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Nach dem Sintfeuer: Roman einer Zukunft
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eBook514 Seiten7 Stunden

Nach dem Sintfeuer: Roman einer Zukunft

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Über dieses E-Book

Überbevölkerung, Ressourcenverknappung und religiöser Fanatismus führen zum Sintfeuer: atomar entfacht. Eine Folge: Winter, hunderte von Tagen. Schockwellen teuflischer Schuld durchziehen das Denken der wenigen Überlebenden. Sie pflanzen sich über viele, viele Generationen in den Köpfen fort. Wie Gottesfürchtige der Ersten Menschheit die Sintflut überlebten, so überleben auch Gerechte der darauf folgenden Zweiten Menschheit das Sintfeuer. Sie werden zu Urahnen der Dritten Menschheit. Ihr stehen, wie im Mittelalter, nur regenerative Energien zur Verfügung. Die geringe Bevölkerungsdichte ermöglicht der Dritten Menschheit aber einen auskömmlichen Lebensstandard. Getragen von einem tief verwurzelten messianischen Glauben wächst mit den Kindern immer wieder neue Zukunftshoffnung heran. Das Wiederaufleben typischer Charaktereigenschaften der Zweiten Menschheit führt zu neuen Verbrechen, als nukleare Hinterlassenschaften entdeckt werden. Gerechte erkennen das Ziel ihres messianischen Glaubens als eigene Aufgabe: Egoismus, Verblendung und Bosheit, und folglich auch religiösen Fanatismus, dauerhaft ihren Einfluss auf menschliches Denken und Handeln zu nehmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum7. Apr. 2016
ISBN9783741214462
Nach dem Sintfeuer: Roman einer Zukunft
Autor

Helmut Röthemeyer

Für Helmut Röthemeyer standen Sicherheitsfragen der nuklearen Entsorgung als Abteilungsleiter in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und als Fachbereichsleiter im Bundesamt für Strahlenschutz im Mittelpunkt seines Berufslebens. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse sind in Büchern dargelegt: Als Herausgeber und Koautor in dem Buch „Endlagerung radioaktiver Abfälle. Wegweiser für eine verantwortungsbewusste Entsorgung in der Industriegesellschaft“ 1991 und als Koautor, zusammen mit Prof. A. G. Herrmann, in „Langfristig sichere Deponien. Situation, Grundlagen, Realisierung“ 1998. Die Arbeiten fußen auf einer langfristigen Bewertung zukünftiger Entwicklungen. Dies hat den Autor angeregt, in dem Roman „Nach dem Sintfeuer. Roman einer Zukunft“ auch eine Entwicklungsmöglichkeit der Menschheit darzulegen.

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    Buchvorschau

    Nach dem Sintfeuer - Helmut Röthemeyer

    Bibliografie

    TEIL 1

    Ein Tag in der Akademie

    Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel, denn es reuet mich, dass ich sie gemacht habe.

    Die Bibel, 1. Moses 6.7

    Im Namen Allahs, des gnädigen, des Barmherzigen.

    Die Katastrophe!

    Was ist die Katastrophe?

    Und was lehrt dich wissen, was die Katastrophe ist?

    An einem Tag, da die Menschen Motten sein werden.

    Und die Berge wie Streichwolle werden.

    Dann wird der, dessen Waage schwer ist,

    Ein angenehmes Leben genießen.

    Der aber, dessen Waage leicht ist,

    Die Hölle wird seine Mutter sein.

    Und was lehrt dich wissen, was das ist?

    Ein rasendes Feuer.

    Der Koran, Sure 101/30. Teil „Das Verhängnis"

    1

    Es war im Mai des Jahres 4953 christlicher Zeitrechnung. Ingott saß in dem engen, weiß getünchten Raum im Nordturm des Fest- und Versammlungsgebäudes der Akademie. Das niedrige Gewölbe wirkte wie ein Rahmen für das große Holzkreuz an der Stirnseite. In einer viertel Stunde würde sie über die Arbeiten berichten, die zur Klärung des Untergangs der Zweiten Menschheit geführt hatten. Sie war sich sicher, dass der fachliche Teil ihrer Ausführungen Anerkennung finden würde. Ihre Deutung des Kreuzes als Bindeglied der Zweiten Menschheit mit dem Göttlichen Wesen, und nicht dem teuflischen, würde allerdings Jahrtausende alte Vorstellungen erschüttern.

    Sie hatte ihr talarartiges, faltenreiches und bis auf die Knöchel reichendes weißes Gewand übergestreift. Ihr kastanienfarbiges, welliges Haar fiel bis auf die Schultern herab. Sie lächelte über sich selbst, als sie trotz ihrer Nervosität noch einen Blick in den Spiegel tat:

    Ein schmales Gesicht mit einer leicht gewölbten mittel hohen Stirn, gerader Nase, elegant geschwungenen Augenbrauen über dunkelbraunen Augen und einem betonten Kinn lächelte ihr entgegen. Doch nun sah sie ihr weißes Gewand und erinnerte sich der Mythen, die sich um dieses Festgewand der Dritten Menschheit rankten: Fast dreitausend Jahre nach dem Untergang fast der ganzen Zweiten Menschheit waren Menschen erneut zu Wohlstand gelangt. Und mit dem Wohlstand schlichen sich die Geißeln der Ersten und Zweiten Menschheit – Egoismus, Verblendung und Bosheit – wie der Dieb in der Nacht wieder in das Denken ein. Um ein Zeichen für die Verantwortung aller Menschen für einander und ihre Gleichheit vor allem bei der gemeinsamen Anbetung und Verehrung des Göttlichen Wesens zu betonen, kamen immer mehr Männer, Frauen und Kinder in dem gleichen langen Gewand zu den Versammlungen.

    Die Gewänder waren entweder weiß oder schwarz. Wie das Licht durch schwarze Gewänder aufgenommen wird, sollte der menschliche Geist Erkenntnisse aufnehmen und Erfahrungen mit dem Göttlichen Wesen verinnerlichen. Die weißen Gewänder geben dagegen empfangenes Licht zurück und symbolisierten damit die Verpflichtung, andere an gewonnenen Erkenntnissen und Erfahrungen teilhaben zu lassen. Im Laufe der Zeit bürgerte es sich aber immer mehr ein, dass die Frauen weiße, die Männer schwarze Gewänder trugen. Viele beklagten dies als eitlen Wunsch nach lichtem, gutem Aussehen; andere sahen hierin ein hoffnungsvolles Symbol für ihre Kinder.

