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Wurst im Kopf
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eBook282 Seiten3 Stunden

Wurst im Kopf

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Über dieses E-Book

Kaspar, 24, Schweizer, BWL-Student, Mutter in Südfrankreich lebend, Vater schon lange tot, sitzt im Zug nach Frankfurt. Aus einer Stimmung heraus hat er die Einladung seiner Studienkollegin Ute angenommen, ein paar Tage auf dem elterlichen Bauernhof in der Rhön zu verbringen. Wider Erwarten eröffnet die Reise dem zwischen Weltverdrossenheit und Aufbegehren, jugendlichen Wünschen und scharfer Wahrnehmung pendelnden jungen Mann Welten, an die er bisher noch gar nicht herangekommen ist. Utes Tante, eine Wurstfabrikantin, gehört dazu.
Als er ein halbes Jahr später unerwartet die Wurstfabrik erbt, wird er aus seiner Umlaufbahn geworfen. Die Wurstfabrik verkaufen oder ein Wurstfabrikant sein, der sich auch vom mafiösen Konkurrenten nicht in die Flucht schlagen lässt? Kaspar wird zwischen den Polen hin und her geworfen …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Feb. 2015
ISBN9783732326945
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    Buchvorschau

    Wurst im Kopf - Jeannette König

    Kaspar sitzt im Zug nach Frankfurt.

    Kaspar kennt Frankfurt nicht. Im Gymnasium eine Projektreise nach Berlin. C’est tout. Kaspar findet Berlin cool. Im Gymnasium hat Kaspar gelernt, dass Deutschland eine repräsentative Demokratie ist und Autos produziert. Ansonsten weiss Kaspar nichts von Deutschland.

    Hitler Deutschland, klar, das weiss jeder. Deutschland interessiert Kaspar nicht. Kanada käme für Kaspar zum Auswandern in Frage. Die Landschaft, die Offenheit der Leute gefällt Kaspar. Der militärische Wiederholungskurs hat Kaspar einen Teil der Semesterferien weggefressen. Mit dem Rest etwas anfangen, ist schwierig. Lisa ist für drei Monate in Südamerika. Lukas und Andy in Rimini in den Ferien. Ute hat ihn nach Moosfeld eingeladen. Zu ihr nach Hause. Auf den elterlichen Bauernhof. Ein Biohof sei es. Das Biosphärenreservat im Dreiländereck Hessen, Bayern und Thüringen sei sehr schön und, wenn er wolle, könne sie ihm auch die ehemalige Deutsch/Deutsche Grenze zeigen. Kaspar weiss zwar nicht, was er da soll. Auf Bauernhofgroove ist er auch nicht scharf, aber er sitzt nun Mal im Zug. Lustlos und ermüdet vom ewigen Lernen mit nichts als Noten am Ende, war Utes Einladung gerade richtig gekommen. Zu realisieren, dass man, wie alle anderen, auf Zahlen konditioniert ist, die bestimmen, ob man weiter kommt, ob man besser oder schlechter ist, als der andere, verlangt eine gewisse Robustheit. Dann waren noch drei Wochen Zeitvertun dazugekommen, mit der einzigen Aufgabe in der Uniform herumzulaufen und das Maschinengewehr zu putzen. Die Nachricht, dass Lukas die Stelle beim internationalen Technologiekonzern nicht bekommen hat, war für Kaspar die Kuvertüre für den Kuchen gewesen.

    „Diese faden, sich durchmogelnden Söhne der Väter in den Vorstandsetagen machen das Rennen. Bravo! Ein System, das Leistung predigt und Falschmünzer begünstigt", denkt Kaspar. Vor dem Zugfenster das aufdringliche Sommergrün. Lukas, einer von Kaspars Wohngemeinschaftskollegen hat einen Vater. Der bringt ihm aber nicht viel. Lukas Vater arbeitet in der Entwicklungshilfe. Entwicklungs-Zusammenarbeit heisst das. Lukas Vater ist in Myanmar.

