Strong Kids: Hannes Wabayes dritter Fall - ein deutsch-tansanischer Krimi
Von Fritz Gleiß
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Buchvorschau
Strong Kids - Fritz Gleiß
„10 kidnapped children found dead in Tanzania with missing body parts, ministry says"
(CNN-Schlagzeile, 28.1.2019)
Hannes Wabaye, Detektiv in Moshi am Kilimanjaro, bekommt von seinem Bekannten Jens Petermann aus Hamburg einen Auftrag: Er soll ein Waisenheim im Südwesten Tansanias auf Seriosität überprüfen. Deutsche Spender würden dort investieren wollen. Gemeinsam mit der reizenden Journalistin Ambi Maregesi beginnt Wabaye zu recherchieren. Je mehr sich die beiden mit dem Waisenhaus befassen, desto schrecklicher wird ihr Verdacht: Werden von dort etwa Kinder nach Deutschland entführt? Und wenn: zu welchem Zweck? Bald kommen sie einem ungeheuerlichen Verbrechen auf die Spur.
Fritz Gleiß, Jg. 1959, war u.a. stellvertretender Chefredakteur der Monatszeitschrift „Africa live", schrieb mehrere politische Reiseführer zu Ostafrika und bislang drei Wabaye-Krimis. Er lebt als Journalist und Fundraiser in Celle.
Imprint
Strong Kids
Hannes Wabayes dritter Fall
Fritz Gleiß – fritzgleiss@yahoo.com
Copyright © 2021 Fritz Gleiß
Auch Hannes Wabayes andere Fälle „Der Schatz von Njinjo und „Das Erbe der MV Bukoba
sind als e-book bei amazon und neobooks erhältlich.
Die Geschichte basiert zum Teil auf Fakten, gleichwohl sind Namen und Daten meist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Personen sind entweder purer Zufall oder gewollt.
Das Manuskript wurde im Dezember 2020 abgeschlossen. Die Handlung spielt kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Titelfoto © Amevi Asiwome Wisdom/unsplash
Dank
Ohne die aufmunternde Unterstützung von Jutta Borsdorf wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Ohne die Sprach- und Ortskenntnis und den Rat des auch im Roman auftauchenden, real existierenden tansanischen Journalisten David Kyungu gäbe es weder ein Waisenhaus bei Tukuyu noch den einen oder anderen Perspektivenwechsel.
Bei Claudia Dal-Bianco und Johanna Emig habe ich mich einmal mehr mancher Swahili-Sprichwörter bedient, die sie in ihrer 2009 am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien vorgelegten Anthologie gesammelt haben und erläutern.
