Die Kraft der Versöhnung: Ruanda: Die unglaubliche Geschichte von Vital Nsengiyumva
Von Steve Volke
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Über dieses E-Book
Vital war Patenkind bei Compassion, lebt heute mit seiner Familie in Stuttgart und engagiert sich ehrenamtlich in dem Verein.
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Buchvorschau
Die Kraft der Versöhnung - Steve Volke
1
Ruanda – die blühende Perle Ostafrikas
Ruanda – das „Land der tausend Hügel" in Ostafrika. Eine echte Perle mit wunderschönen Landschaften und unzähligen Tee- und Kaffeeplantagen. Kleine Dörfer zwischen Hügeln, atemberaubende Schönheit. Ruanda ist ein Binnenstaat zwischen Uganda, Tansania, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo gelegen.
Ruanda – das Land der Berggorillas, Elefanten, Flusspferde, Schimpansen, Löwen, Leoparden – und jeder Menge Kühe, Ziegen und Schafe. Atemberaubende Landschaften, eine Natur voller Tierreichtum und nebelverhangener Berge der Ur- und Regenwälder. All das prägt Ruanda und hat dem Land bei Europäern den Ruf der „Toskana Ostafrikas" eingebracht.
Ein Traum, wäre da nicht auch die andere Seite des Landes, die Ruanda 1994 fast in Schutt und Asche gelegt hätte: der Völkermord an den Tutsi. Knapp eine Million Menschen verloren ihr Leben. Hass breitete sich aus. Freunde wurden zu Feinden, Nachbarn zu Gegnern, Jugendliche zu Mördern, Priester und Kirchen zu Verrätern, Weltpolitiker zu ignoranten Versagern, die Vereinten Nationen (UN) zu Feiglingen, Frankreich, Belgien und Deutschland zu üblen Mittätern aus der Ferne.
Wer wissen will, wie Hass geboren wird und was er bewirken kann, muss sich die Geschichte Ruandas anschauen.
Mittendrin ein vierjähriges Kind, das mit seinen Eltern und acht Geschwistern über Nacht zum Flüchtling wird: Vital Nsengiyumva. Eine andere Geschichte. Eine Geschichte von Verrat unter Nachbarn, von Mord und Totschlag, von existenziellen Ängsten, aber auch von der Kraft der Versöhnung, die ein Land, ein Dorf, eine Familie ergreift – und die doch noch lange nicht zu Ende ist.
Versöhnung muss gelebt werden. Hass, Rachegedanken und Vergeltung versuchen immer wieder neu die Oberhand zu gewinnen. Dennoch: Versöhnung kann geschehen, wenn wir die Kraft der Liebe Gottes durch uns hindurchfließen lassen. Das hat Auswirkungen auf unser ganzes Leben – auch darüber werden wir in diesem Buch sprechen.
Ich habe mich auf den Weg gemacht, um Vital in seine alte Heimat zu begleiten. Das Dorf Magu liegt etwa anderthalb Stunden entfernt im Süden der Hauptstadt Kigali. Hier ist Vital aufgewachsen, hier hat er seine Kindheit verbracht. Als wir losfahren, lichtet sich der Nebel langsam über dem Tal. Aufgesogen von der Kraft der Sonne. Es ist noch früh am Morgen und ich sitze im Mini-Van. Es geht über hügelige Straßen, vorbei an tiefen Tälern und im wahrsten Sinn über Stock und Stein.
Nach gut anderthalbstündiger Fahrt haben wir unseren Zielort erreicht: Magu Village. Das Dorf, in dem 1994 alles begann: Vitals Vater wurde im Genozid getötet, der Mörder kam aus der Nachbarschaft. Seine Mutter war traumatisiert, setzte aber alles daran, dass die Familie überlebte. Der Abstieg der Familie vom gehobenen Mittelstand hin zur Armut folgte in kürzester Zeit, trotzdem werden sieben der neun Geschwister später ein Universitätsstudium absolvieren und die gesamte Familie wird zu einem guten Leben zurückfinden.
