Kongotopia
Von Christoph Nix
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Buchvorschau
Kongotopia - Christoph Nix
Prolog:
Das Goldene Nashorn
Strobel kam zu spät. Er war müde. Sein Jackett saß schief und der Hemdkragen war zerknittert. Kaum stand er am Pult, steckte er sich eine Zigarette an. Eine Studentin wollte protestieren, doch als er sie ansah, ließ sie ihre übereifrige Hand auf den Schreibblock zurücksinken.
Sein Blick wanderte über die wenigen Studierenden, die ihm geblieben waren. Ein Zug aus der Zigarette und man hörte seine Stimme:
»In Europa weiß man wenig über die frühe Geschichte des afrikanischen Kontinents. Man will es nicht wissen. Hartnäckig wird daran festgehalten, es handle sich um die Geschichte von Stämmen und Stammeskriegen in Regenwald und Savanne. Dabei waren die Kulturen und Königreiche Afrikas schon im frühen Mittelalter verbunden mit unserer Welt.
Im Jahr 1932 stehlen Grabräuber ein kleines goldenes Rhinozeros. Dieses Rhinozeros von Mapungubwe mit nur einem Horn wird für den Ethnologen François-Xavier Fauvelle zu einem Symbol. Er reist auf diesem Tier durch das frühe Afrika. Er reitet auf ihm wie ein junger Gott über die Savanne, wie Don Quichotte durch La Mancha. Dabei gewinnt er einen neuen Blick auf Afrika. Ein neues Wesen betritt die Weltbühne. Sein Schöpfer muss ein weitgereister Mann gewesen sein, denn dieses goldene Nashorn ist ein Abbild des kleinen asiatischen Nashorns. Mitten in Afrika, im 9. Jahrhundert.
Als die belgischen Kolonialherrn im Kongo im 19. Jahrhundert auf das Königreich der Kuba stießen, trafen sie auf einen Staat mit einer ausgeklügelten Demokratie, klug und differenziert durchdacht, mit starken plebiszitären Elementen. Das System orientierte sich ausschließlich an Gerechtigkeitsfragen und eine hoch entwickelte handwerkliche Tradition versorgte alt und jung. Die Kuba mussten in Kontakt mit der westlichen Zivilisation gestanden haben. Davon waren die belgischen Invasoren überzeugt. Von wegen. Es war umgekehrt. Alle Menschen stammen aus Afrika, unsere europäische Welt hat ihre Geschichte vergessen. Die Weißen erhoben sich über die Hochkulturen des afrikanischen Mittelalters: Von den nubischen Königreichen mit ihren Pyramidenbauten über die reiche Schriftkultur des mittelalterlichen Malireichs bis zur Blütezeit Groß-Simbabwes gab es eine alte Welt auf dem alten Kontinent, von der wir in Europa allenfalls träumten. Sie war entstanden aus dem Denken und dem Handeln der Afrikaner, in einer Zeit, als bei uns noch die Hexen verbrannt wurden und die Erde eine Scheibe war.
In der Region, in der im letzten Jahrhundert einer der größten Genozide stattfand, tappt man immer noch im Dunkeln: ich spreche vom Dreiländereck Ruanda, Burundi und Kongo. Hier gab es im sechsten Jahrhundert nach Christus eine demokratische Hochkultur.«
Die Asche viel herab. Strobel hatte sich eine Zigarettenlänge Zeit gegeben. Er überzog, war milde, verzieh sich seinen Überschwang:
»Im Reich des heutigen Ruanda ernannte König Gihanga um das Jahr 1100 Prinz Gahima zum Nachfolger. Sein Einflussgebiet erstreckte sich über das gesamte untere Nilbecken. Gahima ist der Urvater von Twa, Hutu und Tutsi. Sie sind die Völker dieser Erde, standen während vieler Jahrhunderte in keinerlei kriegerischer Absicht zueinander. Wie konnte es dazu kommen, dass die drei Ethnien viele Jahrhunderte später so aufgebracht waren? Wo liegt die Wurzel dieses Krieges?