Inhalt
Karte
Die wichtigsten Personen
Prolog
Im Süden Tansanias
1. Schluss mit lustig (bei Hamburg)
2. Kurz vor dem Ziel
3. Einige Wochen zuvor
4. Von Hamburg nach Moshi (in Tansania)
5. Zwischen Moshi und Dar es Salaam
6. Abendgymnastik
7. Vertragsverhandlung
8. Hannes allein in Dar
9. Ambi mit dem Hut
10. Lehrstunde in Sachen Honorar
11. Reisevorbereitung
12. Unterwegs zu den Tieren
13. Hannes trifft einen Bekannten
14. Ein Sonntag am Meer
15. Die Stiftung
16. Im Gästehaus
17. Das Waisenhaus
18. Entdeckungen
19. Gaudency
20. Tischgespräch
21. Snoopy hört ab
22. Auf nach Malawi!
23. Verfolgungsjagd
24. Fährverkehr
25. Hannes findet einen Assistenten
26. Entwicklungshilfe
27. Am Ende der Welt
28. Auf See
29. Ende Gelände
30. Stich ins Wespennest
31. Rettungseinsatz
32. Liebesdienst
33. Müller hat Scheiße gebaut (fünf Tage zuvor)
34. Kundengespräch
35. Gewalt? Keine Frage!
36. Entnahme jederzeit möglich
37. Übersetzungsarbeit
38. Oliver
39. Petermann bekommt Wind vom Ausmaß der Sache
40. Fotosession mit Honni
41. Bereitschaftsdienst
42. Frust im Revier
43. Perspektivenwechsel
44. Nestbeschmutzer
45. Fantasie und Mut
46. Großeinsatz um 15 Uhr
47. Scheine für Makaïdi
Epilog
Glossar
Dossier
Karte
tzDie wichtigsten Personen
Nach ihren Vornamen sortiert:
Ally Raza – Leiterin des Waisenheims Mlakizi
Alphonce Edward Danda – Chef der Mlakizi-Stiftung
Ambi Maregesi – Journalistin aus Mwanza, stationiert in Dar
Gaudency Mario Kiongo* – Bewohnerin Mlakizis, alias Maria Gaudência
Gerhard von Seitlitz, Prof. Dr. – Angestellter von Jo Mahler
Gregor Schiman – Kriminalhauptkommissar in Hamburg
Hannes Wabaye – Detektiv aus Moshi am Kilimanjaro, alias Ephraim Chirwa
Heike Schmidt – Kriminaloberkommissarin unter Gregor Schiman
Honorata Rwebusoya – Hannes junge Tante, lebt in Dar
Jens Petermann – Architekt aus Rosengarten bei Hamburg, Bekannter Hannes’
Jo Mahler – alias Paul Schäfer
Joél Nziku – Stellvertreter Razas, Sicherheitschef in Mlakizi
Joy Lyabandi – Lehrerin und Erzieherin in Mlakizi
Kito Kuhenga – Liebhaber und Begleiter von Rebecca Schilling
Makaïdi – Chef der Verkehrspolizei in Tukuyu
Oliver Raphaeli Ng'aala* – Geburtsname von Rahel Cherio Malekela*
Paul Schäfer – Patenonkel Olivers/Rahels, Drahtzieher, alias Jo Mahler
Rebeca Schilling – deutsche Handelsreisende
Rudolph Herrlich – Komplize Jo Mahlers
Sabine Kortweit, Dr. – Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Hamburg
Prolog
Im Süden Tansanias
Das Bild wird Juma Kapeta nie vergessen. Nie. Die verschrumpelte, von blutigen Rissen überzogene helle Haut, dunkle Flecken hinter jeder Falte, den aufgeblähten Torso mit der tiefen, offenen Wunde unter den Rippen, bedeckt von braunem, modrigem Blattwerk. Schwarze Stümpfe dort, wo Arme und Beine sein sollten. Fliegen und Ameisen allüberall. Der Kopf des Jungen lag leicht abgewinkelt, die hellen Brauen kaum sichtbar über den aufgerissenen, ausgestochenen Augen in einem abstrus friedlichen Gesicht unter kurzen weißen Kraushaarlocken – ein Kindheitstrauma.
Wegschaffen sollten sie sie, die kleine Leiche, ab in den Fluss, hatte der „Fährmann" befohlen. Ally Raza, die Heimleiterin, hatte ihm Bescheid gesagt. Um alles Weitere werde er sich kümmern.
Wer hatte es gewagt, den kleinen Körper ausgerechnet hier abzulegen? Zog der Wahnsinn denn so weite Kreise?
„Fährmann" Alphonce Edward Danda ist weit herumgekommen und sieht sich selbst als Kapitän. Er befehligt ein großes Schiff, sein Unternehmen, die Stiftung, das Waisenhaus Mlakizi direkt am idyllischen Songwe River, der schon vor über hundert Jahren Nordrhodesien und Nyasa-Land von Deutsch-Ostafrika trennte. Der Kapitän residiert in einem alten Gutsverwalterhaus auf einem Hügel hoch über Tabakfeldern und dem Fluss, spricht vier Sprachen und ist stolz auf seine Übersicht.
Seit acht Jahren herrscht er hier und leistet Aufbauarbeit. Von der Zucht bis zur Ernte, so das Programm, das jetzt endlich Mal wieder den vollen Ertrag einbringen soll. Zum Wohle aller: der Kinder, denen es hier so unendlich viel besser geht als dort, wo seine Mitarbeiter sie aufgelesen haben. Zum Wohl der Angestellten drüben im Heim, die gar nicht wissen, dass er sie bezahlt. Zum Wohle auch der Dorfbewohner, deren Kinder kostenlos seine Schule besuchen dürfen und die nie wissen müssen, wer er wirklich ist. Er, der alle paar Wochen mit seinem Außenborder aus Malawi über den Fluss herüberrauscht und die Heimleiterin besucht. Und natürlich zum Wohle seiner kleinen Kapitalgesellschaft und all der Geber, die Mlakizi unterstützen, darunter echte Philanthropen. Die sehen in seinem Heim die Zukunft.
Nun aber kommen ihm, der die öffentliche Wahrnehmung Mlakizis stets scharf zu kontrollieren wusste, diese Hexer in die Quere. Ausgerechnet hier, in der allerletzten Ecke Tansanias oder auch Malawis, je nachdem, von welcher Seite des Flusses man die Sache sieht. Abgedrehte Heiler mit ihrem verqueren Quatsch von heilsbringenden Albinoteilen ziehen Aufmerksamkeit auf die Region, falsche Publicity, die das ganze Projekt gefährdet. Manche Eltern der toten Kinder haben ihre Kinder doch noch nicht einmal vermisst!