    „Die Schweiz hat eine Botschaft in Myanmar eröffnet, damit sie da ist, wenn der Aufschwung kommt, hat Lukas gesagt. „Immerhin hat das Land Gas, Staudämme und Gold.

    Lukas Vater hat für die Genehmigungen bis zur Eröffnung der Botschaft nach Thailand reisen müssen, damit er mit dem Schweizer Geld Schulen und Gesundheitszentren bauen lassen konnte. Lukas Vater hat erzählt, Leute aus Myanmar würden von Menschenhändlern in thailändische Fischfabriken geholt und eingesperrt. Lukas hat gesagt, sein Vater habe keine andere Wahl gehabt, als nach Thailand zu reisen für die Bewilligungen. Schweissglänzende, mit blutigen Striemen überzogene schwarze Rücken beugen sich im Fenster vor dem Sommergrün im Gleichtakt vor und zurück.

    „Passt irgendwie nicht zu Palmen Strand und Shrimps", denkt Kaspar.

    „Lukas Vater muss schweigen, sonst gefährdet er das Aufbauprojekt", denkt Kaspar.

    Aung San Suu Kyi hat kurz vor Kaspars Abreise die Schweiz besucht. Kaspar hat in der Zeitung gelesen, dass sie einen Schwächeanfall erlitten hat.

    „Vielleicht hat ihr das Knipsen das Blut aus dem Kopf geschossen", denkt Kaspar.

    Lukas ist Kaspars bester Freund. Lukas wird im Mai nächsten Jahres seinen Vater in Myanmar besuchen. Lukas hat Kaspar angeboten, mitzureisen. Kaspar hat offen gelassen, ob er mitgehen wird, obwohl er weiss, dass dies eher nicht der Fall sein wird. Erstens fehlt ihm das Geld und zweitens lockt ihn Asien nicht. Kaspar bewundert Menschen, die Despoten die Stirn bieten und sich auch im Gefängnis nicht brechen lassen.

    Kaspar bewundert Menschen, die sich nicht verkaufen. Bis drei Uhr nachmittags, bis vier Uhr nachmittags hatte er geschlafen, als Utes Einladung gekommen war. Beim Erwachen immer der gleiche Song. Was willst denn du? ‚Was willst denn Du?

    Unaufhörlich. Was willst denn Du?

    Auch wenn ich nicht weiss, was ich in Deutschland mit Ute auf einem Bauernhof soll, ist es besser unterwegs zu sein, als ewig im Bett zu liegen, denkt Kaspar.

    Andy, sein zweiter WG-Kollege, ist anders drauf. Andy hat zwar auch keinen Vater, er leidet aber nicht darunter.

    Molekularbiologen sind gefragt. Ob Lisa einen Vater hat, weiss Kaspar nicht. Lisa ist Andys Freundin. Sie hält sich oft in der WG auf. Sie macht das Höhere Lehramt. Vermutlich wird sich Andy bald aus der Wohngemeinschaft absetzen.

    „Der Entscheid Andy in die WG aufzunehmen und nicht Jewa, war trotzdem richtig gewesen", denkt Kaspar.

    Ute ist Kaspars beste Studienkollegin. Kaspar blickt bei Ute nicht ganz durch. Er bewundert ihre Zuversicht, kann sich aber nicht erklären, woher sie diese nimmt. Sie lernen zusammen und Kaspar kann Utes Aufzeichnungen von Vorlesungen benutzen, die er nicht besucht. Kaspar bemerkt vor ihm auf der linken Seite eine Frau in seinem Alter. Sie liest ein ungewöhnlich dickes Buch. Dazu schiebt sie den Mund nach vorne, zieht ihn zusammen, wie eine Koralle, die das Mikroplankton aus dem Wasser filtert. Der Mund zieht ihn an. Die blonden Haare und die langsamen weichen Kontraktionen im unteren Drittel des Gesichts machen ihn an.

