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Lara's Theme
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eBook452 Seiten6 Stunden

Lara's Theme

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Über dieses E-Book

Ein Lastwagen mit Plutonium ist verschwunden. Mehr zufällig als absichtlich wird der russische Junge, Mikhail Dobrin, darin verwickelt, dessen Familie, die vor mehr als vier Generationen nach Rußland ausgewandert ist, kurz vor ihrer Rückkehr nach Deutschland steht.
Mikhail wird vorausgeschickt und soll in Deutschland ein Internat besuchen, bis die Familie folgt. Doch dazu kommt es nicht mehr. Sie werden ein versehentliches Opfer bei der Jagd nach dem gestohlenen Plutonium. Er bleibt in dem Internat, einsam und allein, denn niemand will mit ihm etwas zu tun haben, bis auf Lara, ein Mädchen aus seiner Klasse, das buchstäblich in ihn hineinstolpert.
Ohne daß Mikhail weiß, um wen es sich handelt, nimmt sich einer der Urheber dieses dreisten Diebstahls, der als reicher Deutsch-Russe in Deutschland lebt, seiner an. Doch dann wird auch der Junge in die Affäre um das gestohlene Plutonium verwickelt und deckt nach und nach die Umstände dieses Verbrechens auf. Dabei läßt er sich auf ein gefährliches Spiel ein.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Juni 2015
ISBN9783738030846
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    Buchvorschau

    Lara's Theme - Detlef Wolf

    Das Buch

    Ein Lastwagen mit Plutonium ist verschwunden. Mehr zufällig als absichtlich wird der russische Junge, Mikhail Dobrin, darin verwickelt, dessen Familie, die vor mehr als vier Generationen nach Rußland ausgewandert ist, kurz vor ihrer Rückkehr nach Deutschland steht.

    Mikhail wird vorausgeschickt und soll in Deutschland ein Internat besuchen, bis die Familie folgt. Doch dazu kommt es nicht mehr. Sie werden ein versehentliches Opfer bei der Jagd nach dem gestohlenen Plutonium. Er bleibt in dem Internat, einsam und allein, denn niemand will mit ihm etwas zu tun haben, bis auf Lara, ein Mädchen aus seiner Klasse, das buchstäblich in ihn hineinstolpert.

    Ohne daß Mikhail weiß, um wen es sich handelt, nimmt sich einer der Urheber dieses dreisten Diebstahls, der als reicher Deutsch-Russe in Deutschland lebt, seiner an. Doch dann wird auch der Junge in die Affäre um das gestohlene Plutonium verwickelt und deckt nach und nach die Umstände dieses Verbrechens auf. Dabei läßt er sich auf ein gefährliches Spiel ein.

    Ein Wort zuvor

    Geneigter Leser, verehrte Leserin,

    wie immer, ist diese Geschichte frei erfunden. Es gibt keine Zusammenhänge mit lebenden oder verstorbenen Personen. Es sollte sie zumindest nicht geben. Und wenn doch, dann ist das ein Zufall. Garantiert. Auf jeden Fall ist es nicht beabsichtigt. Wenn Sie sich also wiedererkennen, dann mögen Sie sich darüber freuen, wenn Sie in der Geschichte gut weggekommen sind oder meine Bitte um Entschuldigung annehmen, wenn Sie meinen, als ein mieser Typ dargestellt worden zu sein, der Sie in Wirklichkeit gar nicht sind. Ich kann das nämlich nicht beurteilen, ich kenne Sie ja gar nicht. Auch nicht, wenn ich Sie zufällig mit Ihrem Namen angesprochen habe. Denn auch den habe ich mir bloß ausgedacht.

    So ähnlich ist das mit den Örtlichkeiten. Manche gibt es tatsächlich, manche habe ich mir auch zurechtgebastelt. Und wenn das eine oder andere nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, dann sehen Sie es mir bitte nach. Ich fand eben, daß es, so wie es beschrieben wurde, ganz gut zu meiner Geschichte paßt.

    So, das mußte vorab vielleicht mal gesagt werden.

    Und jetzt viel Spaß beim Lesen (hoffe ich zumindest).