1. Schluss mit lustig (bei Hamburg)
Dem Mann war nicht mehr zu helfen. Sein Rumpf klebt zerquetscht im Lenkrad, der Kopf hat ein formidables Spinnennetz in die Windschutzscheibe des Chryslers geschlagen. Airbag und Gurtstraffer hatten, anders als auf der Beifahrerseite, gleichzeitig versagt – ein Phänomen, das in letzter Zeit öfter vorkam. „Fuck off!", hatte der Fahrer dem jungen Mädchen noch zugeröchelt, die sich jetzt panisch hinter ihrem zusammenfallenden Luftsack aus dem Gurt wickelt und gegen die Tür stemmt, um aus dem qualmenden Wrack herauszukommen.
Als sie endlich draußen ist, überkommt sie der Schock. Eisig kalt legt sich die Nachtluft um sie, augenblicklich zittert sie wie Espenlaub. Und doch: Sie lebt! Die Jeans an den Beinen aufgerissen, der dicke Pullover bis zum Hals verrutscht, krabbelt die schlanke Teenagerin unverletzt aufs Feld. An die wärmende Jacke auf der Rückbank kommt sie nicht mehr ran. Nur weg! Weg von diesem Auto, das gleich brennen wird, rennen, der Straße nach, blind in die norddeutsche Dunkelheit, die doch bei weitem nicht so undurchdringlich schwarz ist wie die Nacht, die sie von zuhause kennt.
Eben noch waren sie einer Verkehrskontrolle entkommen. Seitdem war der Fahrer, dieser hellhäutige Riese, der sich Frank Müller nannte, gerast wie ein Irrer. Einmal hatte der Tacho, auf den sie verstohlen guckte, mehr als 240 km/h angezeigt! Und jetzt, kaum dass sie die Autobahn verlassen hatten, war Müller kurz hinter „Totensen" – so hatte sie es auf dem rot durchgestrichenen Ortsschild stolz entziffert – in der erstbesten Kurve ins Schleudern geraten und gegen den verfluchten Baum geknallt. Zurück zu ihren Pateneltern hatte er sie bringen sollen, hatte er gesagt. Paul und Rita, mit denen sie am Montag erst aus dem Flugzeug gestiegen war.
Die letzten beiden Tage hatte sie bei einem Arzt auf einem Bauernhof zwei Stunden südlich verbracht. Der Mann hatte sie „vor ihrem neuen Leben einmal richtig durchchecken" sollen. Große Ställe, Pferde, Kühe, Schweine, alle drinnen, Angst einflößende Schäferhunde, zwei riesige Traktoren, so groß, wie sie noch nie welche gesehen hatte, doch nur ein paar Arbeiter und nirgends Erntefrauen: Ein bisschen seltsam war ihr das vorgekommen, und kalt war es auch da schon sehr.
2. Kurz vor dem Ziel
Das Blaulicht konnte er um diese Zeit bereits von weitem sehen. Abbiegen geht nicht mehr. Scheiße! Nicht, dass ihm um die Papiere bange ist. Ausweise, Fahrzeugschein, Auto, auch Pass und Visum des Mädchens sind einwandfrei. Originale, da kommt kein Zweifel auf. Doch wenn das jetzt länger dauern sollte?
Kurz vor der Kontrollstelle ist klar: Es wird. Dutzende Autos stehen vor ihm in der Schlange. Er muss Paul benachrichtigen, zückt sein Krypto-Handy und gibt den Code ein. „Alles super, Chef! Sind pünktlich aus Wietzenbruch rausgekommen. Dort alles okay, alle Werte prächtig, die Scans müsste ihr Professor längst haben. Werden uns aber ein bisschen verspäten, bin in eine Kontrolle geraten ... Kurz vor Soltau."
Paul schnauft, dann blafft er seinen Fahrer an: „Sorg dafür, dass Du die Zeit wieder reinholst! Wir können hier nicht ewig auf euch warten! Die Junkfrau erträgt die Angst nicht mehr!"