Dabei hätte alles ganz anders kommen können,
wenn da nicht eine aufopferungsvolle Mutter gewesen wäre, die ihre Familie mit viel Gottvertrauen, Entschlossenheit und Liebe durch eine sehr dunkle Zeit gebracht hätte.
wenn es im nahen Ruyumba nicht eine Kirchengemeinde gegeben hätte, die sich um die Entwicklung der Kinder kümmerte und eine wichtige Rolle im Versöhnungsprozess spielte.
wenn es nicht in einem anderen Teil der Welt Menschen wie Tanner Green gegeben hätte, die durch die Vermittlung des Kinderhilfswerkes Compassion Verantwortung für Kinder aus ärmsten Verhältnissen übernahmen.
wenn es keine Menschen gegeben hätte, für die Worte wie Vergebung und Versöhnung trotz eigener schmerzvoller Erlebnisse und Erfahrungen keine Fremdworte waren.
wenn es keinen Gott geben würde, dem Vital wichtig war und der sich um seinen Lebensweg gekümmert hat.
Und wenn …
… es da nicht die junge Frau aus Deutschland gegeben hätte, die ein Freiwilliges Soziales Jahr in Ruanda absolvierte und in die sich Vital wenige Wochen vor seiner Abreise zum Auslandsstudium in Deutschland Hals über Kopf verliebte. So viel sei verraten: Ihre Kinder sagen heute „Papa" zu Vital. Aber das ist nicht die einzige Geschichte, die dieses Buch erzählt.
„Ikaze", sagen die Menschen in Ruanda, wenn sie jemanden herzlich willkommen heißen.
Und dann fangen sie an zu erzählen …
„Ikaze!"
2
Ein Tag fürs Geschichtsbuch
Der 6. April 1994 sollte ein besonderer Tag werden, einer dieser Tage, die in die Geschichtsbücher eingehen würden. Der Tag des Triumphs am Ende eines schmerzhaften Friedensprozesses sollte so etwas wie ein neuer Feiertag für Ruanda werden. Das wurde er auch, aber ganz anders als gedacht.
Den ganzen Tag haben sie verhandelt, diskutiert und schließlich ihre Unterschriften unter ein Abkommen gesetzt, das einen über vier Jahre anhaltenden Bürgerkrieg beenden oder zumindest befrieden sollte. Die Verhandlungen bis zu diesem Tag waren langwierig, schwierig und kontrovers, aber nun war es endlich geschafft: Der Präsident von Ruanda, Juvénal Habyarimana, sein Präsidenten-Kollege aus Burundi, Cyprien Ntaryamira, und Vertreter der ruandischen Bevölkerungsgruppen der Hutu sowie der Tutsi trafen sich auf neutralem Boden im tansanischen Dar es Salaam, um die Menschen in ihrem Heimatland in eine friedliche Zukunft zu führen.
Den ganzen Tag über wurden in Einzeltreffen von verschiedenen Delegationen die Bedingungen und der Rahmen für ein friedliches Miteinander besprochen. Und schließlich ist es so weit: Ein Vertrag liegt auf dem Tisch, der von allen unterzeichnet wird. Auf Filmdokumenten wird später ein äußerst zufriedener Präsident Habyarimana zu sehen sein. Umarmungen aller Beteiligten. Zufriedene Gesichter. Erleichterte Stimmung macht sich im Verhandlungsraum breit. Ein Tag für das Geschichtsbuch.
Selbst auf dem Flugplatz in Dar es Salaam ist die hoffnungsvolle Stimmung mit Händen zu greifen. Kurz nach 17.00 Uhr dreht sich Habyarimana auf der Treppe ins Flugzeug noch einmal um und lächelt zufrieden, wenn auch etwas müde in die Kameras. Es ist nicht das Lächeln eines Siegers, mehr das verhaltene Lächeln eines Mannes, dem etwas gelungen ist, das nicht einfach war. Er hebt kurz seine Hand, dreht sich um und verschwindet im Inneren der Präsidentenmaschine.
Habyarimana konnte wirklich zufrieden sein mit dem Ergebnis der Reise. Ein Etappenziel auf dem Weg in eine friedliche Zukunft für Ruanda schien heute erreicht zu sein. Jetzt würde es nach Hause gehen. Nach Hause in ein Land, das bald so ganz anders aussehen würde als in der Vergangenheit. Frieden! Endlich! Natürlich würde es noch sehr viel Arbeit geben, aber der Grundstein für ein versöhnliches Miteinander war jetzt gelegt.
Mit Habyarimana besteigen der Präsident Burundis als Verhandlungsleiter sowie sieben Delegationsbegleiter die Maschine. Sie werden von den drei Besatzungsmitgliedern freundlich in Empfang genommen. Dann schließt sich die Tür, alle Plätze sind besetzt. Aufatmen und Ausatmen nach einem anstrengenden Tag.