    Raesfeld-Erle, im Dezember 2014

    Detlef Wolf

    Prolog

    Mikhail starrte aus dem Fenster. Schier endlose Birkenwälder zogen draußen vorbei. Die Sonne stand bereits tief im Westen. Einer dieser traumhaft schönen Sommertage, wie man sie so oft in Sibirien erleben kann, ging langsam zu Ende. Die Sonnenstrahlen brachen sich in den Baumkronen und tauchten das Eisenbahnabteil, in dem er saß, in ein seltsames Licht, das der verrückt gewordenen Lichtorgel einer Diskothek zu entstammen schien. Was keineswegs zu der Melodie paßte, die ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, die aber sehr wohl im Einklang mit dem stand, was es draußen zu sehen gab, wenn man den Lichtorgeleffekt im Inneren ausblendete.

    Leise summte er die Melodie mit und war versucht, nach seiner Klarinette zu greifen, um sie darauf zu spielen. ‚Lara’s Theme‘, die Titelmelodie aus dem Film ‚Doktor Schiwago‘. Doch dann fiel ihm ein, daß sein Instrument tief unten in einem der Koffer vergraben war, die er dabei hatte. Seufzend lehnte er sich in die Polster seines Sitzes zurück. Die Melodie in seinem Kopf verklang leise und machte wieder dem eintönigen Rattern der eisernen Räder des Zuges auf den Gleisen Platz.

    Ohne sich dessen bewußt zu werden, begann er zu zählen. Das heißt, zählen konnte man es nicht einmal nennen. Er nahm die Zahl der Bäume zwischen den einzelnen Masten der Oberleitung in sich auf, als ob er sie gezählt hätte; zwanzig waren es wohl. Bei einem geschätzten Abstand der Masten von etwa fünfzig Metern, ergaben sich daraus vierhundert Bäume pro Kilometer. Wenn man bedachte, daß der Zug seit ungefähr zwanzig Minuten mit einer Geschwindigkeit von vielleicht einhundertundzwanzig Kilometern pro Stunde durch diesen Wald fuhr und das wohl auch noch weitere zwanzig Minuten tun würde, bevor der Zug in die Nähe der nächsten Siedlung kam, würde er um einige mehr als dreißigtausend Bäume passiert haben. Auf jeder Seite des Bahndamms, an dem sich der Wald fünf, sechs oder sieben Kilometer weit ausbreiten würde. Was ihn dann einhundertzwanzig bis knapp einhundertsiebzig Millionen Bäume mächtig machte. Bewertete man nun den Wert eines jeden Baumes mit zehn Rubel, machte das Eins-komma-zwei bis Eins-komma-sieben Milliarden Rubel oder, ausgedrückt in der neuen Währung, an die er sich von nun an würde gewöhnen müssen, dreißig bis zweiundvierzigeinhalb Millionen Euro.

    Das alles war ihm in weniger als drei Sekunden durch den Kopf gegangen, und er lächelte bei dem Gedanken, daß ihm dieser Wald mit all diesen Millionen Bäumen darin gehört haben mochte und er ihn, zum Auffüllen der Reisekasse, verkauft haben würde. Irgendetwas zwischen dreißig und vierzig Millionen Euro als Polster für den Neustart in Europa. Nicht schlecht. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

    Dafür, daß er mutterseelenallein in ein ihm völlig fremdes Land reiste, fühlte er sich erstaunlich gut. Wahrscheinlich war es die Abenteuerlust, die ihm mit seinen knapp sechzehn Jahren innewohnte. Obwohl es ihm alles andere als leicht gefallen war, sich von seinen Freunden und Klassenkameraden zu verabschieden. Wohl wissend, daß dies nicht nur ein Abschied auf Zeit war. Nein, es war ein Abschied für immer. Vermutlich jedenfalls, denn er wußte nicht, ob er jemals wieder in die Stadt in Westsibirien, in der er geboren war, zurückkehren würde.

    Seine Eltern hatten sich entschlossen, nach mehr als einhundertundfünfzig Jahren, die die ehemals deutsche Familie jetzt in Rußland wohnte, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Das Leben dort war einfach besser. Vermuteten sie jedenfalls.