    Die Dritte Menschheit empfand Kinder als Geschenk. Mit ihnen verband sie ihre Jahrtausende alte Heilserwartung. Wie auch immer die Deutung, Ingott wollte heute die gesammelten Erkenntnisse der Archäologen aller Disziplinen und der Historiker zum Untergang der Zweiten Menschheit den Mitgliedern der Akademie und den Menschen der Stadt mitteilen. Das weiße Gewand war daher ein Bekenntnis zur Tradition der Akademie. Mit ihrem Vortrag hoffte sie, für einige Zeit als Mitglied aufgenommen zu werden.

    Sie wurde durch das weithin hallende Geläut der Glocken im Glockenhaus zwischen den Türmen des Fest- und Versammlungsgebäudes aus ihren Gedanken gerissen. Vergessen waren nun der Blick in den Spiegel und die irdische Freude, die sie über ihr gutes Aussehen empfunden hatte. Während sie den Raum verließ, spürte sie in sich das Göttlichen Wesen. Sie bat es um verständnisvolle Worte und die Gnade der Empathie.

    Ihr Weg führte nach Osten durch das den Raumeindruck prägende Mittelschiff einer dreischiffigen Pfeilerbasilika. Ihre auf die Zweite Menschheit zurückgehende Architektur hatten die Archäologen in Jahrhunderte langer Arbeit erforscht. Danach wurden große Opfer gebracht, um diesen Bau zu Ehren der Urahnen der Dritten Menschheit wieder aufzubauen. Selbst jetzt war sie von dem schlichten, mächtigen, Geborgenheit ausströmenden Bau aus örtlichem Rogenstein tief beeindruckt. Sie ging durch den Mittelgang an den dicht besetzten Bankreihen vorbei und nahm in der ersten Reihe neben Broder Harleb Platz, Präses der Akademie und Präsident der Region Bengtstadt. Er hatte den Vorsitz der Festveranstaltung übernommen. Alle Teilnehmer im Mittelschiff waren in den traditionellen weißen und schwarzen Gewändern gekleidet. Auch diejenigen, die in den Seitenschiffen dicht gedrängt saßen und standen, hatten sich überwiegend der Tradition gebeugt. Einige waren aber auch in weltlichen Festgewändern erschienen. Ausdruck des Stolzes, des Verlangens nach Veränderungen in der Gesellschaft oder gar der Bewunderung für die Zweite Menschheit? Ingott wusste es nicht. Auf jeden Fall musste sie vorsichtig sein, um bei ihrem beabsichtigten Plädoyer auch für gute Seiten der Zweiten Menschheit nicht missverstanden zu werden.

    Die Glocken verstummten. Der Vorsitzende erhob sich und ging zu einem Katheder, das rechts vom Mittelgang aufgestellt war. Während er in seinem schwarzen, faltig-weitem Gewand groß und aufrecht die vier Stufen emporstieg, sah die Festgemeinde in das ihnen vertraute Gesicht. Die dunklen Augen strahlten zugleich Güte und Überlegenheit aus. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch hochgezogene Augenbrauen, über die sich Stirnfalten gleichlaufend wölbten. Die Stirn war hoch und breit. Sie wurde durch ein eng anliegendes Käppchen begrenzt. Darunter quollen dichte, weiße Haare hervor. Sie kräuselten sich über Ohren und Nacken und wirkten im Schein der Leselampe auf dem Katheder wie ein Heiligenschein. Die ausgeprägte Adlernase, die im Alter – in Jahrzehnten angestrengten Denkens – schmal gewordenen Lippen, drückten Entschlossenheit aus. Seine Züge hätten sogar herrisch gewirkt, wenn nicht Augen und Gesichtsfalten von natürlicher Freundlichkeit und Mitgefühl gezeugt hätten. Um den Hals trug er an einer goldenen Kette das allseits geachtete Symbol reifer Menschlichkeit, der Vollkommenheit in der Verschiedenheit: Eine einfache Holzkugel, deren eine Hälfte schwarz und deren andere Hälfte weiß war. So breitete sich, als er anhub zu reden, ein Gefühl friedfertiger Erwartung und der Wille zu ernsthaftem Zuhören aus.

    „Verehrte Festgemeinde: Freunde der Akademie, Bürger unserer Stadt und unseres Landes, Gesandte und Freunde vieler Länder aus nah und fern! Heute müssen wir erneut über eine beantragte Mitgliedschaft in unserer Akademie entscheiden. Unser Kollegium hat mehrheitlich empfohlen, Elizabet vom Finkenhof mit der Präsentation ihrer bisherigen und geplanten Arbeiten diese Chance zu eröffnen. Sie ist Tochter unseres ehemaligen Kollegen Hainrich vom Finkenhof. Die meisten von uns kennen ihn aber nur unter seinem Beinamen Judex, Judex vom Finkenhof. Er war ja, wie viele von euch wissen, unser für Recht und Ordnung zuständiges Mitglied der Akademie und Richter der Stadt. Heute ist er wieder Hofherr auf seinem Finkenhof.

    Elizabet ist vierundzwanzig Jahre alt. Sie hat Geschichte der Zweiten Menschheit studiert. Ihre Zeit der Einsamkeit und Selbstfindung dauerte ein Jahr und wurde im Westen Albions verbracht. Sie besuchte eine internationale Akademie, deren Forschungsschwerpunkt die Geschichte der Zweiten Menschheit war. Dort lernte sie die Worte des als Messias und Sohn Gottes verehrten Christus kennen:

    ‚Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.

    Wer in Mir bleibt und Ich in ihm,

    der bringt viel Frucht:

    denn ohne Mich könnt ihr nichts tun.‘

    Diese Worte trafen sie wie eine Erleuchtung. In ihr wuchs die Gewissheit, dass das Göttlichen Wesen in der Natur und in ihr als Teil der Natur ist. Sie spürte es in ihrem Geist und Herzen und fühlte sich IHM immer nah verbunden. Daher gab sie sich den Beinamen Ingott, unter dem wir sie nach ihrer Rückkehr in diese Stadt kennen.

    Mythologische Erklärungsversuche führen bekanntlich die Erste Menschheit auf Adam und Eva zurück, während die Zweite Menschheit sich nach der Sintflut entwickelte. Angehörige der Zweiten Menschheit halten viele für Teufel in Menschengestalt, da ihre Geschichte durch ungeheure Verbrechen geprägt ist. Als letzte Schandtat entfachten sie das Sintfeuer, mit dem sie sich selbst vernichteten. Danach entstand die Dritte, die wahre Menschheit. Wir haben das Glück ihr anzugehören. Vor diesem Hintergrund verspricht der Titel von Ingotts Vortrag ,Die Zweite Menschheit, Teufel in Menschengestalt?‘ spannende Stunden."