Als Frank Müller – so steht´s in seinem Personalausweis – endlich an der Reihe ist, liegt er gut fünfundzwanzig Minuten hinter dem vereinbarten Zeitplan. Genervt fährt er die Seitenscheibe runter. „Verkehrskontrolle! Sie waren ein bisschen schnell! Haben Sie den Streckenradar nicht bemerkt?" Streckenradar? Dieses neue Verfahren gegen Raser, das nicht den Moment, sondern die Zeit misst, die man für die letzten Kilometer brauchte? Stehen deshalb etwa auch all die anderen Fahrzeuge hier? Hat´s die auch erwischt? Nie zuvor ist Müller bei einem Transport in eine derart dämliche Kontrolle geraten!
„Ihre Papiere bitte! Der Polizist – Typ gemütlicher Verkehrsbulle – beugt sich ein wenig herunter, um in den Wagen zu schauen. „Oh, holla. Ein Gast. Darf man fragen, wer das hübsche dunkle Fräulein in ihrem flotten Wagen ist?
Die misstrauische Miene des Bullen lässt Müller kalt. „Oh, Rahel hier? Ist unsere Patentochter ... Haben sie zu uns eingeladen, damit sie mal was sieht von der Welt ..." Aus der Brusttasche seines Sakkos zieht Müller Führerschein, Perso, Kfz-Schein und reicht die Dokumente gelangweilt dem wartenden Polizisten. Der jedoch interessiert sich mehr für das Mädchen in Müllers Auto.
„Aus Afrika? Warum ist denn ihre ,Patentochter´ so weggetreten? ... Hallo? He! Können Sie mir mal ihren Namen sagen?"
Müller stupst das Mädchen nicht gerade sanft von der Seite an. Sein barscher Ton verrät den Frust über die zunehmende Dauer der Kontrolle: „Hey, the officer wants your name! Tell him! Das Mädchen, das offenbar weggedöst war, antwortet auf seltsam französische Art: „Mon nom? Oliver ...
Bevor sie weitersprechen kann, schneidet Müller ihr das Wort ab. „Ja, mein Schatz? – Sie träumt noch, nennt mich nach ihrem Vater! Heißt Rahel Cherio Malekela*, unsere Tochter hier, in voller Länge. Sind erst Anfang der Woche eingereist ..."
„Zeigen Sie mir einfach mal Rahels Ausweis!, verlangt der Polizist. Müller zieht auch diesen lässig aus dem Sakko und präsentiert einen schwarzen Reisepass. Der Beamte schlägt ihn auf, wendet sich ab und hält ihn seiner Kollegin hin, die zwei Meter entfernt aufmerksam Wache hält. „Malawi! Keine sechzehn Jahre alt! Hey, Siggi, stell dir das mal vor! Wen wir hier heute alles kennenlernen! ,Patentöchter´ aus dem tiefsten Schwarzafrika! Darf man das heute überhaupt noch so sagen?
„Charly, halt die Luft an, bremst ihn Siggi gerade noch rechtzeitig. „Malawi? Da sind die besonders scharf, was die Identität von Kindern angeht. Weißte doch. Denk an Madonna! Ist das Visum in Ordnung?
„Scheint so, Schengen, abgestempelt in Li-long-we oder so."
„Dann lass’ gut sein. Sonst heißt’s nachher wieder, wir betrieben ,Racial Profiling’! Kümmer Dich lieber um die Verwarnung! Wir machen hier schließlich Öffentlichkeitsarbeit fürs Streckenradar, sonst nichts!"
Nachdem Müller sich seine kostenpflichtige Verwarnung abgeholt und das Überweisungsformular eingesteckt hat, darf er endlich weiterfahren. Mit 45-minütiger Verspätung erreicht er die Autobahn nach Hamburg.
3. Einige Wochen zuvor
„Komm, lass uns wenigstens ein bisschen tanzen, Jens! Im Ballsaal hoch über der Elbe spielt die Band endlich den ersten Klassiker, „Born to be wild
. Frieda Petermann, aufgetakelt wie selten, hat ihren Mann Jens nur widerwillig zu der Benefizparty begleitet, die dessen Bekannte Sabine für „Afrikas Kinder im ehrwürdigen Luis C. Jacob organisiert hatte. „Wenn schon, denn schon – dann lassen wir es richtig krachen!
, so deren Idee. Das Kalkül: Wer in diese erste Adresse Hamburgs am Elbufer in Blankenese eingeladen wird und der Einladung Folge leistet, der spendet mindestens vierstellig. Am Ende der Nacht würde die neue Hamburger Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung recht behalten.
