Im Zauberland Almanya: Wie Integration gelingen kann
Von Hidir Karademir und Monika Carbe
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Über dieses E-Book
Diese Frage beschäftigt Politik und Gesellschaft. Hidir Karademir liefert mit seiner Autobiographie eine Antwort, die aus dem wirklichen Leben und eigener Erfahrung schöpft, und wirbt damit für eine aktive Integrationspolitik, die Deutsche und Migranten einander näherbringen soll.
Kindheit und Schulzeit verbringt Hidir Karademir in seiner ersten Heimat, einem alevitischen Bergdorf in der Türkei. Durch den spontanen Entschluss, nach Deutschland zu gehen, erfährt sein Leben eine gewaltige Veränderung. Das Deutschland der 1970er Jahre bedeutet zunächst eine fremde Welt und Kultur, aber einmal im "Zauberland Almanya" angekommen, ist er entschlossen, alle Chancen, die ihm dieses Land bietet, zu nutzen.
Der Schlüssel dazu ist Bildung.
So schafft er es in seiner zweiten Heimat Deutschland nicht nur, eine erstaunliche berufliche Karriere hinzulegen, sondern auch eine politische Karriere zu starten, die ihn schließlich bis zu einer Kandidatur für das Europaparlament führt.
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Buchvorschau
Im Zauberland Almanya - Hidir Karademir
2012
I.
»UĞURLU KADEMLI OLSUN! – MÖGE ES EUCH GLÜCK BRINGEN!«
Die Berge Kocadede und Zurbahan
IN EINEM DORF IN ANATOLIEN
Morgens ging die Sonne im Osten auf, hinter dem Berg Kocadede, und am Abend verschwand sie hinter dem Zurbahan. Zwischen diesen beiden Gipfeln spielte sich das Leben ab, im Dorf Uğurlu – das so viel wie ›segensreich‹ bedeutet – im Osten der Türkei, auf einem Hochplateau, knapp 2.000 Meter über dem Meeresspiegel. Im Regierungsbezirk Malatya waren die Sommer heiß und die Winter bitterkalt – wenn etwa drei Monate lang tiefer Schnee lag, bis zu einem Meter hoch, war das Dorf oft von der Außenwelt abgeschnitten.
Segensreich hatte im Jahr 1954 nicht mehr als 300 Einwohner, als ich zur Welt kam, als achtes und vorletztes Kind meiner Mutter Gülbahar. Ich wurde nach meinem Vater benannt, Hιdιr – der Name eines islamischen Heiligen, der auch als Hιzır bekannt ist, als Helfer in höchster Not. Wie bei jeder Geburt kamen Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Nachbarn, Freunde und die Dedeler – die Weisen – und wünschten den Eltern »Uğurlu kademli olsun! – Möge es euch Glück bringen!« Wir waren drei Brüder und sechs Schwestern, und mein ältester Bruder hätte mein Vater sein können, war er doch fast ein Vierteljahrhundert älter als ich.
Meine Großmutter väterlicherseits kam aus einem großen kurdischen Clan. Als mein Großvater im Ersten Weltkrieg fiel, zog sie ihre drei Kinder allein auf und wurde von allen als Kürt Hatun, die Kurdin, anerkannt. Die Dorfgemeinschaft griff ihr unter die Arme, wenn ihr manches – so allein – schwer fiel. Kennen gelernt habe ich sie nicht mehr, sie ging jedoch als tapfere, bewundernswerte Frau in die Familienlegende ein. Als einer ihrer Söhne starb und eine Witwe, die später meine Mutter werden sollte, mit drei Kindern hinterließ, legte auch sie großen Wert darauf, dass ihre Schwiegertochter sich nicht – wie sie – allein durchs Leben schlagen sollte. Für eine junge Witwe wäre die Lage zu prekär gewesen. Also kam der Bruder des Verstorbenen mit sanftem, aber nachhaltigem Druck der Verpflichtung nach, seine Schwägerin zu heiraten. In dieser Frage hielt man sich, wie im Dorf, so auch in meiner Familie, an die seit Jahrhunderten gängige Tradition, und meinem Vater blieb schließlich nichts anderes übrig, als sich dem ungeschriebenen Gesetz der Überlieferung zu beugen. Für ihn musste es selbstverständlich sein, seine verwitwete Schwägerin zu heiraten, um ihr männlichen Schutz zu bieten. Und es ging um die Zukunft der Kinder! Es war eine arrangierte Ehe im besten Sinne des Wortes, geschlossen aus einer Haltung, die vom Schwager der Witwe mit ihren drei Kindern erwartet wurde. Zweifel an dieser Tradition wurden nicht zugelassen.
