nach Hause kam, roch er tröstlich nach Whiskey.

    Tröstlich? Ein überraschendes Wort. Schon komisch, was man sich alles sagen hört.

    Für Charlie Scudder ein Trost, das auf jeden Fall, und ich glaube, dass es auch für mich ein Trost war. Das war sein Bouquet, sein Geruch, und er bedeutete, dass Daddy zu Hause war.

    Er torkelte nicht, er fiel nicht hin. Vielleicht redete er etwas lauter, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er lallte. Keine Persönlichkeitsveränderungen, keine Ausbrüche verbaler oder körperlicher Gewalt. Wenn er das nicht schon davor getan hatte, aß er etwas, und vielleicht nahm er eine Flasche aus dem Schrank und schenkte sich ein Glas ein, das er dann trank, während er seine Chesterfields rauchte und Radio hörte oder die Abendzeitung las.

    Er trank Blended Whiskey. Die Marken, an die ich mich erinnere, hatten alle Zahlen im Namen – Four Roses, Three Feathers, Seagram’s Seven.

    Wir zogen oft um, so kam es mir zumindest vor. Bei meiner Geburt wohnten wir in der Bronx, bei der Geburt und beim Tod meines Bruders in Queens. Als ich in den Kindergarten kam, waren wir noch in Richmond Hill, aber irgendwann in der ersten Klasse zogen wir, glaube ich, nach Ridgewood oder Glendale, und ich kam in eine andere Schule. Das muss eine katholische Schule gewesen sein, weil dort Nonnen unterrichteten.

    Religiös waren wir nicht. Die Familie meines Vaters war offiziell protestantisch, aber in die Kirche ging niemand von ihnen. Die Collins’ waren teils katholisch, teils protestantisch, und wenn sie in Belfast gelebt hätten, hätten sie sich wahrscheinlich mit Bomben beworfen, aber niemand nahm das sonderlich ernst.

    Eileen, die Schwester meiner Mutter, war mit Norman Ross verheiratet, der eigentlich Rosenberg geheißen hatte. »Juden sind gute Ehemänner.« Ich erinnere mich, eine meiner Tanten das mal sagen gehört zu haben, und ich vergaß es nie und fragte mich, was es bedeutete. Irgendwann fand ich heraus, dass es entweder hieß, dass sie ein Händchen für Geld hatten oder dass sie nicht tranken. Vielleicht auch beides.

    Ich weiß nicht, wie es Onkel Norman mit dem Geld hielt, und ich könnte nicht sagen, ob er viel trank oder in Maßen oder gar nicht, aber er hielt sich nicht fern genug vom Alkohol. Er hatte einen Liquor Store und wurde mehr als einmal ausgeraubt, und der Letzte, der eine Pistole auf ihn richtete, drückte auch ab, und das war das Ende von Norman Ross, geb. Rosenberg.

    Ein paar Jahre später heiratete Tante Eileen wieder, ebenfalls einen jüdischen Mann. Onkel Mels Familienname war Garfinkel, weshalb ich mir nicht vorstellen kann, dass er ihn geändert hat, und er hatte eine Eisenwarenhandlung im Queens Boulevard. Eisenwarenhandlungen wurden weniger häufig ausgeraubt als Liquor Stores, und soviel ich weiß, lebten Tante Eileen und Onkel Mel glücklich bis an ihr Ende.

    Schauen Sie, ich bin ein alter Mann. Meine Gedanken sind wie ein alter Fluss, der sich bald hierhin, bald dahin krümmt und es nicht besonders eilig hat, dahin zu kommen, wohin er unterwegs ist. Mäandern ist das Wort dafür.

    ∗ ∗ ∗

    Meine Mutter war immer da, aber ihre Anwesenheit hatte immer etwas Unverbindliches. Sie machte alles, was sie machen sollte, sie stand am Morgen auf und machte uns Frühstück, sie machte die Betten, wusch unsere Sachen und wischte die Böden, sie ging Lebensmittel einkaufen, sie stellte das Essen auf den Tisch.

    Und das alles tat sie in fast völligem Schweigen. Ich glaube nicht, dass sie außer der Familie irgendwelche Freunde hatte. Wenn das Telefon läutete, und es läutete nicht oft, war es in der Regel eine ihrer Schwestern mit Familienneuigkeiten – wenn jemand krank oder verlobt oder schwanger oder tot war.