    An den Verhältnissen in seiner Heimat gemessen, ging es der Familie nicht schlecht. Man mochte sie sogar als wohlhabend bezeichnen. Ob die Verhältnisse in Deutschland so waren, wie sie sich das im fernen Sibirien ausmalten, würde sich zeigen. Mikhail hatte keine Vorstellung davon, was ihn dort erwartete und wie es weitergehen würde.

    Er kannte niemanden in Deutschland. Wenn es dort überhaupt Verwandte seiner Familie gab, hatte er nie von ihnen gehört, nie jemanden von ihnen getroffen, und er wußte auch nicht, wo einer von ihnen wohnen konnte. Er war völlig auf sich allein gestellt.

    Immerhin war er nicht mittellos. Seine Eltern hatten die Ausreise nach Deutschland lange geplant, ein kleines Reihenhaus gekauft und ein Bankkonto eingerichtet, auf dem sich bereits ein ansehnlicher Betrag befand. Ihn selbst hatten sie in einem Internat angemeldet, in dem er leben und zur Schule gehen sollte, bis die Familie nachkommen konnte. Wann das sein würde, wußte er nicht so genau. Es hing davon ab, wann der Vater den passenden Zeitpunkt für gekommen hielt. Irgendwann im nächsten halben Jahr sollte es sein.

    Er, Mikhail, sollte darauf jedoch nicht warten müssen. Im kommenden Schuljahr würde er in die erste Oberstufenklasse kommen, und es wäre sicherlich gut, wenn er diese gleich in der Schule besuchen könnte, auf der er auch das Abitur ablegen würde. Also hatten sich seine Eltern entschieden, ihn vorauszuschicken und in einem Internat anzumelden.

    Und nun war es eben soweit. Das Schuljahr in seiner alten Schule war zu Ende gegangen, und er war unterwegs nach Deutschland.

    ***

    Die Räder des Zuges schlugen unaufhörlich, wenn sie die Spalten überfuhren, an denen die Schienenstücke aneinanderstießen. ‚Klack-klack‘, ‚klack-klack‘, ‚klack-klack‘. Längst hätten Gleise und Gleisbett der Transsibirischen Eisenbahn erneuert werden müssen. Angekündigt war es seit Jahren, Dazu gekommen war es bisher nicht. Also mußten die Züge darauf ihr Tempo drosseln. Hundertzwanzig Kilometer in der Stunde war das Äußerste. Mehr war nicht drin, wollte man nicht riskieren, daß die Wagen entgleisten. In der Regel ging es langsamer voran. Um Viertel nach drei am Nachmittag hatte er den Zug in Tyumen bestiegen. Jetzt wurde es langsam dunkel; einundzwanzig Uhr mochte es sein, vielleicht etwas später, und noch immer waren sie nicht in Ekaterinburg angekommen. Nizhny Novgorod, das frühere Gorki, die verbotene Stadt, Ort der Verbannung des Physikers Andrej Sakharov, morgen, kurz vor der Abendbrotzeit und Moskau-Belorusskaja in der darauffolgenden Nacht gegen zwei Uhr.

    ‚Klack-klack‘, ‚klack-klack‘, ‚klack-klack‘, weiter und weiter und weiter würde es gehen, bis die Wagen des Zuges in zwei Tagen, von jetzt an gerechnet, im weißrussischen Brest neue Drehgestelle erhalten würden, damit sie auf der schmäleren Spur der europäischen Gleise weiterfahren konnten. Von Brest nach Terespol, Lukov, Warszawa, Poznan, Rzepin, bis zur Ankunft in Berlin-Lichtenberg am Samstag Morgen, nach mehr als dreieinhalbtägiger Fahrt. „Klack-klack, „klack-klack, „klack-klack und mit jedem „klack-klack versank das alte Leben tiefer hinter dem Horizont.

    ***

    Tyumen, die reiche Stadt in West-Sibirien, Zentrum der russischen Petroliumindustrie, wo er geboren war und bis jetzt gelebt hatte, in einer schönen Wohnung unten am Fluß Tura, der in jedem der eiskalten Winter zugefroren war und im Sommer, wenn es heiß war, noch bis vor einigen Jahren so erbärmlich gestunken hatte.