    Die in Frage Stellung dieser Überzeugungen führte zu Buh-Rufen, aber auch vereinzelt zu einem zustimmenden Hört! Hört! Der Vorsitzende erhob seine Hand als Zeichen der Bitte um Ruhe. Dank seiner Autorität stellte sie sich auch unverzüglich ein. „Lasst uns nun hören, was Ingott zu sagen hat. Danach sollten wir alles in Ruhe und unvoreingenommen diskutieren." Er warf Ingott noch einen aufmunternden Blick zu. – Dann war ihre große Stunde gekommen.

    2

    „Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Vielen Dank für die einführenden Worte! Verehrte Festgemeinde! Unser Bewusstsein ist geprägt von einer Überlieferung – die Zweite Menschheit wurde von den teuflischen Eigenschaften Egoismus, Verblendung und Bosheit beherrscht.

    Zur Erfüllung ihrer auf Irdisches ausgerichteten Wünsche bestimmten daher Macht- und Habgier, Ruhm- und Eifersucht, Hass, Zorn, Hoffart, Wollust, Verleumdung und Denunziation, Intrigen, Fanatismus und Grausamkeiten ihr Denken und Handeln. So war ihr Leben auch von Sorge, Furcht, Angst und Verzweiflung überschattet. Trotzdem hat der Aufstieg der Zweiten Menschheit zu kulturellen und wissenschaftlich-technischen Höhen geführt, die wir auch in den fast drei Jahrtausenden nach deren Untergang noch nicht vollständig nachvollziehen und verstehen konnten. Sie haben gerade im wissenschaftlich-technischen Bereich viele Menschen gehabt, die immer neues Wissen schafften und anwendeten. Das Feuer leuchtete ihnen am Anfang des Weges. Es wurde an dessen Ende zum Höllenfeuer. Heute möchte ich diesen Weg zum Untergang nachzeichnen. Dabei werden auch die Bedingungen deutlich, die unsere Urahnen nach dem Sintfeuer vorfanden. Neuere Forschungsergebnisse und archäologische Funde haben hier zu einem klareren Verständnis geführt. Sie könnten sich auch für die Zukunft unserer Gesellschaft als bedeutsam erweisen.

    Die kulturellen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungen setzten eine arbeitsteilige, hoch spezialisierte Stadtgesellschaft voraus. Sie benötigte ein fruchtbares Hinterland mit ausreichenden Agrarüberschüssen. Weitere Voraussetzungen waren Rohstoffe und Energie. Für unseren heutigen Mangel daran ist die Zweite Menschheit verantwortlich."

    Diese schon zu einer Glaubensgewissheit gewordene Aussage führte zu zustimmendem Nicken und Gemurmel in der Zuhörerschaft. Ingott wollte mit dieser Äußerung schon am Anfang ihrer Ausführungen ihre Übereinstimmung mit den Grundüberzeugungen der Mehrheit der Festgemeinde bekunden. Sie erhoffte dadurch die Aufgeschlossenheit der Zuhörer für ihre weiteren Aussagen zu stärken.

    „Im Zeitraum von etwa einhunderttausend Jahren bis zum Jahr null der Zeitrechnung der Zweiten Menschheit, also bis vor etwa fünftausend Jahren, wurden wichtige Grundlagen für die Erfüllung der genannten Voraussetzungen geschaffen: die Nutzung von Feuer, Wasser und Wind, die Erfindung von Schrift, Rad, Pflug, Papier, Mörtel und der Bau mächtiger Städte und seegängiger Schiffe. In den nächsten etwa tausendachthundert Jahren wurden die Nutzungsmöglichkeiten der Naturkräfte erweitert und durch Anwendungen der Dampfkraft ergänzt. Erfindungen wie Porzellan, Bleikristallglas, Tiegelgussstahl, Mikroskop und Stethoskop wurden gemacht, erste Erkenntnisse über die Elektrizität gewonnen. Mit einem Heißluftballon erhoben sich Menschen in die Luft. In dieser Zeit vollzog sich auch ein Wandel in der Zielsetzung der Naturforschung: Abschied von dem Versuch, Naturbeobachtungen sofort als Ganzes verstehen zu wollen. Naturforscher begannen vielmehr, einzelne Vorgänge und Prozesse von ihrem natürlichen Gesamtzusammenhang zu isolieren, und dann zu bewerten. Daraus ergaben sich mathematische Modelle, die als Naturgesetze mit dem Anspruch einer objektiven Naturbeschreibung angesehen wurden. Ziel war es, auf diesem Wege einmal die Natur als Ganzes erkennen zu können."

    Ingott hatte bei der Ausarbeitung ihrer Ausführungen lange gezögert, diesen – für nicht naturwissenschaftlich Vorgebildete – schwer verständlichen Sachverhalt zu bringen. Die Unruhe in der Zuhörerschaft und der Blick in viele ratlose Gesichter bestätigten ihre Befürchtungen. Deshalb fügte sie ein einfaches, klärendes Beispiel ein.

    „Diese kompliziert klingende Aussage wurde auch mir als Historikerin erst verständlich, als ein befreundeter Archäophysiker mich auf ein bekanntes Beispiel hinwies: Ein Stein fällt normalerweise schneller zur Erde als eine Vogelfeder. Die sich dabei abspielenden Vorgänge sind zusammen schwer zu erfassen. Macht man den Versuch jedoch in einer luftleeren Röhre, fallen beide Körper gleich schnell. Das Ergebnis kann dann durch ein einfaches Fallgesetz beschrieben werden."

    Da dieses Beispiel den meisten Zuhörern noch von ihrer Ausbildungszeit her in Erinnerung war, gaben ein Gemurmel aus „ja, ja, aber natürlich" und nachbarlicher Gedankenaustausch der Freude über das erreichte Verständnis hörbaren Ausdruck. Ingott fühlte sich nun ermutigt, den von der Zweiten Menschheit schon begangenen Weg zu den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten weiterzugehen.