Was muss das für ein Gefühl gewesen sein? Ein glückliches Ende langwieriger Verhandlungen. Jetzt erleichtert und zufrieden nach Hause kommen, den Abend im Kreis der Familie genießen. Ein Kuss der Ehefrau, vielleicht ein Telefonat mit den Kindern, ein Gläschen Champagner oder mindestens ein großes Bier. Vielleicht rufen auch Freunde an, wollen kurz wissen, wie es gelaufen ist. So bringt man erfolgreiche Tage zu Ende. Selbst abgeklärte Politiker werden am Abend solcher Tage zu Menschen aus Fleisch und Blut. Ein inneres Schulterklopfen für sich selbst und dann in aller Ruhe mal endlich wieder zufrieden und lange schlafen.
Doch es sollte anders kommen.
Es ist 18.00 Uhr, als die Falcon 50 der ruandischen Regierung in die Dunkelheit über Dar es Salaam startet. Die Insassen ahnen nicht, was ihnen bevorsteht. Gestartet im Dunkeln, gelandet in der Hölle!
Wäre es ein Flug wie so viele andere gewesen, wer hätte sich später noch darum gekümmert? Doch dieser Flug wird in den nächsten Tagen und Jahren immer wieder untersucht und in allen Einzelheiten seziert. Bis heute gibt er Anlass zu unterschiedlichsten Spekulationen, denn immer noch verbergen sich die Ereignisse dieses Abends hinter einer Nebelwand. Die unbestrittenen Fakten sind:
Um 18.05 Uhr erhält der Fluglotse Patrice Muguneza am Airport Kigali die Nachricht, dass die Maschine des Präsidenten in Tansania gestartet sei. Die Ankunft in Kigali ist für 20.26 Uhr geplant. Etwa anderthalb Stunden später funkt der Pilot, dass das Flugzeug sich nun im ruandischen Luftraum befindet und mit einer planmäßigen Landung zu rechnen sei. Ein Trugschluss, wie sich bald herausstellte.
Um 20.10 Uhr erscheint die Maschine auf dem Radar des Flughafens Kigali. Etwa eine Viertelstunde später wird der Fahrer Futuna Makuba die Limousine des Präsidenten bereit machen, um das Gepäck möglichst schnell im Auto verstauen zu können. Der Präsident möchte gewöhnlich keine Zeit verlieren, wenn es auf den Weg nach Hause geht. Deshalb hat Makuba sein Fahrzeug bereits neben der Landebahn geparkt.
Er wird später zu Protokoll geben, er habe das Flugzeug des Präsidenten schon im Anflug gesehen, als plötzlich wie aus dem Nichts ein gelber Feuerball in der Luft auftauchte und die Maschine traf. Eine Rakete, gefolgt von einer weiteren, die das Flugzeug endgültig zum Absturz brachte.
Es sind solche Schockmomente, die sich bis ans Ende des Lebens ins Gedächtnis eingraben: Die lähmende Stille nach dem Knall, gefolgt von Tausenden Gedanken, die wild durch den Kopf fegen: Was zum Kuckuck war das? Was ist passiert? Wo ist das Flugzeug? Wer war das?
Später werden mehrere Versionen des Geschehens die Runde machen. Aber eins wird in diesem Moment allen Beobachtern klar geworden sein: Das war’s! Das Flugzeug des Präsidenten ist mit zwei Raketen abgeschossen worden. Niemand hat das überlebt!
Dieser Tag, der 6. April 1994, geht tatsächlich in die Geschichtsbücher ein. Es ist der Startschuss für einen der größten Völkermorde der Menschheitsgeschichte. Innerhalb der nächsten drei Monate bis Mitte Juli werden 800.000 bis 1 Million Menschen ihr Leben verlieren. Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Zeit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi ermordet worden sind.
Ein Datum, das das Ende des seit 1990 tobenden, aktuellen Bürgerkrieges markieren sollte, wurde zum Startpunkt eines Völkermordes unvorstellbaren Ausmaßes.
Warum? Wer war für den Abschuss verantwortlich? Die einen wollten zwei französische Soldaten in Khaki-Anzügen vom Flughafen fliehen gesehen haben. Andere wiederum hatten angeblich Geheiminformationen über eine Tutsi-Gendarmerie, die als Spezialkommando extra für dieses Attentat ausgebildet worden sei. Wieder andere fanden heraus, dass die beiden Raketen russische SA-16-Raketen gewesen seien, die zum Beutegut der US-Armee aus