    Jetzt tat er das nicht mehr. Viel war getan worden, den Fluß sauber zu machen, ebenso wie die Stadt selbst, mit Bäumen an den Straßenseiten der Bürgersteige und vor den endlos langen, endlos hohen, endlos grauen und endlos häßlichen Mietskasernen, um diese wenigstens ein bißchen freundlicher aussehen zu lassen. Blumenrabatten zwischen den Fahrbahnen der großen Hauptstraßen der Stadt mit ihren zwei oder drei Fahrspuren in beiden Richtungen, die den Autofahrern den Verkehrsstau, der sich am frühen Morgen bildete und erst am Abend wieder auflöste, erträglicher machen sollten. Dieser Stau und die Vielzahl der Baukräne im Zentrum, in dem immerfort neue und prächtigere Gebäude entstanden, waren die Zeichen des zunehmenden Wohlstands der Stadt mit ihren knapp sechshunderttausend Einwohnern, der auch die eisigsten Winter mit Temperaturen von minus dreißig Grad nichts von ihrer quirligen Lebendigkeit nehmen konnte.

    Wer Beschaulichkeit suchte, mußte hinaus aus der Stadt. Nach Osten, zum Beispiel, ein Stück auf der Hauptstraße Richtung Omsk, nach Bogandynski, dem kleinen Ort, in dem die Großeltern gewohnt hatten. In einem Holzhaus mit Holzschindeln auf dem Dach, in dem ein Ofen in jedem Zimmer mit Holz zu stochen war, um es im Winter warm und behaglich zu haben.

    Doch auch hier hatte die Beschaulichkeit ihre Grenzen. Ruhig war es nicht, denn vor dem Dorf lärmten die Lastwagen über die Straße in Richtung Omsk oder von dort, nach Tyumen hinein, und auf der gegenüberliegenden Seite, hinter den sumpfigen Wiesen, auf deren trockengelegten Stücken reiche Menschen aus Tyumen ihre Datschas gebaut hatten, verliefen die Gleise der Transsibirischen Eisenbahn, über die unaufhörlich die Züge ratterten. Endlos lange Güterzüge zumeist, aber auch die bekannten Expreßzüge, die vom Jaroslavler Bahnhof in Moskau abfuhren mit dem Ziel Vladivostok oder Beijing oder in der umgekehrten Richtung unterwegs waren.

    Wie oft hatte Mikhail an diesem Bahndamm, jenseits der sumpfigen Wiesen gestanden? Immer, wenn sie die Großeltern besucht hatten, am Wochenende oder an den Feiertagen, zusammen mit seiner kleinen Schwester, die ihn immer begleiten wollte und die dann ganz still neben ihm stand und seine Hand festhielt, ein wenig furchtsam, weil die vorbeifahrenden Züge so schrecklich laut waren.

    Das würde es nie mehr geben, weil es das gemütliche, heimelige Holzhaus in Bogandynski nicht mehr gab. Ein schreckliches Feuer hatte es im Winter dahingerafft und mit ihm die Großeltern, die darin zu Tode gekommen waren.

    Wenige Wochen später lagen die weinroten Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland neben den purpurfarbenen der russischen Föderation auf dem Küchentisch. Pavel Ruslanowitsch Dobrin, Ur-ur-urenkel des Heinrich-Joseph Düber aus Langendreer bei Bochum, der seinem Land vor mehr als einhundertundfünfzig Jahren den Rücken gekehrt hatte, wollte nun den umgekehrten Weg einschlagen.

    ***

    Längst war es Nacht geworden. Der Zug hatte die Stadt Perwouralsk am westlichen Ende des Ural passiert und war nun unterwegs nach Kungur und Perm. In dem dunklen Abteil lag Mikhail in seiner Koje und lauschte dem Schlagen der Räder auf den Schienen. Er konnte nicht schlafen.

    Wieder erklang ‚Lara’s Theme‘ in seinem Kopf: ‚Somewhere my Love … ‘

    1

    Nikolaj Petrovich Visnijakov saß auf einer der Bänke, die im Park am Weg rund um den kleinen See aufgestellt waren und blinzelte in die Sonne. Er trug einen dicken Wintermantel und einen Hut, denn es war kalt an diesem sonnigen Herbsttag. Der Winter schien ungewöhnlich früh zu kommen in diesem Jahr.