In die Regierungszeit Kigeli II., etwa um 1600, fallen die großen Kriege im Ostkongo, besonders gegen Basongora. Kigeli verstieß gegen das uralte Gebot, Basongora niemals anzugreifen. Damit nicht genug. Kigeli glaubte nur an sich, seine männliche Stärke und eroberte die heilige Trommel »Icyungo«. Er hielt nichts von Mythen, von angestammten Rechten, von Traditionen und von den Göttern. Seine Soldaten sahen das jedoch anders und rebellierten gegen ihn. Das Wort Putsch stammt vom ausscherenden Befehlshaber Nputncha ab und ist eine indigene Lautverschiebung. Militärisch hatte er keine Chance. Kigeli II. war klug, wild und gnadenlos. Seine Mehrheiten sicherte er sich durch Geschenke und ein feines Netz von Abhängigkeiten.
Dennoch gab es nach wie vor Aufrechte. Ein Teil des Heeres floh mit Frauen und Kindern über den Fluss Ruzizi, in den Regenwald des heutigen Kongo. Dort versteckten sie sich 99 Tage lang. Als ihre Spuren verwischt waren, stiegen sie hinauf in die Berge. Sie gerieten in Schneestürme, viele Kinder und Alte erfroren. Sie überquerten den großen Graben, der durch den afrikanischen Kontinent geht. Mitten im heutigen Itombwe-Gebirge entdeckten sie eine fruchtbare Hochebene: geschütztes Land, saftige Wiesen, fremde Pflanzenarten, viele wilde, bunte Tiere, die sie vorher nie zu Gesicht bekommen hatten.
Der Anführer der Flüchtlinge sah hier eine segensreiche Zukunft. Vielleicht könnte eine neue Welt entstehen, frei von Tyrannei und Habsucht. Auf 3200 Metern Höhe, im Verborgenen, nahe am Himmel, gab es Täler, Hügel, Flüsse, Moore, dichtes Buschwerk und wohlriechende Kräuter. Der Namenlose verliebte sich in diese Landschaft. Er war fasziniert von den Buschelefanten, die friedlich die Köpfe neigten und die man leicht dazu bringen konnte, den Pflug zu ziehen. Der Namenlose entschied, an diesem Ort zu bleiben, um eine neue Welt zu schaffen.
Als in Europa der erste große Krieg begann, der dreißig Jahre dauerte und das Gesicht der folgenden Kriege prägte, entstand in Afrika, auf dem dunklen, dem hoffnungsvollen Kontinent, eine neue Gemeinschaft.
Die Frau Kigelis II. hatte sich nach der Flucht der Abtrünnigen das Leben genommen. In ihrem Bauch trug sie das Kind des Namenlosen. Sie hätte ihrem Sohn den Namen Mulenge gegeben.
Etwa 300 Jahre später schenkte sich ein barbarischer König aus Europa das Herz des afrikanischen Kontinents und nannte es Kongo. Leopold von Belgien hat den afrikanischen Kontinent nie betreten, aber seine Soldaten wüteten dort wie die Teufel. In den Bergen des Ostens blieb das Volk der Hoffnungsvollen unentdeckt: die Banyamulenge.«
Der Professor taumelte, fast wären ihm seine Gefühle entglitten. Er wollte nicht sentimental werden. Er steckte sich eine zweite, eine letzte Zigarette an und betrachtete noch einmal den Hörsaal der Humboldt-Universität.
»Die Geschichte endet hier. Das war meine letzte Vorlesung. Ich wünsche Ihnen viel Glück auf all Ihren Reisen in das offene Herz Afrikas.«
Strobel verbeugte sich, unauffällig, ließ Zettel und Bücher auf dem Katheder liegen, packte die speckige Aktentasche aus Schlangenleder, eilte die Treppe hinunter, setzte seinen Hut auf. Mit einem Taxi fuhr er zum Flughafen. Von dort flog er in den Süden, nach Afrika.
Erstes Buch:
Burundi
I
Ein warmer Wind wehte den Hügel empor. Im Turm der Kapelle schlug der Klöppel gegen die Glocke. Ein heller Klang. Schwester Lisette erwachte. Sie setzte die Füße auf den Holzboden. Der vertraute Kaffeegeruch fehlte. Sie vergewisserte sich, dass keine Spinne in ihren Hausschuhen steckte und warf einen Blick unters Bett.
Sie stand auf und spähte in die Küche. Niemand da. Die Tür zum Schlafzimmer der Oberin war angelehnt. Sie stellte Wasser auf den Herd, setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände. Was tat sie hier? Ihr ganzes Leben hatte sie in Burundi verbracht. Sie liebte diese feinen Menschen. Lisette war eine moderne Frau. Sie glaubte nicht an den Satan, aber bereits zweimal hatte sie erlebt, wozu Menschen fähig sind.