    Wenn ich zu Hause war, hörte ich immer nur ihren Anteil an den Gesprächen. »Das ist aber schade. Oh, wie schön. Oh, das tut mir aber leid.«

    Sie trank nicht. Und wenn sie mein Vater drängte, etwas zu trinken, weil es etwas zu feiern gab, beließ sie es bei einem Glas und trank selbst das oft nicht aus. Dabei fällt mir etwas ein, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe: Wie ich ein halb volles Glas von ihr fand und es austrank. Nur ein einziges Mal, und ich kann damals höchstens acht oder neun Jahre alt gewesen sein, wusste aber bereits, dass das etwas war, was ich nicht tun sollte.

    Aber ich wollte es, und niemand schaute, und ich trank es. Es dürften etwa 50 ml von irgendwas Alkoholischem gewesen sein, das ursprünglich ein Whiskey Soda war. Die Bläschen waren allerdings weg, und es war hauptsächlich geschmolzenes Eis, als ich es in die Finger bekam.

    Ich mochte den Geschmack. Und vermutlich mochte ich auch die Idee dahinter. Und die Wirkung? Ich wusste nicht, dass es eine hatte, zumindest keine, die ich spürte. Und einerseits gefiel mir, dass ich etwas Verbotenes getan hatte, andererseits nicht. Niemand wusste, dass ich es getan hatte, und niemand würde es jemals herausfinden (und ich weiß nicht, ob sie sich wirklich groß aufgeregt hätten, wenn doch), aber ich war ein braver kleiner Junge, der nicht dazu neigte, Dinge zu tun, die er nicht tun sollte.

    Ich erinnere mich noch, dass ich zwei Entschlüsse fasste. Der erste war, dass ich von jetzt an die Finger von jedem Drink lassen würde, den meine Mutter stehen ließ, oder ihn unangetastet in den Abguss kippen würde. Und der zweite war, dass Whiskey eine gute Sache war und ich einiges davon trinken würde, wenn ich alt genug dafür war.

    Einiges und noch ein bisschen mehr.

    ∗ ∗ ∗

    Wenn sie auch nicht viel trank, war meine Mutter eine starke Raucherin, und ich glaube, sie rauchte sogar mehr als er. Egal, was sie tat, hatte sie normalerweise eine Zigarette im Mund. Wenn sie Essen kochte oder Betten machte, war nie eine weit und wartete in einem Aschenbecher darauf, dass sie nach ihr griff. Wenn sie sich setzte und Radio hörte, hatte sie immer eine Zigarette zwischen den Fingern, und wenn sie sie ausgedrückt hatte, dauerte es nie lange, bis sie sich die nächste anzündete.

    Wie mein Vater rauchte sie Chesterfields. Und natürlich waren auch meine ersten Zigaretten Chesterfields, die ich aus ihrem Päckchen stibitzte. Das dürfte ein paar Jahre nach meinem ersten Drink gewesen sein, und wenn ich auch wusste, dass das etwas Verbotenes war, kann ich mich nicht erinnern, dass mich das groß belastete. Womit ich allerdings Probleme hatte, war der Geschmack. Weiter als bis zu einem Zug kam ich bei meiner ersten Zigarette nicht, und obwohl ich im Lauf der Jahre andere Marken probierte und einige davon zur Hälfte rauchte, kam ich nicht wirklich auf den Geschmack, und schon gar nicht entwickelte ich eine Sucht dafür.

    Nicht so Claudia Scudder. Ich sah sie zwar nie eine Zigarette am Stummel einer anderen anzünden, aber wenn sie nicht aß oder schlief, hatte sie in der Regel eine Zigarette brennen. Eine Stange dürfte ihr keinesfalls länger als drei Tage gereicht haben.

    Also drei, vier Schachteln am Tag. In meiner Kindheit kostete eine Stange zwei Dollar und eine Schachtel aus dem Automaten einen Quarter. Wir hatten zwar nie viel Geld, aber selbst eine schwere Nikotinabhängigkeit hatte minimale finanzielle Auswirkungen. Niemand musste jemals auf etwas verzichten, um sich die nächste Packung oder Stange leisten zu können.