    Visnijakov mochte Anfang sechzig sein, wenn auch das schlohweiße Haar, das unter der Krempe seines Hutes hervorschaute, ihn älter aussehen ließ, und er konnte die Kälte mit den Jahren immer schlechter ertragen. Früher hatten ihm die kalten, sibirischen Winter mit ihren arktischen Temperaturen von mehr als minus dreißig Grad nichts ausgemacht, aber seit ein paar Jahren machte ihm bereits das vergleichsweise milde, europäische Winterklima zu schaffen.

    Gedankenverloren erhob er sich von der Parkbank und schlenderte gemächlich zum Eingang des Parks. Dort wartete sein Chauffeur, der die rechte, hintere Tür der gewaltigen, nachtblau lackierten Maybach-Limousine aufhielt. Ein wenig mühsam glitt Visnijakov in die weichen Polster der Rückbank und überließ es dem Chauffeur, die Tür zu schließen.

    „Nach Hause?" fragte der junge Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Er war von kräftiger Statur, hatte einen rot-braunen Bürstenhaarschnitt und ein grobes Bauerngesicht.

    „Da", antwortete Visnijakov knapp in russischer Sprache, denn der Chauffeur war, ebenso wie er selbst, russischer Abstammung.

    Visnijakov lehnte sich zurück, öffnete die Knöpfe seines Mantels und zog den eleganten, weißen Schal, den er um den Hals gewickelt hatte, heraus. Den Hut behielt er auf. Während der Fahrt hielt er die Augen geschlossen. Sie dauerte eine gute Viertelstunde, dann bog der Wagen von der Straße ab auf ein parkähnliches Grundstück, das von einer mehr als drei Meter hohen Mauer begrenzt wurde. Über eine etwa einhundertfünfzig Meter lange Allee gelangte man zum Wohnhaus, das sich mehr wie ein kleines Schloß ausnahm. Der Wagen hielt vor einer großen Freitreppe. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Schlag auf.

    Visnijakov stieg aus, nickte dem Mann kurz zu und stieg langsam die Stufen zu der gewaltigen, zweiflügligen Eingangstür hinauf. Die Tür stand offen, und die Haushälterin, ganz traditionell in ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze gekleidet, eine elegante Erscheinung von etwa Mitte vierzig, erwartete ihn. Er ging an ihr vorbei in die Eingangshalle. Sie schloß die Tür hinter ihm.

    Drinnen nahm sie ihm Mantel, Schal und Hut ab und brachte alles zur Garderobe. Er ging weiter in sein Arbeitszimmer. Es lag auf der rechten Seite des Hauses, hatte riesige Ausmaße und war doch nur spärlich möbliert. Die Wände waren mit Kirschbaumholz getäfelt, die Stuckdecke etwa drei Meter hoch. In der Mitte des Raumes lag ein etwa drei mal fünf Meter großer, blaugrundiger Afghan. Darumherum befanden sich eine Sitzgruppe, bestehend aus einem Dreiersofa und zwei Sesseln, die mit senfgelbem Leder bezogen waren, dazwischen ein niedriger, rechteckiger Tisch mit einem goldfarbenen Metallgestell und einer Rauchglasplatte. Weiter gab es einen Konferenztisch mit sechs Stühlen, ebenfalls aus Kirschholz wie die Wandvertäfelung. Die Stühle waren ledergepolstert und mit Armlehnen versehen. Der Schreibtisch mit einer etwa zwei Quadratmeter großen Tischplatte stand schräg im Raum. Dahinter ein hypermoderner Schreibtischstuhl mit einer hohen Rückenlehne, davor zwei Drehsessel gleicher Machart. Im Alkoven an der rechten Längswand standen zwei schwere, ledergepolsterte, englische Ohrensessel, zwischen den Sesseln ein runder Tisch aus poliertem Wurzelholz.