Dr. Sabine Kortweit hatte seit ihrer Rückkehr aus Dar es Salaam, der früheren Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas und heutigen Partnerstadt Hamburgs, steil Karriere gemacht. In Dar, wie die Stadt von den Tansaniern kurz genannt wird, hatte sie jahrelang für die historisch verrufene Lettow-Vorbeck-Stiftung das deutsche Gedenken aufpoliert und dort am Ende sogar promoviert. Nach ihrer Rückkehr hievte ihr vormaliger Arbeitgeber sie auf eine auskömmliche Referentinnenstelle am GIGA, dem ehemaligen Übersee-Institut. Dort beriet sie den Senat. Mittlerweile war Kortweit weiter geklettert und seit einem Dreivierteljahr Repräsentantin der KAS in der Hansestadt.
Der heutige Abend ist ihr erster großer Auftritt. Parteien, UNICEF, Worldvision, Save the Children, Kindernothilfe, Plan, Norddeutsche Mission, Caritas, BILD-Zeitung: Jede und jeder, die oder der in der Stadt etwas mit Kindern, Macht und Menschenfreundschaft zu tun hat, war eingeladen. Darunter auch vermeintlich unbedeutende Vereine wie die Mlakizi-Stiftung, die im Süden Tansanias ein kleines Waisenheim betreibt und Kortweit von einem Parteifreund anempfohlen worden war. Alle waren sie erschienen, alle. Sogar eine sichtbar auf dem letzten Loch pfeifende Adelige aus der Desiderius-Erasmus-Stiftung stolzierte mit ihrem vertrockneten Partner übers Parkett. Berührungsangst kennt Kortweit nicht, nach rechts schon gar nicht.
Selbstverständlich hatte sie auch Jens Petermann eingeladen, ihren alten Freund aus Studientagen, der sich zusammen mit seiner Frau seit Jahren für die kleine NGO „Children First! stark macht. Ihrer gemeinsamen Nacht vor einigen Jahren in Dar trauert die KAS-Chefin immer mal wieder ein bisschen nach. Frieda hingegen, Petermanns angestammte Frau seit Kindertagen, der Jens sein Amusement mit Sabine nach seiner Rückkehr von der damaligen Schatzsuche in Tansania sofort gebeichtet hatte, wollte die „reaktionäre Schnepfe
Sabine heute Abend am liebsten gerupft und grandios scheitern sehen.
Die Party war in vollem Gange. Bevor die zahlungskräftigen Gäste sich zurückziehen und die Tanzfläche dem gemeinen Partyvolk überlassen würden, will Kortweit unbedingt noch einen Appell loswerden. Am Mischpult des Radio-bekannten Moderators, der für 7.000 € Honorar den Abend schmeißt, lässt sie sich das Mikro geben, klopft kurz drauf und beginnt mit ihrer einstudierten kurzen Rede.
„Liebe Gäste, lassen Sie sich an diesem fantastischen Abend bitte noch ein letztes Mal von mir stören! Sie alle werden davon gehört haben, selbst der UN-Beauftragte zeigt sich besorgt: Einmal mehr hat es in Afrika ein schreckliches Verbrechen gegeben. An kleinen Kindern! Mindestens zehn Kinder, die jüngsten gerade vier Jahre alt, wurden im Süden Tansanias zerstückelt aufgefunden. Alle wurden augenscheinlich Opfer dieses grausamen Aberglaubens, dass Körperteile von Menschen mit Albinismus eine besondere Heilkraft besäßen. Bei uns gibt es diesen Wahnsinn ja zum Glück nicht mehr. Da haben wir uns ja weiterentwickelt. Blicke ich allerdings auf die jüngsten Fälle von Kindesmissbrauch, so bin ich mir da gar nicht ganz sicher. Auch eine andere Zahl erschreckt mich ganz besonders: 8.000 Kinder werden in Deutschland jährlich vermisst. Achttausend! Selbst wenn viele davon unbeschadet bei Verwandten leben und früher oder später wieder auftauchen: Mehrere Hundert Kinder und Jugendliche sind bei uns zu jeder Tag- und Nachtzeit, auch in dieser Minute, schlicht verschwunden. 1.500 vermisste Kinder unter vierzehn sind in den letzten 50 Jahren in Deutschland nie wieder aufgetaucht. Viele davon sind abgerutscht in Prostitution und Drogen, noch mehr werden missbraucht. Das kann doch eigentlich gar nicht möglich sein, oder? Da wünschte ich mir, dass die Politik endlich in die Hufe kommt und zum Beispiel wie in den Niederlanden Vermisstenmeldungen von Kindern innerhalb von Minuten großflächig auf allen Anzeigetafeln umliegender Bahnhöfe bekannt macht!" Den aufkommenden Beifall wischt Kortweit rasch beiseite.