    „Etwa zweihundert Jahre später musste das immer noch langfristig angestrebte Ziel, die Natur als Ganzes erkennen zu können, aufgegeben werden. Den Naturforschern wurde bewusst, dass diese Naturgesetze kein objektives Bild von der Natur selbst, sondern nur von unserer Kenntnis der Natur geben können. Schon bevor die Naturwissenschaftler zu diesem Ergebnis kamen, hatte der Philosoph Kant die Grundlagen menschlichen Denkens selbst untersucht. Danach können die Menschen aufgrund ihrer ihnen gegebenen Verstandesstruktur nur Erscheinungen erkennen, nie das, was die Erscheinungen hervorruft: das Ding-an-sich. Einem Teil der Zweiten Menschheit waren also die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit wohl bewusst. Leider führte dies ganz überwiegend nicht zur Selbsterkenntnis in Demut und Bescheidenheit. Die Zweite Menschheit schien von Natur böse zu sein.

    Der auf Teilergebnisse ausgerichtete wissenschaftliche Ansatz führte jedoch zu einer beispiellosen Erweiterung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, besonders in den letzten etwa zweihundert Jahren vor dem Sintfeuer. Sie wurden in der technischen Anwendung mit dem Ziel genutzt, die materielle Macht des Menschen zu erweitern. Die Technik war aber nicht nur Folge der Naturwissenschaft, sondern auch Voraussetzung für die Erkenntnisse über kleinste elementare Teilchen bis hin zum Weltraum. Die Ergebnisse dieser Technik sind uns bekannt: Dampf- und Verbrennungsmaschinen, Strahltriebwerke, umfassende Nutzung der Elektrizität und elektromagnetischer Wellen. Aus Mangel an Energie und Rohstoffen sowie einer ausreichenden Anzahl hoch qualifizierter und spezialisierter Fachleute werden alle diese Errungenschaften wohl kaum wieder erreicht werden können. Die Mehrheit der Dritten Menschheit sieht, wie euch allen bewusst ist, viele dieser Errungenschaften heute als nicht erstrebenswert an.

    Wir wissen, dass eine ungeheure Energie, ausgelöst durch das Göttliche Wesen, unsere Welt mit Materie und Licht gebar. Die Zweite Menschheit beherrschte auch den umgekehrten Vorgang, die Umwandlung von Materie in ungeheure Energiemengen. Sie legte damit einen Grundstein zu ihrem Untergang.

    Die dargestellten wissenschaftlich-technischen Errungenschaften und Erkenntnisse sind uns auf Grund unserer langen archäologischen Forschungsarbeiten bekannt. Sie machten den Untergang der Zweiten Menschheit zwar möglich, waren aber nicht ursächlich dafür verantwortlich. Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, mit dem Übergang zum aufrechten Gang und dem damit einhergehenden Begreifen, alle Bereiche der Bewusstseinsstruktur von ihren animalischen Ursprüngen zu lösen. Ich werde später darauf eingehen, dass einzelne Menschen neue seelische Bereiche aufgestoßen haben. Sie wurden jedoch nicht im Bewusstsein der Zweiten Menschheit handlungsbestimmend verankert. Daher war die Geschichte geprägt von unvorstellbaren Gräueltaten und der Entwicklung von Waffen mit der Möglichkeit, die gesamte Menschheit zu vernichten. Die Erschließung und Verschwendung großer Energiemengen ermöglichte auch ein großes Bevölkerungswachstum. Hierauf möchte ich im Folgenden eingehen. Dies führt uns direkt zum Untergangszenarium. Nach der Pause werde ich dann einen bemerkenswerten neuen archäologischen Fund vorstellen. Seine Bedeutung für unsere Gesellschaft ist das Thema für meine angestrebte Arbeit in der Akademie.

    Die Gräueltaten erstreckten sich auf die Vernichtung ganzer Kulturen, die Tötung von Erleuchteten und Propheten, die Einrichtung der Inquisition, den Handel von Menschen als Sklaven und Lustobjekte, die fabrikmäßige Tötung von Mitmenschen und Vernichtungskriege gegen Völker und Staaten.

    Allein durch die drei letztgenannten Missetaten starben mehr Mitmenschen der Zweiten Menschheit als im Jahre Null ihrer Zeitrechnung auf dem ganzen Globus lebten. Hierfür und letztlich auch für ihren Untergang sind Machtgier, Fanatismus und damit einhergehend die Aufstachelung ungezügelter Leidenschaften verantwortlich. Dies möchte ich euch am Beispiel der Inquisition aufzeigen."

    3

    Ingott musste ihren Vortrag hier unterbrechen, da ein noch halb hinter einem Pfeiler des nördlichen Seitenschiffs verborgener Mann sich durch die dicht gedrängte Menge in Ingotts Blickfeld zu schieben versuchte. Als er es endlich geschafft hatte, kam ein gepresstes „eine Frage bitte aus dem noch schwer atmenden Fragesteller heraus. Ingott blickte den Vorsitzenden etwas ratlos an. Der erhob sich und antwortete darauf hin: „Wir haben eine Diskussionsrunde nach Ingotts Ausführungen vorgesehen. Wenn deine Frage aber für das weitere Verständnis wichtig ist, sollten wir sie jetzt stellen.

    „Danke, Broder! Ingott, warum hast du die Inquisition als Beispiel gewählt und nicht z.B. die schon im frühen Mittelalter der Zweiten Menschheit verübten, von ungeheurer Mordlust geprägten Raubzüge der Wikinger oder die noch heute unvorstellbare fabrikmäßige Tötung unschuldiger Menschen?"

    „Diese Frage gibt mir die Gelegenheit zu einer Klarstellung. Ich möchte keine Wertung der Verbrechen der Zweiten Menschheit vornehmen. Die Ursachen für die Raubzüge der Wikinger waren Überbevölkerung, Habgier und fehlendes Unrechtsbewusstsein. Wie wir die Zweite Menschheit überwiegend als Teufel ansehen, so haben viele Menschen im Mittelalter die Wikinger als heidnische Unholde bezeichnet und ebenfalls als Teufel angesehen – geschickt als Geißel Gottes um ihrer eigenen Sünden willen. Ursache der Todesfabriken war die bewusste Entfesselung niedrigster Triebe. Alles dies hat sich auch in der Inquisition ausgewirkt. Was diese aber so einzigartig macht, ist, dass ihre Vollstrecker sich auf die alleinige, absolute und ewige Wahrheit des ihnen offenbarten Wortes ihres Gottes beriefen. Dies war auch eine entscheidende Ursache für die Entzündung des Sintfeuers. Da ich auf die Ursachen der anderen Menschheitsverbrechen hier nicht im Einzelnen eingehen kann, würde ich jetzt gern in meinen Ausführungen fortfahren. Falls Unklarheiten verblieben sind, können wir sie in der Diskussion zu klären versuchen."