    Auf jedem der Tische stand eine Vase aus geschliffenem Kristall mit frischen Schnittblumen darin und ein ebenso geschliffener Aschenbecher. Ansonsten waren die Tische leer, mit Ausnahme des Schreibtisches, auf dem sich neben einer ledernen Schreibunterlage mit passender Stiftschale ein Computermonitor, die zugehörige Tastatur und ein Telephon befanden.

    Eine zweiflügelige Schiebetür auf der linken Längsseite des Raumes führte hinüber ins Wohnzimmer. Daneben stand ein großes Sideboard, ebenfalls aus Kirschbaumholz, dessen Oberseite mit einer Rauchglasplatte belegt war, darauf verteilt mehrere Glaskaraffen mit alkoholischen Getränken nebst den dazugehörigen Gläsern. Auf der hinteren Schmalseite des Raumes gelangte man durch eine gläserne Flügeltür hinaus auf die Terrasse, die sich über die gesamte Rückseite des Hauses und etwa sechs Meter in den Garten hinein erstreckte.

    Durch zwei weitere, gläserne Flügeltüren kam man von der Terrasse aus ins Wohnzimmer, das zweifellos den größten Raum des Hauses bildete. Mit Ausnahme der gläsernen Rückwand waren alle anderen Wände mit Bücherschränken bestellt, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten und in die auch die Schiebetüren zum Arbeitszimmer, zum Eßzimmer und zur Eingangshalle eingebaut waren. Mehrere Postergarnituren waren über den Raum verteilt, auf unterschiedlich gemusterten Teppichen aus verschiedenen Ländern des Orients. Auch hier, wie schon im Arbeitszimmer, Kristallaschenbecher und Vasen mit frischen Schnittblumen auf jedem der Beistelltische zwischen den Sesseln und vor den Couchen.

    Den Raum dominierte ein Konzertflügel, der in der Mitte aufgestellt war und über dem ein ausladender, mit Swarovski-Kristallen bestückter Leuchter von der Decke herab hing.

    Das Eßzimmer war etwas kleiner als das Arbeitszimmer, bot jedoch reichlich Platz genug für eine altflämische Eßgruppe mit zwölf Stühlen samt den dazugehörigen Buffets, in denen Geschirr, Besteck und Gläser verwahrt wurden. Die überbreite Schiebetür zwischen Wohn- und Eßzimmer gestattete es in geöffnetem Zustand, beide Räume als Einheit zu nutzen, so daß leicht eine Gesellschaft von mehreren Dutzend Personen darin Platz fand.

    Den Rest des Erdgeschosses nahm, neben mehreren Gästetoiletten hinter dem Arbeitszimmer, die großzügig dimensionierte Küche ein, deren Ausstattung es problemlos ermöglichte, mehrgängige Menues für eine den Plätzen im Eßzimmer entsprechende Gesellschaft von zwölf Personen zuzubereiten.

    Eine geschwungene Holztreppe and der Wand zu Küche und Eßzimmer führte hinauf in den ersten Stock. Oben gab es acht Gästezimmer, von denen sich jeweils zwei ein Bad teilten und das große Schlafzimmer mit einem eigenen Bad. Unter dem Dach, im zweiten Stock, befanden sich weitere sechs Zimmer und zwei Bäder für das Personal.

    Von der weitläufigen Rasenfläche hinter dem Haus hatte man einen direkten Zugang zu dem unter der Terrasse gelegenen Schwimmbad, dessen Glaswand sich vollständig öffnen ließ. Rechts und links daneben führten zwei breite Steintreppen hinauf auf die Terrasse, auf der sich im Sommer mehrere Sitzgruppen befanden, die zu dieser Jahreszeit allerdings bereits abgeräumt war.

    ***

    Nikolaj Petrovich Visnijakov begab sich in sein Arbeitszimmer und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Unaufgefordert servierte die Haushälterin Tee, den er aus feinstem Meißener Porzellan zu sich nahm, süß, mit viel Zucker und einem Tropfen Sahne. Einem silbernen Etui, das er in der rechten Tasche seiner Anzugjacke zu tragen pflegte, entnahm er eine Zigarette, die er mit einem goldenen Dunhill-Feuerzeug, das er stets in der linken Jackentasche verwahrte, anzündete.