    „Die schwarze Wanderhose, die breitschultrige Strickjacke passen nicht zum Haar, zum Mund, zum Buch", denkt Kaspar.

    „Sie fällt aus der Welt. Eine Art Göttin, denkt Kaspar. „Direkt aus Lehm und Wasser entstanden.

    Umi hat Kaspar auf der Nordindienreise von Göttern erzählt, die jederzeit aus einem Felsen, aus verwittertem Rhododendronholz, einem zerfallenen Haus, aus Wasserpflanzen geboren werden können. Verstanden hat Kaspar nichts. Er hat sich bei jedem Tempel schmücken lassen und eine Münze in die ausgestreckte bronzene Hand gelegt.

    Kaspar erinnert sich an das blitzschnelle Schliessen und Öffnen der Hände, die die Münzen zum Verschwinden gebracht haben. Kaspar kennt den Trick. Er war im Kinderzirkus Zauberer gewesen. Ein junger Mann, für Kaspar bisher unsichtbar, steht vom Fensterplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Frau auf. Ungekämmt, zerknitterte Hosen. Der Mann beugt sich über die Frau, küsst ihr Haar und geht wortlos in Fahrtrichtung davon. Der Alte, der neben der Frau sitzt, fragt, wo sie sich befinden. Ohne seine Position zu verändern, ohne seinen Kopf zu drehen, ohne eine Regung im Gesicht, hat er gefragt, wo sie sich befinden. Die Frau beugt ihren Oberkörper zum Alten hin, als schirmte sie ihn vor einem Luftzug ab. Mit der Hand berührt sie den Ärmel des Wollmantels.

    „Er holt dir ein Brot", sagt die junge Frau.

    Der alte Mann will etwas aus der Brustinnentasche seines Mantels ziehen. Die Frau schiebt sich noch enger an den alten Mann heran, hält seinen Arm fest, hindert ihn den Geldbeutel aus der Innentasche zu ziehen.

    Er ist schon gegangen, sagt die junge Frau „Er braucht Geld, sagt der alte Mann.

    „Er hat Geld", sagt der Korallenmund.

    Der alte Mann lässt von der Mantelinnentasche ab. Versinkt wieder in sich hinein.

    „Eine Mumie, denkt Kaspar. „Ein Flüchtling, der sein bestes und wärmstes Stück angezogen hat.

    Das metallene Plättchen des Reissverschlusses der Strickjacke unter dem Mantel blitzt im Licht.

    „Berlin ist noch weit", sagt die Mumie.

    Es ist August, nicht sommerlich warm, aber keinesfalls kühl. „Der Alte muss schwitzen, denkt Kaspar. „Er wird feucht riechen, nach vermodernden Blättern und nach Pilzen, denkt Kaspar.

    Kaspar erinnert sich an den Geruch des Grossvaters, der ihn zitternd zu den Ästen des Kirschbaumes hochgehalten hat.

    Kaspar mag Kirschen nicht. Sie riechen nach Tod. Die Lindenblüten, die Erinnerung an den Geruch der Linde vor Grossvaters Haus, liebt er. Über seinen stark ausgeprägten Geruchssinn redet Kaspar nicht. Blühende Orangenbäume, die gleichzeitig Früchte tragen sind das Grösste, was Kaspar bisher erinnert. Er würde wieder nach Spanien reisen. Wegen diesem Geruch. Grasse hingegen war für Kaspar nicht erlebbar gewesen. Fläschchen, Holzböden, Rosen, Veilchen, Maiglöckchen. Kaspars Riechschleimhaut hatte ungeordnet Moleküle abgegeben. An die Erregung beim Gemisch aus Staub, Schimmel und Mimosen im Hotel in Nizza mit den schweren weinroten Vorhängen, erinnert sich Kaspar intensiv.