    Der Fragesteller bedankte sich und hob seine Hand als Zeichen des Einverständnisses. Ingott vertiefte sich in ihr Manuskript, um den durch die Unterbrechung verlorenen Faden wieder aufzunehmen.

    „Es ist ein einfaches Grundverhalten, das die gesamte Geschichte der Zweiten Menschheit durchzieht. Eine zunächst immer angestrebte Gleichheit aller Menschen führt allmählich zur Ausbeutung, Erniedrigung, Demütigung einzelner Menschengruppen, bis hin zu ihrer Verfolgung und Tötung. Wird dies bis zur Unerträglichkeit gesteigert, kommt es zum Widerstand der Verzweifelten und zur Revolution.

    Das Versprechen, die Gleichheit aller wieder herzustellen, ist dabei die Triebfeder für den Zusammenhalt und das Durchsetzungsvermögen der Erniedrigten und Beleidigten. Sobald die Herrschaft errungen ist, wird das Denken und Handeln der ehemals Gepeinigten jedoch immer mehr durch das ihrer Peiniger beeinflusst. Der Kreislauf beginnt von neuem.

    Auch die Christen gehörten anfangs zu den Verfolgten, Gequälten und Getöteten. Als nach etwa dreihundert Jahren die Verfolgung beendet wurde, ging das dann staatlich gestützte Christentum schnell selbst zur Verfolgung derjenigen über, die von den kirchlichen Hierarchien abweichende Meinungen vertraten. Diesbezüglichen Ketzergesetzen schlossen sich weitere gegen Juden und Ungläubige, so genannte Heiden, an. Tausend Jahre nach diesen Anfängen war der Unterdrückungsapparat, Inquisition genannt, voll ausgebildet und in schrecklicher Weise noch über weitere Jahrhunderte wirksam. Die Wirksamkeit beruhte auf der Teilung der Kirche in Hirten und Schafe. Das Schicksal der Schafe, der Kirchenmitglieder, lag in den Händen der Hirten. Das waren alle Geistlichen vom einfachen Priester bis hin zum Papst. Letzterer beanspruchte als Stellvertreter des Religionsgründers Christus auf Erden die oberste Macht in der Christenheit für sich. Denn nur die Hirten konnten die für die ewige Seligkeit erforderlichen Sakramente austeilen oder vorenthalten. Ein aus der Kirche ausgeschlossener war daher zum Höllenfeuer verdammt.

    Die Inquisitoren beriefen sich auf ihr heiliges Buch, die Bibel. Deren Aussagen wurden als Wort Gottes interpretiert, und damit als alleinige, absolute und ewige Wahrheit angesehen. Da die christliche Lehre insgesamt jedoch auf den Fundamenten Nächstenliebe und Toleranz fußt, war es hierzu nötig, einzelne Aussagen herauszugreifen. Sie wurden im Sinne ihrer fanatischen Überzeugungen interpretiert und zusammengefügt. Z. B. wird Christus im Neuen Testament mit den Worten zitiert:

    ‚Wer nicht in mir bleibet, der wird weggeworfen wie eine Rebe, und verdorret, und man sammelt sie, und wirft sie ins Feuer, und müssen brennen.‘

    Im Alten Testament, dem vorchristlichen Teil der Bibel, stehen eindeutige Handlungsanweisungen für alle, die nicht den einzigen, den wahren Gott anbeten:

    ‚... so sollst du denselben Mann oder dasselbe Weib ausführen, die solches Übel getan haben, zu deinem Tor, und sollst sie zu

    Tode steinigen.‘

    Triebfeder der Ketzerei, der Verfälschung der wahren Lehre, war vor allem die sich immer stärker ausbildende Diskrepanz zwischen den Lehren Christi und der kirchlichen Praxis in der auf Machterhalt ausgerichteten Lehre der Kirche und dem Lebenswandel der Hirten. Mein Vater hat mich darauf hingewiesen, dass später auch der erwachende, nach Freiheit drängende menschliche Geist von der Kirche als Gefahr erkannt und bekämpft wurde. Dazu beigetragen haben die Kenntnis der Lehren aufgeklärter, vorchristlicher Denker wie Aristoteles, und das harmonische, logische römische Zivilrecht.

    Letzteres war den barbarischen Volksrechten und dem schwerfälligen, konfusen Kirchenrecht so überlegen, dass es die Gerichtshöfe eroberte. Aus Sicht der Kirche bedeutete dies die Verdrängung der Gesetze Gottes durch die des weltlichen römischen Reiches. Wie wir später sehen werden, haben noch kurz vor dem Ende der Zweiten Menschheit religiöse Fanatiker in vielen Staaten versucht, das Recht aufgeklärter und toleranter Gesellschaften durch altes religiöses Recht zu ersetzen. Die dadurch hervorgerufenen Konflikte haben zum Untergang der Zweiten Menschheit beigetragen.

    Ich kann auch hier nicht annähernd auf alle Gräueltaten dieser Geschichtsperiode eingehen. Daher beschränke ich mich auf das Schicksal zweier Ketzergruppen, der Waldenser und Katharer, und dem Wirken der Inquisition bei der Hexer- und Hexenverfolgung.

    4

    Die Waldenser haben den Namen von ihrem Stifter Petrus Waldensis. Er entstammte einer wohlhabenden Familie, gab jedoch allen seinen Besitz an die Armen, und wurde zum Prediger eines apostolischen Lebens in der Nachfolge Christi. Aus einem Streitgespräch mit der offiziellen Kirche sind uns einige der als Ketzerei angesehenen Überzeugungen der Waldenser anklagend überliefert: Nach christlicher Lehre muss man Gott (unserem Göttlichen Wesen) mehr gehorchen als den Menschen. Sie verweigern daher der Autorität des Papstes und der Prälaten den bedingungslosen Gehorsam. Alle Christen, auch Frauen, haben das Recht zu predigen. Das im Bette, in einem Zimmer oder in einem Stalle gesprochene Gebet ist dem in der Kirche ebenbürtig.

    Solche Überzeugungen, für uns selbstverständlich, stellten jedoch das Selbstverständnis der damaligen Kirche und die Grundlagen ihrer weltlichen Macht in Frage. Dies wird noch deutlicher darin, dass die auf Christus zurückgehende Binde- und Lösegewalt durch die Beichte, das Fundament kirchlicher Macht, allen zugesprochen wurde, die ein Leben im Sinne der Apostel führten. Kultushandlungen sündiger Hirten hielten sie für unwirksam. Gehorsam war nur gegenüber Hirten mit christlichem Lebenswandel geboten. Fünf Jahrhunderte später wurden diese Lehren zum Allgemeingut eines großen Teils der Christenheit. Sie nannten sich Protestanten. Im damals Deutschland genannten Gebiet kam es jedoch zu einem dreißigjährigen Religionskrieg; er kostete etwa zehn Millionen Menschen das Leben und halbierte die damalige Bevölkerung des Landes.