„In Holland schaffen die Behörden es, in weniger als zwanzig Minuten fast jeden Nachbarn über ein vermisstes Kind zu informieren! Und doch: Zumindest gegen den mittelalterlichen Aberglauben der Afrikaner können wir gemeinsam viel tun! So bitte ich Sie inständig, diese Veranstaltung nicht zu verlassen, ohne den hier anwesenden gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen, die alle täglich Großes für schutzbedürftige, arme Kinder bewirken, mit ihrer Spende geholfen zu haben. Zeigen Sie sich großzügig! Wir können das!"
Große Worte fielen ihr früher schwerer. An den heutigen hatte sie tagelang gefeilt. Nun hofft Sabine Kortweit, dass sich der Erfolg am Ertrag des Abends wird messen lassen können. Frieda hingegen ist empört: „,Mittelalterlicher Aberglaube der Afrikaner’? Als wäre das der wichtigste Grund, sich zu engagieren! Was für ein Weltbild! Das ist rassistische Hetze! Versteckt hinter bevormundendem Gutmenschentum! „Frieda, reg dich ab, Sabine macht hier nur ihren Job!
, kontert ihr Gatte kühl.
Bevor die große Party sich dem Ende zuneigt, muss Sabine Kortweit unbedingt den langen Jens noch sprechen. Hager geworden ist er, das Haar jetzt schütter, doch seine tiefbraunen Augen strahlen für sie wie eh und je. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich daraus ja noch was für die Nacht. Dumm nur, dass er mit Frieda da ist.
Jens hatte seine Frau lange überreden müssen mitzukommen. „Wir brauchen auch solche Kontakte, Frieda! Mehr hatte er nicht ins Feld führen können. Ihr Widerwille gegen die „mondäne, dekadente Umgebung
und gegen den konservativen Geist der Gastgeberin hatte sich nur schwer überwinden lassen. Schließlich aber hatte sie die Vorstellung, vor ihrer alten Widersacherin mit Jens herumzutanzen, beinahe lüstern auf den Abend warten lassen. Das machte Spaß, tat der Gesundheit gut und spülte vielleicht ja auch etwas in die Kasse von „Children First!", dessen Mitbegründerin sie schließlich war. Doch ausgerechnet jetzt, wo die Musik endlich einmal passte und Jens schon stand, muss Sabine auf ihren Mann zustürmen, um ihm irgendetwas aufzuschwatzen.
„Sabine, hallo, warte mal ein paar Songs, wir tanzen jetzt!" – sprach’s und genoss es, der Ziege ihren Mann zu entziehen. Weder Jens noch Sabine sträuben sich.
Wohlzufühlen allerdings scheint Jens Petermann sich beim Tanzen nicht so recht. Bedrückt trifft es nicht wirklich, aber seit Wochen geht es ihm nicht gut, er wirkt zunehmend antriebslos. Die Party kam ihm gerade recht, um sich abzulenken und ein bisschen aufzutanken. Vielleicht hätte er Frieda gar nicht zum Mitkommen bewegen sollen. Sich mal wieder selbst so richtig wichtig fühlen, anziehend, wenn auch nur als Vertreter einer kleinen NGO. Ohne diese Wirkung, das merkt er immer öfter, fällt es ihm zunehmend schwer, seine Aufträge abzuarbeiten oder gar neue zu akquirieren. Es läuft so vieles nicht mehr richtig rund, die Arbeit, die Architektur, die Liebe. Mit Anfang 50 sieht er zwei Drittel allen Lebens hinter sich. Und Neues fehlt.
Gehen will er ganz bestimmt noch nicht. Auch wenn Frieda ihn gerade zum Tanzen brachte – sie würde es nicht mehr lange hier aushalten, das ist gewiss. Beide sind sie mit dem eigenen Wagen hier, kein Grund also, die Show gemeinsam zu verlassen. Mal sehen, wie sich die Nacht noch so entwickelt. Sie hatten nicht darüber gesprochen, wie sie zurück nach Hause kämen. Die genervte Stimmung zwischen ihnen hält nun schon seit Monaten an, doch keiner tat den ersten Schritt. Sich aussprechen? Beziehungsarbeit? Gar erwägen sich zu trennen, nach mehr als dreißig Jahren Ehe? Raus aus dem Haus in den Harburger Bergen, Friedas Elternhaus? Eine eigene Wohnung in Hamburg finden? Alles schwer vorstellbar. Irgendwie aber ist die Luft raus aus der Beziehung, irgendwo tut sich ein Abgrund auf.