    Unter Kollegen geben sie sich Rasierwasser-, Deodorant- und Parfumtipps weiter. Darüber hinaus sind Gerüche kein Thema. Süskinds ‚Parfum‘ hat Kaspar nicht gelesen. Den Lindengeruch liebt Kaspar, weil er ihn unmittelbar ritterlich stimmt. Nicht Löwenherz ist er, der gegen seinen Vater siegt. Auch nicht Eisenherz, der nach der Vertreibung seines Vaters an König Artus Hof kommt und alle Gegner besiegt. Er ist Ritter Tiuri, der zwischen drei verfeindeten Reichen allein seiner eigenen Stimme folgt. Kaspars Mutter hat ihm Rittergeschichten vorgelesen. Später hat Kaspar in die Science Fiction Szene gewechselt. Kaspar ist noch nie nach seinen Geruchswahrnehmungen gefragt worden. Kurz hat Kaspar mit Önologie geliebäugelt. Das war vor der Zeit gewesen, als sich Mutter mit dem neuen Mann zusammen getan hat, der im Süden Frankreichs ein Weingut betreibt. Das Weingut des neuen Mannes seiner Mutter interessiert Kaspar nicht. Kaspar findet es gut, dass seine Mutter noch einmal ein neues Leben begonnen hat.

    „Wie ist das für dich, wenn deine Mutter jetzt in Frankreich lebt?", hat Lukas gesagt.

    „Wie soll das sein?", hat Kaspar gesagt.

    Der Freund der Korallenmundfrau kommt zurück. Mit einem Käsesandwich und einem Kaffee. Er stellt die Verpflegung auf das Fenstertischchen, setzt sich an den Fensterplatz und verschwindet aus Kaspars Sicht.

    „Blinde können besser riechen als Sehende", denkt Kaspar.

    „Ob der Alte sich selbst riecht?", denkt Kaspar.

    Kaspar stellt sich vor, wie die Wolke Eau de Cologne, über dem Spannteppich schwebend, dem Alten im langen Korridor des Hotels auf dem Weg zum Frühstück zugesetzt haben muss. Der Alte beugt sich zum Haar des Korallenmundes. Die Frau bricht das Sandwich entzwei, legt die eine Hälfte in die Hand des alten Mannes, die andere Hälfte auf das Tischchen.

    „Käse", sagt der Korallenmund.

    Der alte Mann isst. Die Kaubewegungen sind langsam, mahlend, als hätte er keine Zähne.

    „Der massige Körper, die groben Hände passen nicht zu einem Blinden", denkt Kaspar.

    Die Korallenmundfrau nimmt den Kaffee, legt ihre Hände um den Becher, als müsste sie sie wärmen.

    „Keine fröhliche Reisegesellschaft", denkt Kaspar.

    „Die Frau könnte die Enkelin des Alten sein. Ihn an einen Ort begleiten, den er nochmals sehen will", denkt Kaspar.

    Irgendwo hat Kaspar gelesen, dass alte Menschen gegen das Ende hin oft den Wunsch haben Orte ihrer Kindheit aufzusuchen. Über die Rolle des Freundes des Korallenmundes ist sich Kaspar nicht schlüssig. Er spricht nicht mit dem Alten, verständigt sich mit dem Korallenmund wortlos, ist da, wenn er aufsteht und ist nicht da, wenn er sich gegenüber dem Alten und dem Korallenmund hinsetzt. Kaspars Grossvater ist da geboren, wo er gestorben ist.

    „Er ist immer an demselben Ort gewesen", denkt Kaspar.