    Kaum hatte er die Tasse zur Hälfte ausgetrunken und die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt, als die Tür zum Arbeitszimmer erneut geöffnet wurde. Die Haushälterin blieb darin stehen. An ihr vorbei trat ein Mann unbestimmten Alters herein. Er war mittelgroß, untersetzt, mit Glatze, Doppelkinn, einem fleischigen Gesicht und kleinen Schweinsäuglein darin, mit denen er mißtrauisch in die Welt sah. Er trug einen dunkelbraunen Maßanzug feinster Machart, dazu ein beigefarbenes Hemd und eine grüngrundige Krawatte. Die ebenfalls braunen Schuhe waren blank poliert und handgefertigt.

    Visnijakov erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als der Besucher hereinkam. Er ging ihm entgegen und streckte die Hand aus.

    „Herr Staatssekretär, welch eine Überraschung", begrüßte er den Mann.

    Der offensichtlich unangemeldete Besucher machte keine Umstände. Er schüttelte Visnijakovs Hand und sagte dabei: „Ich muß Sie dringend sprechen, Nikolaj Petrovich. Es geht um eine äußerst heikle Angelegenheit."

    „Aber doch bestimmt nicht so heikel, daß Sie nicht eine Tasse Tee mit mir trinken wollen, antwortete Visnijakov jovial und deutete auf die beiden Ohrensessel im Alkoven. „Setzen wir uns doch, mein Freund.

    Sie setzten sich und schwiegen, bis die Haushälterin jedem eine Tasse Tee serviert und das Zimmer wieder verlassen hatte. Visnijakov nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche und hielt es seinem Gast hin. Doch der winkte ab.

    „Nicht doch, Nikolaj Petrovich, Sie wissen doch, daß ich’s mir abgewöhnt habe."

    Visnijakov schüttelte bedauernd den Kopf. „Ihr Deutschen wißt einfach nicht die kleinen Freuden des Lebens zu genießen", meinte er.

    „Wenn ich nicht irre, sind Sie auch einer von uns Deutschen", erwiderte der Besucher.

    „Sagen wir, ich bin es mit der einen Hälfte meiner Seele, gab Visnijakov zu. „Mit der anderen Hälfte bin ich immer ein Russe geblieben. Insbesondere was solche Dinge angeht, fügte er lächelnd hinzu und betrachtete beinahe liebevoll die brennende Zigarette.

    Sie nahmen einen Schluck aus den Teetassen. Eine Weile schwiegen sie beide und widmeten sich weiter dem Tee. Visnijakov zündete sich eine weitere Zigarette an und stieß den Rauch langsam durch die Nase aus.

    „Was also führt Sie zu mir, werter Herr Staatssekretär? fragte er schließlich. „Ich nehme an, es ist sowohl äußerst heikel, wie Sie andeuteten, als auch streng geheim?

    Der Beamte nickte. „In der Tat, das ist es beides."

    „Mir werden Sie jedoch trotzdem erzählen, worum es sich handelt", stellte der Andere fest, immer noch lächelnd.

    Der Staatssekretär blieb ernst. „Natürlich, sonst hätte ich Sie nicht aufgesucht", gab er zurück.

    Visnijakov lehnte sich in seinem Sessel zurück und nahm einen Zug aus seiner Zigarette. „Also?"

    „Plutonium, sagte der Andere. „Was wissen Sie darüber?

    „Plutonium ist das schwerste in der Natur vorkommende Element", referierte Visnijakov. „Es trägt die Ordnungszahl vierundneunzig, ein Transuran aus der Gruppe der Actinoide. Ein hochgiftiger Alfastrahler, dessen Gefährlichkeit allerdings von den hysterischen, grünen Weltverbesserern weit überschätzt wird. Jedenfalls solange man es sich aus dem Körper heraushält. Dann ist die Strahlung vernachlässigbar. Die Giftigkeit wird ohnehin von vielen anderen Stoffen weit übertroffen.