Sabine Kortweit kommt ihm da heute Abend gerade recht. Noch ein, zwei Tänzchen mit Frieda, dann ist er frei. Schön, dass Sabine gerade den ersten Schritt gemacht hat. Der Saal ist nicht groß genug, um sich aus den Augen zu verlieren. Und tatsächlich murrt Frieda schon nach dem nächsten Song – „Hotel California der „Eagles
– über die spießige Musik und steuert den Infotisch von „Children First! an. „Ich bau ab, nehme Rollups und Tisch gleich mit, okay?
Ihr Mann hat nichts dagegen. Und ist erleichtert.
Kaum ist Frieda weg, steht die Gastgeberin hinter ihm. „Endlich habe ich Zeit ..." Sabines Hand bleibt deutlich zu lange auf seiner rechten Schulter liegen. Den Architekten erschreckt das nicht, er dreht sich gerne um.
„Sabine, wie schön! Da hast du ja was Tolles auf die Beine gestellt! Win-win für alle, großartig! Es ist zwar nicht ganz klar, worauf sich Petermann bezieht, doch Sabine kribbeln die Schenkel. Woher Jens’ Wirkung auf sie kommt, hat sie schon lange nicht mehr hinterfragt. Heute scheint auch sie ihm ganz besonders zu gefallen. Nach kurzem Geplänkel à la „lange nicht gesehen
drängt es die Stiftungsfrau allerdings, erst mal ihr Anliegen loszuwerden. Danach wird sie noch Zeit genug haben, mit dem Schlacks zu flirten.
„Jens, ich muss dir schnell was erzählen!"
„Okay ..."
Vor ein paar Wochen sei sie von einem wohlhabenden Paar, das von ihrer Zeit in Tansania wisse, auf eine Stiftung angesprochen worden. Die würde im Südwesten des ostafrikanischen Landes ein Waisenhaus betreiben. „Die haben heute hier auch einen Stand. Da hinten! Kortweit zeigt quer durch den Saal auf die Wand vor der Garderobe, wo rund ein Dutzend Organisationen der Kinderhilfs-Szene ihre Stände aufgebaut haben oder gerade abbauen, wie den von „Children First!
. „Die Mlakizi-Stiftung einzuladen, hat mich Chris Amthor gebeten, den kennste bestimmt … Na ja, die Eheleute wollen wissen, ob man für das Haus da unten wohl eine Patenschaft übernehmen könne. Nach all den Morden da. Hast du bestimmt von gehört. Ob das seriös geführt werde, wie die Verhältnisse vor Ort aussähen und so weiter. Liegt bei Tukuyu, am Arsch der Welt, ganz nah an den großen Seen, zwischen Dar und Lubumbashi, du weißt schon."
„Tukuyu? Nie gehört, müsste nachschlagen, wo das ist", wendet Petermann ein, den Sabines Anliegen nicht so recht erreichen will, ihr Reiz dagegen umso mehr.
„Die wollen wissen, ob sie da Geld reinstecken können. Viel Geld. In die ‚Mlakizi Foundation’, so heißt das Ding. Ob die Kontaktleute da unten vertrauenswürdig sind. Da gibt’s angeblich einen Europäer, der das alles managt, aber irgendwie nicht gern in Erscheinung tritt. All so’n Kram, fährt Sabine fort. „Die sind über Freunde auf das Projekt gestoßen, die da ein paar Patenkinder finanzieren. Vielleicht lässt sich daraus ja was Größeres machen ...
Nur zögernd lässt sich Petermann auf Sabines Gedanken ein: „Aber die beiden sind verunsichert durch die vielen Patenschafts-Skandale? Wo Kinder als Haushalts- oder Sexsklaven verkauft werden?"
„Ja, genau. Und durch die Kindermorde."
„Hä?"
„Bei den Paten versickern ja weltweit Millionen ..."
„,Versickern’! Lass das bloß nicht deine geladenen NGOs hier hören. Fast alle kennen solche Fälle aus eigenem Erleben, das ist kriminell hoch fünf!"
„Schon klar. Aber hier reden wir von einem konkreten Haus. In Tansania, was ja meist nicht so schlimm daherkommt. Gibt dort bestimmt auch tausend gut geführte Einrichtungen. Du kennst doch diesen Detektiv in Moshi, vielleicht weiß der was?"
„Hey, Sabine, Moshi liegt vom Südwesten Tansanias weiter weg als Hamburg von Mailand. Und Tansania hat mittlerweile auch schon fast so viele Bewohner wie wir hier in Deutschland. Warum also sollte Hannes mehr über dieses Haus wissen als du oder ich?" Der seltsam deutsche Vorname des Detektivs hatte sich gewiss auch bei Sabine eingeprägt.