    An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass die durch politische Unterstützung siegreichen Protestanten, ehemals selbst verfolgt und verbrannt, das erwähnte geschichtliche Grundverhalten ebenfalls an den Tag legten. Auch sie verfolgten die angebliche Hexensekte und verbrannten ihre überführten Mitglieder.

    Zurück zur Ketzerei der Waldenser. Sie wurde von Kirche und Staat mit grausamer Verfolgung und Tod bestraft. Die Vorgehensweise gegen die aus unserer Sicht unschuldigen, ja wegen ihres Glaubensmutes bewunderungswürdigen, Waldenser zeigt typische Verhaltensweisen der Zweiten Menschheit auf, weshalb wir sie als teuflisch charakterisieren: Die Waldenser, sowie alle anderen von der Kirche als Ketzer Verurteilten, mussten z.B. ihre Heimat in einem Fürstentum verlassen. Jeder, der sich mit ihnen einließ oder sie aus Mitleid unterstützte, wurde als Verräter gebrandmarkt und seiner Besitztümer beraubt. Wer der Ausweisungsanordnung nicht fristgerecht Folge leistete, konnte straffrei ausgeplündert und misshandelt werden. Als letzte Zwangsmaßnahme war der Scheiterhaufen vorgesehen. Die Waldenser folgten ihrem Herren, dem vom Göttlichen Wesen erleuchteten Christus, in Wort und Tat. Wie jener seiner Überzeugung bis zum Kreuz treu blieb, so ertrugen sie zu Tausenden lieber die Qualen der Gefängnisse, der Folterkammern und der Scheiterhaufen, als zu einem Glauben zurückzukehren, von dessen Verderbtheit sie überzeugt waren."

    Ingott hielt hier in ihrem Vortrag inne, um die Wirkung dieser Worte auf ihre Zuhörer zu erkennen. Die Dritte Menschheit hielt es für eine ihrer herausragenden Tugenden zu eigenen Überzeugungen ohne Rücksicht auf persönliche Folgen zu stehen; es sei denn, sie konnten widerlegt werden. Sie hatte mit ihrer Aussage ein Tabu gebrochen, indem sie die Ethik der ketzerischen Waldenser – also Angehörigen der Zweiten Menschheit – mit einer Grundüberzeugung der Dritten verglichen hatte. Die Festgemeinde verhielt sich jedoch völlig still. Offensichtlich mussten die Zuhörer diese ungewohnt differenzierte Bewertung eines Teils der Zweiten Menschheit erst verarbeiten.

    Da die befürchteten Proteste ausblieben, fühlte sich Ingott in ihrem Vortragskonzept bestätigt. Sie fuhr ermutigt fort: „Verehrte Festgemeinde! Ich möchte mich nun den ketzerischen Katharern zuwenden. Unsere geschichtlichen Kenntnisse geben uns hier einen vertieften Einblick in die verruchten Methoden der Inquisition.

    Der Name Katharer war der damaligen griechischen Sprache entnommen und bedeutet Die Reinen. Als Folge ihrer Aufspaltung und des Einflusses über eineinhalb Jahrtausende älterer Religionen auf ihre als christlich angesehenen Vorstellungen, ist ihre Lehre nicht von der eindeutigen Klarheit wie die der Waldenser. Wesentliche Elemente ihrer Lehre und ihres Lebens sind: Nicht Gott, sondern der Teufel ist der Schöpfer der Welt. Da daher alles Irdische böse ist, hat Christus keinen irdischen Leib. Ihm kommt nur eine traumhafte Bedeutung zu. Seine irdische Erscheinung soll den teuflischen Menschen erlösen. Bis die Vollkommenheit der Seele erreicht ist, kann es zu vielen Wiedergeburten in menschlicher und tierischer Gestalt kommen. Daraus ergibt sich ein Tötungsverbot. Da nicht Gott, sondern der Teufel der Weltenschöpfer ist, werden auch die Kirche und ihre Hierarchie, die Sakramente und der Eid verworfen. Die Katharer waren überzeugt, das Böse durch Askese überwinden zu können. Die Vollkommenen ihrer Kirche lebten daher in Armut und im Zölibat und enthielten sich des Fleisch- und Weingenusses.

    Auch wir sehen teuflische Eigenschaften der Zweiten Menschheit. Aber aus unserer Sicht ist schwer verständlich, weshalb gerade diese Religion mit ihrer teuflischen Weltsicht so viele Anhänger fand. Scharfsinnigen Geistern musste es auch schwer fallen, nur Christus eine traumhafte Bedeutung beizumessen. Dieser Gedanke ist der buddhistischen Vorstellungswelt entnommen. Dort wird aber allem, was uns als Realität erscheint, keine größere Bedeutung als einem Traum beigemessen. Buddhas ‚Nichts ist, wie es erscheint‘ ist durchaus im Einklang mit der bereits zitierten, über zweitausend Jahre später wissenschaftlich begründeten Erkenntnis Kants: Der Mensch kann das Ding-an-sich nicht erkennen. Auch Menschen voll Sinnen- und Lebensfreude muss dieser Glaube mehr abgestoßen als angezogen haben. Vielleicht war es die allgemeine Verderbnis und Bedrückung seitens der Kirche, die diesen Glauben zu einer ernsthaften Gefahr für das etablierte Christentum werden ließ. Im Glauben an die Worte Christi ‚Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr‘ starben auf unserem Kontinent mehr Katharer als Märtyrer für andere Religionen. Zum Beispiel ließen sich – um das Jahr eintausend christlicher Zeitrechnung – im damaligen Goslar am Harz – Katharer lieber hängen als auch nur ein Huhn zu töten.

    Die Katharer wurden verdammt und aus der Kirche ausgestoßen. Den weltlichen Obrigkeiten wurde befohlen, nicht nur gegen sie, sondern auch ihre Unterstützer vorzugehen. Die Verfolger glaubten dabei wahngewiss, wie auch bei allen anderen Ketzern, zum Wohl des Seelenheils der Verfolgten zu handeln. Da sich der Glaube trotzdem in ganz Europa ausbreitete, wurden erstmals Kreuzzüge nicht zur Befreiung des Heiligen Landes – dem Geburtsland des Religionsstifters Christus – von den Ungläubigen, sondern auch zur Vernichtung von Menschen durchgeführt, die sich zu Christus bekannten.