    Mutter hat ihm einmal gezeigt, wo sie Kind gewesen war. Kaspar mag sich an die Bushaltestelle unter der Brücke erinnern. In einer halben Stunde hatten sie das Dorf fertig besichtigt. Sie hatten nicht mehr gewusst, was sie machen sollten und haben unter der Brücke auf den Bus gewartet, der sie zum nächsten Bahnhof gefahren hat. Kaspar erinnert sich an die bröckelnden Mauern um das Anwesen des Käsehändlers, an den Schiesstand, in dem Mutter als Kind Munition ausgegeben und dafür Taschengeld erhalten hat und an die leere Wiese auf der des schwarzen Schneiders Haus gestanden hat, vor dem sich die Kinder gefürchtet hatten. Kaspar erinnert sich, wie Mutter von ihrer Enttäuschung erzählt hat, weil sie nichts gesehen hat, als sie sich einmal ganz allein gewagt hatte durch ein Fenster zu spähen.

    „Ein blindes Fenster", denkt Kaspar.

    Kaspars Mutter hat aufgehört zu arbeiten und ist zu Olivier nach Südfrankreich gezogen.

    Kaspars Mutter hat ihm Fotos einer Skulptur geschickt.

    Ausgestopfte Vögel mit riesigen Rohrschnäbeln auf zerfressenen Felsformationen an einem Fluss. Kaspar kann nichts damit anfangen, aber er findet es gut, wenn seine Mutter macht, was ihr gefällt. Wenn er nichts anderes vorhat, wird er vielleicht über Weihnachten in die Provence fahren, was eher unwahrscheinlich ist, weil er sich auf das Auslandsemester vorbereiten muss. Manchmal wünscht sich Kaspar eine grosse Familie. Alle sitzen an Weihnachten zusammen, reden, lärmen, es ist warm, Anisgeruch, es wird Mensch ärgere dich nicht gespielt. Gleichzeitig vermisst Kaspar nichts. In den Formularen soll er bei Beruf des Vaters Schriftsteller schreiben, hat ihm die Mutter gesagt. Das hat er bis vor kurzem auch getan. In Zukunft würde er Unternehmer hinschreiben.

    „Unternehmer ist kein geschützter Titel", denkt Kaspar.

    Kaspar ist am Lernen zu liefern, was zählt.

    Vielleicht wird Kaspar doch wieder Schriftsteller in die Vaterrubrik schreiben.

    „Man muss sich unterscheiden, denkt Kaspar. „Whitening machen unterdessen alle

    Ein Schriftsteller als Vater könnte der zappelnde Köder für den Fang der HR-Frau sein. Im HR sitzen meistens Frauen, die manchmal eine Affinität zu Schriftsteller in der Rubrik Vater haben.

    „Warum sollte ich nicht die übrig gebliebene Bezeichnung zu meinen Gunsten nutzen", denkt Kaspar.

    Der Alte hat das Käsebrot längst fertig zermahlen. Die zweite Hälfte liegt noch immer auf dem Fenstertischchen. Kaspar stellt sich den Korallenmund mit Zahnspange vor. Alle haben Zahnspangen getragen. Kaspar hat auch eine Zahnspange getragen. Unregelmässige Zähne benachteiligen. Kaspar hat gelesen, dass festgestellt worden ist, dass Zähne auch bei Erwachsenen korrigiert werden können. Die Zahnspange war bei Kaspar medizinisch indiziert gewesen. Geburtsfehler. Ein Zahn zu wenig. Für das Implantat musste die Lücke offen gehalten werden. Der Zahnarzt hat beim Implantat gepfuscht oder die Herstellerfirma, das weiss Kaspar nicht. Die Firma sei nur gegenüber dem Zahnarzt verpflichtet, hatte ihn die Rechtsabteilung des führenden Implantat Herstellers wissen lassen. Mäni hat sich Silikon in die Brüste implantieren lassen. Medizinisch indiziert. Von der Krankenkasse bezahlt. Kaspar schaudert. Seine Hand zuckt, als er daran denkt, wie er über Mänis Silikonbrüste streichen könnte.

    „Geschmacksache", denkt Kaspar.

    Die Hand nicht wegziehen. Die Stimme des Biologielehrers zittert im Fensterglas.