Arrangierte Ehen waren durchaus üblich, vor allem da man Grund und Boden zusammenhalten musste. Die Gegend war arm an fruchtbarem Boden, und das Wenige, das vorhanden war, durfte nicht in alle Winde verstreut werden. Der bescheidene Wohlstand im Dorf maß sich daran, wie viel Hektar Land man besaß, wie viele Rinder, Ochsen, Maultiere, Schafe, Ziegen und Esel – und der Bestand musste den Familien erhalten bleiben. Daher wurden Söhne und Töchter manchmal mit sanfter Gewalt überzeugt, sich für einen Partner oder eine Partnerin im Kreis der Dorfgemeinschaft zu entscheiden, also innerhalb der großen Familien zu heiraten, wortwörtlich standesgemäß.
In der Region Malatya lebten Angehörige vieler Ethnien und verschiedener Religionsgemeinschaften friedlich zusammen – Kurden und Armenier, Sunniten, Aleviten und Christen – und wenn es zu Mischehen kam, wurden sie geduldet. Ehen außerhalb der Dorfgemeinschaft kamen freilich auch vor, sobald die Söhne oder Töchter Stadtluft geschnuppert hatten; das begann mit der Landflucht in den 1950er Jahren und setzte sich dann ab den 1960er Jahren fort, als die Migration der Dorfbevölkerungen nach West- und Mitteleuropa begann. Zuvor herrschte ein starkes Standesbewusstsein, das die Menschen im Dorf zwang, untereinander zu heiraten; diese Tradition wirkt auch heute noch fort, allerdings geht es dabei weniger um den eher geringfügigen Landbesitz, sondern darum, dass die Werte – und die Tradition – aufrecht erhalten werden, haben viele Väter und Mütter doch die Sorge, dass die jungen Leute, die nach Deutschland, Frankreich, Holland oder Skandinavien gehen, in »schlechte Gesellschaft« geraten könnten.
Matriarchat und Patriarchat – beides ist mir nicht fremd. Männer regelten alles, was die Welt außer Haus betraf, die Frauen aber hatten im Haus das Sagen – und zwar nicht zu knapp! Hautnah erlebt habe ich das bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Ihr Wort war uns allen stets Befehl, selbst mein Vater kuschte, wenn seine Schwiegermutter ihm einen strengen Blick zuwarf. Wenn es um all das ging, was außer Haus passierte, galt mein Vater als Autorität. Neben der Landwirtschaft befasste er sich mit Viehhandel, wusste, was Handelsbeziehungen, wenn auch im Kleinen, bedeuteten, kannte das Feilschen ums Geld. Da er es für damalige Verhältnisse aus dem Nichts zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hatte, genoss er nicht nur in der engen – und weiteren – Familie, sondern in der ganzen Gegend hohes Ansehen. Nicht nur sein Fleiß wurde gerühmt, sondern auch seine Großzügigkeit und seine Bereitschaft, alles, was er erwirtschaftet hatte, mit den Nachbarn zu teilen. Sein Verhalten trug dazu bei, sowohl in der Familie als auch in der Gegend von Uğurlu und weit darüber hinaus geachtet zu werden.
Mustafa Kemal Paschas Reformen ab Mitte der 1920er Jahre wälzten alles, wirklich alles um. Überlieferte Normen und Werte wurden – so schien es den Traditionalisten – auf den Kopf gestellt, wir aber, wir Aleviten in Uğurlu, waren damit ganz zufrieden, kam dies doch unseren Vorstellungen von einer demokratischen Lebensweise entgegen. Während etwa 80 Prozent der Muslime in der Türkei Sunniten sind, bilden zirka 20 Prozent die Konfession der Aleviten. Uğurlu ist ein alevitisches Dorf. In Glaubensfragen unterscheiden sich die Aleviten in vielen Punkten von den Sunniten; der Name geht auf Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed, zurück.
Nach alevitischem Brauch bestimmten die Dedeler in Uğurlu über das Wohl und Wehe. Ein »Dede« – der Großvater – steht gleichbedeutend für einen weisen, älteren Mann – für einen Gelehrten. Da es zwischen der jeweiligen Obrigkeit, sei es zur Zeit der Osmanen, sei es nach der Gründung der Republik, und den Aleviten nicht immer zum Besten bestellt war, hielten sie sich – über Jahrhunderte hinweg – immer so gut wie nur irgend möglich von Staatsgewalt und Kontrolle fern.
Wenn es gravierende Probleme gab, suchte man die Lösung nicht bei staatlichen oder regionalen Gerichten, die der Zentralgewalt unterstellt waren, sondern bei den Dedelern. Die alten Herren beriefen dann die Dorfleute zu einer Versammlung ein und hörten sich das Für und Wider des Streitfalls an. Nach einer solchen Anhörung wurde ein Urteil durch eine Art Volkstribunal gefällt. An diese Entscheidungen hielt sich jedermann im Dorf.