„Frag ihn doch einfach mal, er kann sich ja vielleicht mal umhören. Das kostet doch heute nix mehr. Dann sehen wir weiter!"
„Okay, ich werd ihm davon erzählen. Aber jetzt?"
Die Landesbeauftragte lässt noch nicht locker: „Vielleicht kann ja auch seine patente Tante Honorata was rauskriegen, die lebt in Dar, oder? Die hat doch mal für diesen Karsten Härtling gearbeitet, von ‚Safety First’, der Sicherheitsfirma."
„Ja, stimmt. Mal gucken, was das bringt … Wollen wir jetzt tanzen?"
Nein, die Party war noch lange nicht zu Ende.
4. Von Hamburg nach Moshi (in Tansania)
Der Kater dröhnte gehörig. Als Jens Petermann am nächsten Morgen, der eher ein früher Mittag ist, im luxuriösen Zimmer des Louis C. Jacob erwacht, plagt ihn der Schmerz im Kopf ähnlich wie die Übelkeit. Das Zimmer hatte er noch in der Nacht angemietet. Er war doch tatsächlich mit Sabine, dieser alten Schrappnelle, im Bett gelandet. Gut, er hatte es drauf angelegt. Und war’s zufrieden. Das mit dem „endlich mal wieder anziehend sein" hatte wunderbar geklappt. Begehrt sogar, na sowas. Ob ihm das allerdings bei der Bereinigung seiner Beziehung mit Frieda helfen wird, bezweifelt sein benebeltes Hirn schon bevor es überhaupt zu Denken anfängt.
Die andere Seite des ausladenden Doppelbetts ist leer und kalt. Frau Doktorin ist bereits verschwunden. Was hatte er ihr verflixt nochmal versprochen? Was hatte die Kortweit eigentlich gewollt?
Erst nach dem dritten Kaffee, den er sich aufs Zimmer bringen lässt, fällt es ihm wieder ein. Hannes anrufen, nach irgendeinem Waisenhaus befragen. Liegt da nicht irgendwo ein Flyer? Den Sabine ihm zugesteckt hatte? „Mlakizi – meet the future!" steht vorne drauf.
Klein und fein, der Prospekt, Hochglanz, schönes Landschaftsfoto unter strahlend blauem, afrikanischem Himmel. Eine grüne Oase mit einem Dutzend Gebäuden direkt an irgendeinem braunen Fluss, lachende Kinder rundherum. Nur das Grün kommt etwas unecht rüber, könnten Reisfelder sein. Der Text auf Englisch, gedruckt aber offenkundig bei „flyerpower" im deutschen Internet.
Innen ist von „vintage breeding conditions die Rede, was Petermann leicht irritiert, aber wohlwollend mit „erstklassiger Erziehung
übersetzt. Auch mit „top-quality medical supervision – erstklassiger medizinischer Betreuung? – wirbt der Prospekt. Am Ende nennt er ein Spendenkonto für die „Mlakizi Orphanage Foundation
, seltsamerweise nicht bei einer tansanischen, sondern bei einer südafrikanischen Bank, die einen „easy transfer" ermögliche. Die Adresse der Anlage ist kryptisch wie so oft in Tansania: Postbox Mbeya, nicht Tukuyu, als Kontakt nur eine Mailadresse und Handynummer. Gibt es das Haus überhaupt?
Google Maps kennt in der Gegend tatsächlich einen ähnlich klingenden Ort, nur ohne das zweite i. Okay, das wird es sein. Weder Google noch Open Street Maps allerdings verzeichnen dort viele Straßen. Für genauere Recherchen ist der Bildschirm von Petermanns Smartphone ohnehin zu klein.
Stattdessen öffnet der Architekt seinen WhatsApp-Account und beginnt einen englischen Text an seinen „Meisterdetektiv" Hannes Wabaye in Moshi zu schreiben, mit dem er seit ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer locker in Kontakt geblieben ist. Damals hatten sie Diamanten für mehr als 100.000 € aus dem Wrack der MV Bukoba im Victoriasee geborgen und eine internationale Verschwörung rund um den Untergang des Fährschiffs aufgedeckt, bei dem 1996 fast 1.000 Menschen ertrunken waren.
„Hallo, Hannes! Ich hoffe es geht Ihnen, Honney und allen anderen aus der Familie prächtig und die Geschäfte laufen gut. Bei mir alles roger. Eine gute Bekannte von mir, Dr. Sabine Kortweit, die für eine politische Stiftung hier arbeitet, hat mich gebeten,