    Jeder musste die Hand ausstrecken. Wer sie zurückzog, wenn der Biologielehrer den Frosch auf den Handteller setzte, musste eine Abhandlung über das Apartheitsregime des Menschen gegenüber den Kaltblütlern schreiben. Kaspar kann sich nicht erinnern, was er geschrieben hat.

    „Vielleicht habe ich den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgeführt, denkt Kaspar. „Wäre möglich, denkt Kaspar.

    Als Kind hat Kaspar Stammbäume gezeichnet. Die Mutter hat ihm vor ihrem Umzug die Zeichnungen übergeben.

    Kaspar guckt zum Korallenmund. Sie hat die Augen geschlossen.

    „Vielleicht saugt sie Gedanken ab", denkt Kaspar.

    Kaspar steckt sich die Kopfhörer ins Ohr.

    „Mickrige, einseitig gewachsene mütterliche Stammbäume", denkt Kaspar.

    Von Doro weiss Kaspar, dass die Grossmutter väterlicherseits aus einem Kanzleihaushalt gekommen ist und Wert darauf gelegt hatte, dass sie im Schloss des Kreisstädtchens aufgewachsen war. Kaspar hat sich damals nicht lange bei den mickrigen Stammbäumen aufgehalten. Er hat sich welche zusammengestellt, die etwas hergaben. Ein Insektenforscher als Urgrossvater, ein Luftfahrtingenieur als Grossvater, eine Grossmutter als Tochter des Eisenbahnbarons, ein Grossvater als Jazzmusiker, eine Grossmutter aus den Bergen, die Schirennen fuhr, eine Urgrossmutter aus Russland, ein Urgrossvater, der nach Amerika verkauft worden ist. Die Eltern hatte er als Vater und Mutter eingetragen. Nichts weiter. Ob er sich selbst eingezeichnet hatte, erinnert sich Kaspar nicht.

    ‚Hoshi comes in a other world‘ in den Ohren. Ihr, die zukünftige Elite! Kaspar schwitzt. Der Gymnasialrektor hatte sie bei jeder Rede mit ‚ihr die zukünftige Elite‘ angesprochen. Kaspar dreht um ein Lied zurück. ‚Hoshi comes in a other world‘. Der Korallenmund filtert wieder unermüdlich Wörter aus den Seiten des Wälzers. Der alte Mann sitzt neben ihr.

    „Wie ein gesunkenes Schiff, das auf seine Bergung wartet, denkt Kaspar. „Vielleicht auf sein weiteres Sinken, auf den Grund, wo sich Muscheln und Algen daran setzen werden, denkt Kaspar.

    Kaspar riecht den Käse der Sandwichhälfte, die auf dem Fenstertischchen liegt. Er verspürt Hunger.

    „Der Korallenmund macht nicht den Eindruck, als würde sie in der Schlange vor der Tür der Zukunft bald an die Reihe kommen", denkt Kaspar.

    Noch zweieinhalb Stunden bis Frankfurt. In Frankfurt wird er Doro treffen. Seit Doro nach Deutschland umgezogen ist, hat er sie nicht mehr gesehen. Er hat Doro, auch als sie noch in der Schweiz gewohnt hat, selten gesehen. Kaspar mag Doro.

    „Ich zeige dir Frankfurt", hat Doro gesagt.

    „Frankfurt ist in der Welt dabei", denkt Kaspar.