Lisette war vierzig Jahr alt, von schlanker Statur, das weiße Habit machte sie größer. Ihre Gesichtszüge waren fein, man sah – und das war nicht immer zu ihrem Vorteil – dass sie eine Tutsi war.
Sie wusste nicht, ob sie ihren Glauben noch hatte, aber das Vertrauen war ihr geblieben. Wenn es Gott gab, war er gut. Abwesend. Wie die meisten Männer. Die Frauen retten die Welt, zumindest ihre Kinder. Es war nicht leicht, nur mit Frauen unter einem Dach zu leben.
Lisette sprang auf und lief ins Schlafzimmer der Oberin. Ein süß-säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, ihr Blick fiel aufs Bett: Dorena lag in ihrem Blut, den Unterleib aufgeschlitzt, das Gesicht erstarrt, die Hände zu Fäusten geballt. Lisette wollte schreien. Es ging nicht. Ihre Knie gaben nach.
Jäh, brutal, das Innerste nach aussen gekehrt – so endete Dorenas Leben nach 43 Jahren auf dem Hügel. Wer hatte das getan? Lisette hatte nichts gehört. Nichts. Was für ein Mensch musste das gewesen sein? Was wollte er? Wofür strafte er? Für Lisette versank alles in Dunkelheit. Kein Licht nirgends.
Die Schwestern wecken? Die Soldaten rufen? Von der Regierung war keine Hilfe zu erwarten. Die Regierung interessierte sich nicht für die Menschen. Den Körper der Oberin waschen. Die Tote herrichten. Der Oberin ihre Würde zurückgeben.
Danach weckte sie die Schwestern. Über dem Kloster Mutumba lag eine unheimliche Stille. Was für eine Erleichterung, als eine der Schwestern zu weinen begann.
Den Menschen, die mit ihnen auf dem Berg wohnten, blieb auf Dauer nichts verborgen. Sie kamen herbei, um den Schwestern nah zu sein, das Unglaubliche zu beweinen.
Lisette hatte alles getan, ohne Rücksicht darauf, dass die Regierung sie selbst des Verbrechens beschuldigen könnte. Mit dem Blut, das sie vom Boden aufwischte, fegte sie solche Gedanken hinweg. Sie wollte die Mutter Oberin nicht nackt den Militärs präsentieren.
Immer mehr Menschen kamen den Hügel herauf, eine Prozession der Armen. Vor der Kapelle stimmten sie das Salve Regina an.
Aus dem Büro der Oberin telefonierte Lisette mit dem deutschen Botschafter in Bujumbura. Er war oft bei ihnen im Gottesdienst gewesen.
»Sie müssen kommen, bitte!«
Zielstrebig wühlte sie in Mutter Dorenas Schreibtisch-Schublade. Sie blätterte in Briefen und Notizen, fand Fotos eines kleinen Mädchens, das traurig in die Kamera blickte. Andere Bilder zeigten eine reife Frau mit wehendem Kleid auf einem weißen Schiff. ›Zufrieden und glücklich‹, dachte Lisette. Noch mehr Fotos. Dorena mit harten Augen. Dorena mit aufgequollenem Gesicht. Verstört. Was hatte sie aus der Bahn geworfen? Zwischen vergilbten Papieren fand Lisette die Akten, nach denen sie gesucht hatte. War Dorena im Kongo gewesen? Wer war der schwarze Priester auf den Fotos? Opfer oder Täter?
Auch dem Militärposten auf dem Hügel war nicht verborgen geblieben, dass etwas geschehen war. Ein junger Korporal eilte mit vier uniformierten Männern zum Kloster. Sie stellten sich vor der Kapelle auf und schauten zur aufgebahrten Oberin hinüber, die Gewehre fest umschlossen. Der Gesang machte ihnen Angst. Sie traten den Rückzug an, verschanzten sich in ihren erbärmlichen Hütten. Auf einem alten Schild stand: »Militärstation Mutumba«.
Die Bauern, ihre Frauen, die Kinder standen stolz vor der Kapelle, als könnte sie jetzt nichts mehr erschüttern.
›Ein Bild der Bauernkriege. Thomas Müntzer zog in die Schlacht. Sie hatten keine Chance. Die Toten lagen auf dem Feld wie die Toten in Kigali und Bujumbura. Wie