Was die Ausübung von Glauben und Religion betrifft, unterscheiden die Aleviten sich in vielen Punkten von den Sunniten. Gemeinsam ist beiden Glaubensrichtungen, dass sie an Gott glauben und sich zum Koran bekennen. Der Dede spielt eine herausragende Rolle für die Einhaltung von Sitten und Gebräuchen. Auch auf die Verwaltung wirkte sich aus, dass Segensreich eine alevitische Gemeinschaft in einem Dorf in den Bergen war. Die Dorfregierung bestand in der Regel aus fünf Personen, einem Ortsvorsteher und vier Gemeinderäten. Das war die von allen respektierte Obrigkeit, die bei Streitigkeiten eingriff und auch die Verbindung zu den höheren Instanzen herstellte. Die Aleviten zahlten – wie alle anderen – Steuern und leisteten den Militärdienst, aber Nachbarschaftskonflikte und gewisse Fälle, die nicht über die Grenzen des Dorfs hinaus bekannt werden sollten, regelten sie untereinander.
Drei Jahrzehnte nach der Gründung der Republik konnten relativ viele Menschen lesen und schreiben. Die Dorfbewohner, die eine Zeit lang im Staatsdienst gearbeitet hatten und dann zurückgekommen waren, hatten den Status von Dorfältesten erreicht und erläuterten allen, welchen Wert Bildung habe und wie wichtig es sei, lesen und schreiben zu können. Das Dorf war weit und breit dafür bekannt, dass es hier Lese- und Schreibkundige gab, und die Leute kamen aus entfernten Gegenden, um sich ihre Briefe vorlesen zu lassen. Auch die Antworten wurden dann von den Schreibunkundigen diktiert und von Dorfbewohnern niedergeschrieben.
Mit Beginn der zunehmenden Industrialisierung begannen auch die Aleviten, ihre Dörfer zu verlassen. Die Landflucht setzte Mitte der 1950er Jahre ein. Da es in Uğurlu keinen Großgrundbesitzer gab, der durch die Anschaffung von Traktoren und anderen Landmaschinen die Produktivität hätte steigern können, waren viele Leute von der Industrialisierung der Landwirtschaft nicht direkt betroffen, doch man blieb abhängig von Naturereignissen. Wenn die Ernte genug einbrachte, hatte man genug zu essen. Wenn die Natur durch Dürre, Überschwemmung oder Ähnliches den Leuten keinen Strich durch die Rechnung machte, ging es allen den Umständen entsprechend gut. Und es gab keinen materiellen Zwang zur Landflucht.
Was aber taten die »Delikanlılar« – das sind die jungen Männer mit dem »verrückten Blut«, die Heißsporne –, was taten sie, wenn sie wissen wollten, wie es hinter dem Berg Kocadede aussah? Sie verließen das Dorf. Nach und nach. Einer nach dem anderen. Zuerst gingen sie als Saisonarbeiter in die großen Städte, nach Malatya mit seiner Zement-, Zucker- und Textilindustrie, und dann weiter und weiter gen Süden und Westen, nach Adana und Mersin, in die Çukurova auf die Baumwollplantagen, oder sie verdingten sich bei der Tabakernte und pflückten Orangen, auch nach Kayseri oder Ankara gingen sie, und Istanbul wirkte natürlich wie ein Magnet. Wenn sie ein wenig älter, ein wenig reifer geworden waren und geheiratet hatten, und wenn sie erkannten, dass sie ihre Familien durch ihre Arbeit ernähren konnten, holten sie ihre Frauen nach, mit den Kindern, oft in die Gecekondular, die über Nacht notdürftig zusammengezimmerten Hütten am Stadtrand von Ankara, Izmir oder Istanbul, die, waren sie erst einmal errichtet, selbst von der Polizei nicht abgerissen werden durften. Die Kommunen duldeten die Bruchbuden. Bot so ein Schuppen den Familien ein Dach über dem Kopf, durften die Behörden ihn nicht antasten.
Wie viel hatten sich die jungen Familien seinerzeit vom Leben in den großen Städten erhofft – und wie bitter sind viele von ihnen enttäuscht worden! Zu jener Zeit wusste ich wenig von der Weltgeschichte und den beiden Weltkriegen und war auf Erzählungen, auf die Geschichten in der Geschichte angewiesen, die von den alten Leuten im Dorf erzählt wurden, ob es sich nun um die Märchen der Großmütter und Großtanten – oder um die Erlebnisse der Männer beim Militär handelte. Dieses Bergdorf zwischen dem Kocadede und dem Zurbahan, das war seinerzeit meine Welt – mein Segensreich – mit ihren Werten und Normen, mit ihren Bräuchen, die von der Natur reguliert wurden, vom Sonnenaufgang, vom Säen, Ernten, Dreschen, vom Aufziehen, Füttern, Paaren und Schlachten des Viehs bis zum Sonnenuntergang. Früh lernten wir Verantwortung, früh wurden uns unsere Aufgaben im Dorf zugeteilt. Leben, Lernen und Arbeiten waren eins, und es war eine begrenzte, überschaubare Welt.
Der Bach in Uğurlu, der sich bei der Schneeschmelze in einen rasenden Strom verwandelt
DIE SCHULZEIT
Fünf Jahre lang besuchte ich die Dorfschule. Für die ersten drei Klassen war eine Schule in Uğurlu eingerichtet worden; als ich in die vierte Klasse kam, bedeutete das eine tägliche Wanderung von dreieinhalb Kilometern nach Kozdere,