    Doro hat ihm als Kind besondere Geschenke gemacht. Senf aus Dijon mitgebracht, eine Musikdose mit drehenden Tännlein und Engelchen aus Polen. Eine Pelzmütze aus Moskau, violette Turnschuhe aus Mailand, Apfelstrudel aus Sent, eine silberne chinesische Schale aus dem Familienbesitz, ursprünglich ein Geschenk von der Frau Botschafterin, die laut Doro nur dummes Zeug daher geredet hat, die man aber trotzdem habe empfangen müssen. Kaspar hat damals die Schale Vera, seiner Schulfreundin geschenkt. Vera war seine Freundin gewesen, weil sie so gross gewesen war und weil sie so anders gesprochen und weil sie gut gezeichnet hatte. Vera war nicht ins Gymnasium gekommen. Sie hatte nicht rechnen können und sie hatte bei den Diktaten so viele Fehler, dass jeder beim Abholen seines Blattes gewusst hatte, dass das rot Übersäte Vera gehörte. Vera soll nach einem Praktikum auf einer Farm in Island geblieben sein. Manchmal denkt Kaspar auch, er könnte auswandern. Kanada vielleicht. Von Mutter weiss Kaspar, dass Doro bis zu ihrer Heirat mit Jacques, dem französischen Lampenmacher, nie Geld gehabt und trotzdem gut gelebt hat. Doro hat Kaspar angeboten, er könne bei ihnen übernachten. Kaspar hat dankend abgelehnt. Er will den Landluft Trip nicht unnötig verlängern. Um 20.00 Uhr wird ihn Ute am Bahnhof in Moosfeld abholen. Ute beeindruckt ihn. Sie weiss genau, was sie will und gleichzeitig erscheint sie rätselhaft.

    „Es kann nicht sein, dass eine Frau, wie Ute, intelligent und mit power regelmässig in den Semesterferien nach Hause fährt um in der Landwirtschaft mitzuarbeiten, denkt Kaspar. „Interesse an Männern hat sie offensichtlich auch nicht und trotzdem lädt sie mich ein, denkt Kaspar.

    Kaspar weiss, dass Utes Mutter irgendwie behindert ist. Eine Nervenkrankheit.

    „Eine Mutter mit einer Nervenkrankheit ist schlimm", denkt Kaspar.

    Deswegen kein eigenes Leben zu führen, findet Kaspar unangebracht.

    „Sie erwartet nichts von mir und trotzdem lädt sie mich ein.

    Das gibt’s nicht", denkt Kaspar.

    Weil Ute nichts von Kaspar will, mag er sie. Er kann sich mit ihr über alles unterhalten. Er kann auf sie zählen. Deshalb müsste er aber nicht über sechs Stunden Zug fahren. Wenn er nur schon an den Landgeruch denkt, schüttet sein Körper Histamin aus. Die zwei Wochen Landdienst während der Gymnasialzeit waren Horror gewesen. Die wortlosen Tischszenen, der immer gleiche Tagesablauf, der erdige Matsch, vermischt mit Mist und Gülle, die Kinder, die versucht hatten, ihn mit dem Traktor zu überfahren, weil er nicht gewusst hat, wie die Metallsauger richtig am Euter angesetzt werden. Kaspar will sich nicht daran erinnern.

    „Der Käse, der Käse war gut gewesen", denkt Kaspar.

    Der Korallenmund saugt Kaffee aus dem Becher, in kleinen Schlucken. Er hat sich einen kornblumenblauen Schal über die Schultern gelegt.

    „Der Kaffee, der sie wohl hat wärmen sollen, muss sich abgekühlt haben denkt Kaspar. „Der Freund der jungen Frau gehört nicht richtig dazu, denkt Kaspar.

    Kaspar riecht solche Sachen.

    „Die Frau und den Alten verbindet ein Geheimnis denkt Kaspar. „Obwohl sie Deutsch sprechen, müssen sie aus einer warmen Gegend kommen, denkt Kaspar. „Vitamin B haben sie keines, aber ihre Schwere hat etwas Behauptendes", denkt Kaspar.

    Ein bisschen bedauert Kaspar, nicht zu ihnen zu gehören. Er steht auf, zieht sein Hemd gerade, geht am filternden Korallenmund vorbei ohne feststellen zu können, ob die Frau sein Vorbeigehen registriert. Drei Wagen muss er durchqueren, um an die Bar im Bordrestaurant zu kommen. Kaspar kauft sich einen

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