    Ich habe es gerade nachgesehen und mir von Google einen Rechercheausflug zum Deli um die Ecke ersparen lassen. Heute kostet eine Packung Zigaretten in New York City durchschnittlich $11.96. Das sind – wie viel? – sechzig Cent für eine Zigarette. Zu Zeiten meiner Mutter kosteten die Dinger noch einen Cent.

    Aber was soll’s? Sie halfen ihr über die Runden, ihre Zigaretten und ihre Seifenopern. Jahrelang im Radio, und dann, in meinem zweiten Highschooljahr, kam mein Vater eines Tages mit einem Philco-Fernseher nach Hause, und über kurz oder lang übertrug sie ihre Anhänglichkeit von bloßen Stimmen und Klangeffekten auf Figuren, die sie richtig sehen konnte.

    Das nennt sich dann Fortschritt.

    Es waren die Zigaretten, die sie umbrachten, auch wenn sie sich noch knapp neun Jahre Zeit damit ließen, nachdem er am Alkohol zugrunde gegangen war.

    Es ist eine ganz schöne Plackerei, sich an all das zu erinnern und es aufzuschreiben. Ich mache lieber mal eine Pause.

    ∗ ∗ ∗

    Mein Vater hangelte sich von einem Job zum nächsten. Mir war nicht immer klar, wann ein Job endete und ein anderer begann, und ich wusste auch nicht immer, was er machte. Eine Weile arbeitete er als Ausfahrer für eine Bäckerei – das weiß ich noch, weil ich samstags ab und zu mit ihm mitfahren durfte.

    Einmal hatte er auch ein Schuhgeschäft, einen kleinen Laden in der South Bronx. Wir wohnten woanders, als er ihn kaufte – in einem anderen Teil der Bronx oder vielleicht auch irgendwo in Queens –, aber wir zogen näher zum Laden, als er ihn ein, zwei Monate hatte. Und manchmal ging ich nach der Schule zu Fuß hin.

    Es dauerte kein Jahr, bis die Sache mit dem Schuhgeschäft schiefging. Wir zogen woanders hin. Inzwischen gibt es das alles nicht mehr, den Block, in dem der Laden war, den Block, in dem wir im Obergeschoss eines Holzhauses wohnten. Alles platt gemacht für den Bau des Cross-Bronx Expressway, und ich war in all den Jahren nie in diesem Abschnitt des Highway unterwegs gewesen, ohne an das Schuhgeschäft zu denken.

    Die Jobs dauerten also nie besonders lange, aber das galt auch für die Phasen der Arbeitslosigkeit. Er war, um es mal drastisch auszudrücken, ein Säufer, und der Alkohol bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Beschäftigungsgeschichte, ob man nun während der Arbeitszeit trinkt oder nicht.

    Ich weiß nicht, wie er das mit dem Trinken sah. Er könnte sich, wie das einige Leute tun, als funktionalen Alkoholiker bezeichnet haben, und obwohl mir die Bedeutung des Begriffs klar ist, finde ich dysfunktionaler Alkoholiker eigentlich passender.

    Meiner Ansicht nach hat er viele Jobs von sich aus aufgegeben. Sie boten keine Zukunftsperspektiven, sie waren langweilig, und sie brachten für zu viel Arbeit zu wenig Geld ein. Bestimmt gab es aber auch Fälle, in denen ihm gekündigt wurde.

    Er war Alkoholiker und depressiv, obwohl ich nie mitbekam, dass diese Begriffe auf ihn angewendet wurden. Er schien seinen Zustand zu akzeptieren – dass seine Abende auf einem Whiskeyfluss dahintrieben, dass aus seinen Plänen nie etwas wurde, dass ihn das kurze Aufkeimen von Optimismus, das mit jedem Job- oder Wohnungswechsel einherging, dorthin zurückwarf, wo er angefangen hatte und immer gewesen war.

    Ich erinnere mich an einen Abend, der sich eigentlich nicht von all den anderen Abenden unterschied. Sie war in der Küche, er saß mit einem Glas in der Hand in seinem Sessel im Wohnzimmer. Three Feathers, Four Roses, keine Ahnung.