    Alle Täter standen unter dem Schutz der Kirche. Ein zweijähriger Ablass von allen Sünden wurde zugesagt und gefallenen Kriegern die ewige Seligkeit versprochen. Die Straflosigkeit zog natürlich auch Menschen an, die sich durch Raub, Plünderung und Betrug bereichern wollten. Ein Kreuzfahrer, der wegen Schulden verhaftet worden war, musste auf Geheiß der Kirche freigelassen werden. Die Verhaftung wurde als Angriff auf die Immunität der Kreuzfahrer durch Exkommunikation der verantwortlichen Obrigkeit und durch Gottesdienstverbot für ihr ganzes Land geahndet.

    So war es kein Wunder, dass ein riesiges Kreuzfahrerheer zusammenkam, um die Stadt Bézieres von Ketzern zu befreien. Bevor ein für damalige Verhältnisse ungeheuerliches Blutbad angerichtet wurde, hatte der Bischof der Stadt vom päpstlichen Legaten die Erlaubnis erhalten, bei Auslieferung der namentlich bekannten Ketzer die Stadt zu verschonen. Katholiken und Katharer waren jedoch so freundschaftlich miteinander verbunden, dass solch ein Verrat abgelehnt wurde. Rasend vor Wut schwor der Legat, die Stadt mit Feuer und Schwert zu vernichten. Dieser Schwur ging in Erfüllung: Vom Kind in der Wiege bis zum Greis wurde nicht einer verschont. Tausende sollen allein in der Kirche Maria Magdalena umgekommen sein. Der Legat selbst gab die Zahl der Ermordeten insgesamt mit zwanzigtausend an. Andere Quellen sprechen von weit höheren Opfern.

    Diese beispielhaft dargestellte Schandtat schien die Weltsicht der Katharer zu bestätigen. Für die Kirche war die Unterdrückung der katharischen Lehren letztlich der einzige Erfolg der Inquisition. Uns ist heute jedoch klar: Dieser Erfolg hätte sich bei einer Toleranz und Nächstenliebe praktizierenden Kirche von selbst eingestellt, da diese Lehre in solch einem Umfeld nicht hätte gedeihen können.

    Aufgabe der Inquisition war die Unterdrückung jeglicher Ketzerei, auch diejenige von Einzelpersonen. Uns ist hierzu ein Dokument überliefert:

    ‚Der Zweck der Inquisition ist die Vernichtung der Ketzerei; die Ketzerei kann aber nicht vernichtet werden, wenn nicht die Ketzer vernichtet werden; die Ketzer können nicht vernichtet werden, wenn ihre Beschützer und Unterstützer nicht vernichtet werden; dies kann aber auf eine zweifache Weise geschehen, indem nämlich die Ketzer entweder zum wahren katholischen Glauben bekehrt oder dem weltlichen Arme zur leiblichen Verbrennung ausgeliefert werden.‘

    Das Selbstverständnis von Inquisitoren geht daraus hervor, dass sie die Verurteilung von Adam und Eva zum ersten Inquisitionsverfahren und ihren Gott zum ersten Inquisitor erklärten. Mit diesen eigentlich ketzerischen und gotteslästerlichen Ansichten war ein Nährboden geschaffen, auf dem die uns bekannten und eingangs erwähnten teuflischen Eigenschaften der Zweiten Menschheit in den Prozessverfahren gegen die Ketzer prächtig gediehen. Es gab die Pflicht, jeden als Ketzer Verdächtigen zu melden. Die Unterlassung wurde selbst als Ketzerei bestraft. Niemand wusste, welche Geschichten über ihn im Umlauf waren, da Zeugen nicht benannt wurden. Eltern sollten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern und Eheleute einander verraten. Die so Verdächtigten wurden eingekerkert, bis sie sich, auch unter Folter, zu ihrer Schuld bekannten. Umfangreiche Gütereinziehungen zu Gunsten des für den Strafvollzug zuständigen weltlichen Arms, des Inquisitionsapparates und der Kirche hielten das System über Jahrhunderte im Gange.

    Die verhängten Strafen zeigen Charakterzüge der Zweiten Menschheit auf: Hinsichtlich des Scheiterhaufens möchte ich nur erwähnen, dass die Kirche die Verbrennung von Ketzern als eine äußerst fromme Tat ansah. Sie gewährte daher allen, die Holz für den Scheiterhaufen herbeibrachten, einen vollkommenen Ablass. Über die Kosten einer Verbrennung liegen uns sogar detaillierte Abrechnungen für die benötigten Materialien (dickes Holz, Rebenholz, Stroh, Pfähle, Stricke) und die Henkerskosten vor. Bewahrte ein gütiges Schicksal Ketzer durch Tod vor vollständiger Strafe und Buße, wurden ihre Leichname oder Gebeine verbrannt.

    In Pervertierung des Kreuzes mussten zum Kreuztragen verurteilte Ketzer ein Stoffkreuz auf Brust und Rücken als Zeichen ihrer Sünde und Reue tragen. Sie gaben sich so öffentlich als Ketzer zu erkennen. Damit waren sie dem Gespött und der Verachtung ihrer Mitmenschen ausgesetzt. Das in diesem Zusammenhang als Schande betrachtete Kreuztragen erschwerte es zusätzlich, den Lebensunterhalt zu verdienen.

    Auch in der Verbrennung von Büchern sah man ein notwendiges Mittel zur Bewahrung des reinen und einzig wahren Glaubens. Nach der Verbrennung der waldensischen und katharischen Schriften wandte sich das Augenmerk der Inquisition der jüdischen Literatur zu. Insbesondere sah man im Talmud gotteslästerliche Anspielungen auf den christlichen Heiland und die heilige Jungfrau.

    Die Zerstörung von Häusern betraf alle Gebäude, die von Ketzern bewohnt oder betreten worden waren. Unter ihr litten naturgemäß die Familien besonders hart, zumal die Konfiskation des ketzerischen Vermögens hinzukam.

    Die in der Inquisition deutlich werdenden, ihren Untergang mit bestimmenden Charaktereigenschaften der Zweiten Menschheit zeigten sich auch im so genannten Hexer- und Hexenwahn. Auf ihn muss ich daher noch kurz eingehen. Hier nutzten Kirche und Inquisition Urängste der Menschheit vor teuflischen Mächten, um Unschuldige zu vernichten und – wie könnte es auch anders sein – zu beerben.

    Schon in ihren ersten Anfängen hat die Zweite Menschheit an die Fähigkeit Einzelner zur Magie geglaubt. Sie konnten die Geisterwelt beherrschen, die Zukunft voraussagen und naturgesetzliche Zusammenhänge beeinflussen. Vor allem Frauen, den Hexen, wurde diese Macht zugetraut und mit furchtbaren Gewohnheiten verbunden.

    Für Römer und Germanen war der Kannibalismus der Hexen etwas Selbstverständliches. So wird von einem Hexenweib berichtet, das elf Männer in Stücke riss und ins Feuer warf, um sie zu verschlingen. Auch glaubte man fest an nächtliche Versammlungen mit Tanz, Gesang und der Herstellung unheiligen Zaubergebräus. In unserem Gebiet geschah dies vor allem in der Walpurgisnacht. Versammlungsort war ausgerechnet unser heilige Berg, der Brocken. Die Hexen der Hindus flogen bei Nacht nackend zu ihren Versammlungen, um dort ebenfalls zu tanzen. Ihr Ziel waren auch Friedhöfe, wo sie Menschenfleisch verschlangen oder Tote auferweckten, um ihre Lust an ihnen zu stillen. Die hebräischen Hexen flogen mit gelöstem Haar. So konnten sie ihre Macht voll entfalten.

    In heidnischen Zeiten war die Zauberei in Europa kein strafwürdiges Vergehen. Für unterstellte Schäden musste jedoch gehaftet werden. Dagegen galt bei den Hebräern lange Zeit das Gesetz Moses:

    Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen‘. Ich werde im Folgenden darauf eingehen, welche furchtbaren Auswirkungen diese Vorstellungen in Verbindung mit Leitgedanken der Inquisition hatten, als sie sich zum Hexensabbat und weiter zu einem sich epidemisch ausbreitenden Hexenwahn entwickelten.

    Die Vorstellungen finden ihre schrecklichste Ausprägung in der Schrift Der Hexenhammer. Die beiden Autoren boten ihre ganze Gelehrsamkeit auf, um das wirkliche Vorhandensein einer Hexensekte zu beweisen sowie die Notwendigkeit endloser Folter und des Scheiterhaufens zu begründen. Die Schrift konnte sich zudem auf eine päpstliche Bevollmächtigungsbulle abstützen. Unter den unerträglichen Folterqualen entsprachen die Hexen den gleich lautenden Schulderwartungen der Inquisitoren. So wurde an die reelle Existenz des Hexenwesens über zweihundert Jahre geglaubt, und auf der Basis des Hexenhammers geahndet. Die Schulderwartungen bezogen sich hauptsächlich auf das Geständnis am Hexensabbat teilgenommen zu haben. Uns ist heute völlig unverständlich, wie z.B. das Folgende als möglich angesehen werden konnte: Die Hexe verschaffte sich eine Hostie unter dem Vorwand, am Abendmahl teilnehmen zu wollen. Diese gab sie einer Kröte zu fressen. Sie wurde anschließend verbrannt. Die Asche wurde mit dem Blut eines möglichst noch ungetauften Kindes, den gepulverten Knochen eines Gehängten sowie mit Kräutern vermischt. Mit dieser Substanz salbte sie ihre Hände, einen Stock oder Stuhl. Diese Gegenstände trugen sie dann unverzüglich zum Versammlungsort, wo der Hexensabbat gefeiert wurde.

    Hier gaben sie sich nach Fress- und Weinorgien dem Teufel mit Leib und Seele hin; sie spuckten auf das Kreuz und entboten dem christlichen Herrgott ihre Rückseite. Während die Buhlschaft mit dem Teufel den Frauen angelastet wurde, war der Buhle der Hexer wohl ein Mann.

    Neben diesen Schandtaten wurden vor allem Hexen auch für Unheil in ihrem Umfeld verantwortlich gemacht: Stürme, Hagelwetter, tödliche Blitzschläge, Heuschrecken- und Raupenplagen, Krankheiten, Tod bei Mensch und Tier, Impotenz, Unfruchtbarkeit. Bei Schandtaten an Kindern lebte heidnischer Glaube, mit christlichen Elementen verbrämt, wieder auf: Z. B. töteten und fraßen sie Kinder oder weihten noch ungetaufte dem Teufel.

    Für die Dämonologen war es eine unbestrittene Tatsache, dass mehr Frauen als Männer den Verführungskünsten des Teufels erlegen waren. Der Hauptautor des Hexenhammers dankte Gott daher auf den Knien, dass er das männliche Geschlecht vor solcher Bosheit bewahrt habe. Trotz dieser auf Frauenhass zurückgehenden Überzeugungen gehörten aber auch Männer, z. B. Homosexuelle, zu den unschuldigen Opfern dieses Massenwahns. Er dürfte etwa hundertausend Männern und vierhunderttausend Frauen das Leben gekostet haben.

    Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Inquisition auf allen Gebieten Eigenschaften der Zweiten Menschheit sichtbar macht, die ihren Untergang als unvermeidbar erscheinen lässt. Egoismus, Verblendung und Bosheit nährten Machthunger und Fanatismus. Diese konnten durch Zugang zu solchen Institutionen befriedigt werden, die die faktische Macht ausübten. Das war zu Zeiten der Inquisition auf unserem Kontinent die Kirche; danach ging die Machtausübung auf einzelne Staaten über, bis in den letzten hundert Jahren vor dem Untergang weltweit tätige Industrieunternehmen die Geschicke der Zweiten Menschheit entscheidend bestimmten. Dabei ist es den Mächtigen immer wieder gelungen, nicht nur den herrschenden Zeitgeist zur Befriedigung ihres Machthungers zu nutzen, sondern diesen Zeitgeist auch selbst zu beeinflussen.

    So konnte der Hexenhammer den allgemeinen Glauben an übernatürliche Kräfte bis zum Massenwahn steigern, und insbesondere seinen Hauptautor als mächtigen Heilsbringer darstellen. Für die Zweite Menschheit war dies ein Mann der gefährlichsten Art, ein Ehrlicher Fanatiker. Er und viele seiner Leser waren von den aufgeführten Aussagen uneigennütziger Zeugen, den Klagen der Opfer und den Geständnissen der Beschuldigten von der Vernehmung bis zum Scheiterhaufen so überzeugt, dass sie guten Gewissens, von einer heiligen Pflicht erfüllt, zu Tätern wurden.

    Spätere Generationen, einschließlich der Kirche, verurteilten die begangenen Schandtaten. Es ist der Zweiten Menschheit jedoch

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