    »Ach, weißt du, Mattie«, sagte er, hielt sein Glas hoch und schaute durch es hindurch zur Deckenlampe hoch. »Die Welt ist ein ganz schön harter Ort. Um das durchzustehen, braucht ein Mann ein bisschen Hilfe.«

    ∗ ∗ ∗

    Ich habe erzählt, wie er gestorben ist. Ich bin ziemlich sicher, dass es in eins der Bücher eingeflossen ist, vielleicht sogar mehr als einmal, obwohl es in den Büchern wie alles andere auch ein wenig dem Verlauf der Erzählung angepasst worden sein könnte. Die Bücher sind Geschichten, und obwohl ihr Inhalt realistisch ist, sind sie bewusst als Geschichten konzipiert, immer mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende.

    Ich vermute, Menschenleben sind genauso gegliedert, obwohl es in Büchern klarer erkennbar ist. Charlie Scudders Leben bestand hauptsächlich aus dem Mittelteil, wie das vermutlich bei den meisten Menschen der Fall ist, sieht man einmal von seinem zweitgeborenen Sohn ab, meinem Bruder Joe, der in einem Wimpernschlag vom Anfang zum Ende kam.

    Ich denke kaum an diesen Bruder, den ich nie gesehen und nie kennengelernt habe. Und jetzt, achtzig Jahre später, ist es, als wäre er hier im Zimmer mit mir. Genau an der Grenze meines peripheren Blickfelds – das im Lauf der Jahre unaufhaltsam geschrumpft ist.

    Er schwirrt an den Rändern meines Denkens herum, wenn Sie so wollen.

    Aber egal. Das Ende meines Vaters kam eines Abends, nachdem er in einer der Stationen in der West Fourteenth Street in die U-Bahn der Canarsie Line in Richtung Osten eingestiegen war. Ich weiß nicht, was ihn an diesem Abend nach Manhattan geführt oder veranlasst hat, diese spezielle U-Bahn in Richtung Brooklyn zu nehmen.

    Ich muss annehmen, dass er getrunken hatte. Um diese Uhrzeit hatte er sicher schon einiges intus, und vielleicht sogar mehr als einiges. Und irgendwann ging er von einem U-Bahnwaggon zum nächsten – oder zumindest von einem Waggon auf den Verbindungsgang zum nächsten. Man durfte in der U-Bahn – oder in den Stationen – nicht rauchen, aber es kam immer wieder vor, dass jemand auf die Plattform zwischen zwei Waggons hinausging, um schnell eine Zigarette zu rauchen.

    Trotzdem war es natürlich verboten. Man rauchte trotzdem in der U-Bahn, auch wenn man nicht mehr in einem Waggon war. Außerdem verstieß man damit gegen das Verbot, auf den Plattformen zwischen den Waggons zu stehen. Allerdings ist mir nie zu Ohren gekommen, dass deswegen jemand belangt oder auch nur zurechtgewiesen wurde.

    Vielleicht hielt die U-Bahn abrupt an oder fuhr ruckartig los oder machte sonst eine unerwartete Bewegung. Vielleicht aber auch nicht. Es macht letztlich keinen großen Unterschied. Er fiel auf die Gleise und wurde von so vielen Waggons überrollt, dass ein geschlossener Sarg angeraten schien.

    Zu seiner Beerdigung kamen mehr Leute, als ich erwartet hätte. Familienangehörige natürlich, aber eine Menge Leute, die ich nie zuvor gesehen hatte. Hauptsächlich Männer. Vermutlich kannten sie ihn von einem seiner vielen Jobs.

    Er wurde dreiundvierzig Jahre alt.

    Es war Ende August, der Sommer zwischen meinem zweiten und dritten Jahr in der Monroe. Das ist die James Monroe High School in der Boynton Avenue in der Bronx. Wahrscheinlich hätte ich nicht dorthin gehen sollen, sondern lieber die Aufnahmeprüfung für die Bronx Science machen sollen, aber dieser Gedanke kam mir nie, und es riet mir auch niemand dazu.

    Manchmal glaube ich, dass Kleinigkeiten, die eigentlich folgenlos sein sollten, oft enorme Konsequenzen im Leben haben.

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