    Man findet natürliches Plutonium in kleinsten Mengen in sehr altem Gestein. Darüberhinaus entsteht es als Spaltprodukt bei der Kernspaltung des Urans. Es läßt sich sowohl als Brennstoff in Kernkraftwerken als auch in Kernwaffen verwenden. Heutzutage ist es in vielen Ländern verbreitet, in allen solchen nämlich, in denen elektrische Energie aus der Kernspaltung gewonnen wird … "

    „Und von solchen, die daraus Waffen anfertigen, angefertigt haben oder aber sich darum bemühen, es zu tun", unterbrach ihn der Staatssekretär.

    „So ist es in der Tat, stimmte Visnijakov zu, um dann mit seinem Referat fortzufahren: „Selbstverständlich ist der Handel streng reglementiert. Am freien Markt ist Plutonium nicht zu erwerben. Wie das freilich auf dem schwarzen Markt aussieht … Visnijakov zog die Schultern nach oben und die Mundwinkel nach unten.

    Der Staatssekretär richtete sich in seinem Sessel auf. „Und genau darum geht es. Angeblich ist in Kasachstan eine gewisse Menge waffenfähiges Plutonium verschwunden, das wenig später in Russland aufgetaucht sein soll. In einer Wiederaufbereitungsanlage in der Nähe von Chelyabinsk. Dort ist es aber anscheinend nicht mehr. Ein Transport radioaktiver Materialien hat vor fünf Tagen diese Wiederaufbereitungsanlage verlassen und ist seitdem verschwunden."

    Visnijakov hatte sich den Bericht des Staatssekretärs mit unbeteiligtem Gesicht angehört. Wieder zog er an seiner Zigarette. „Eine interessante Geschichte, sagte er jetzt. „Warum erzählen Sie sie mir?

    Der Beamte seufzte laut und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. „Es gibt Informationen, die darauf hindeuten, daß dieses Material nach Deutschland geschafft werden soll. Allerdings wissen wir nicht wie und wann und durch wen."

    Visnijakov breitete die Hände aus. „Ich weiß es auch nicht, Herr Staatssekretär. Ich weiß nur, daß ich es nicht bestellt habe. Er lächelte den Politiker an. „Ich habe keinen Bedarf an Plutonium. Meinen Strom beziehe ich vom örtlichen Stromversorger und meine Konflikte pflege ich nicht mit Plutoniumbomben zu lösen.

    „Oh, das weiß ich, wehrte der Staatssekretär ab. „Aber einem Nikolaj Petrovich Visnijakov würde eine derartige Transaktion sicher nicht entgehen, wenn er sie denn sehen wollte.

    Eine geraume Weile blieb Visnijakov schweigend in seinem Sessel sitzen. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und rauchte seine Zigarette zu Ende. Dann erhob er sich.

    „Ich werde sehen, was ich herausfinde, sagte er, drehte sich zu seinem Gast um und sah ihn an. „Ich begleite Sie hinaus.

    Am Fuß der Treppe vor dem Eingang wartete ein Taxi. Der Fahrer machte sich nicht die Mühe, auszusteigen und seinem Fahrgast die Tür zu öffnen. Visnijakov tat es stattdessen.

    „Hat das Bundesinnenministerium Dienstwagen und Chauffeure abgeschafft?" fragte er den Staatssekretär.

    „Nein, bis jetzt nicht, antwortete der Beamte. „Aber ich habe es vorgezogen, bei diesem Besuch so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Ich bin mit dem Zug gekommen und werde auch für die Rückfahrt die Bahn benutzen.

    „Es schickt sich für einen renommierten Politiker nicht, mit einem Nikolaj Petrovich Visnijakov gesehen zu werden", stellte der Russe lächelnd fest.

    Der Staatssekretär hob die Hände und zog die Schultern hoch. „Sie kennen die öffentliche Meinung, Nikolaj Petrovich."

    „Nein, widersprach der Andere, „die öffentliche Meinung kenne ich nicht. Ich interessiere mich nicht dafür. Allerdings weiß ich, wie die Medien dazu stehen. Das tangiert mich zwar auch in keiner Weise, aber es ist schwer, das Geschrei der Journallie nicht zu hören.

    Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

    „Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Herr Staatssekretär", sagte Visnijakov.

    „Vielen Dank. Sie halten mich auf dem laufenden?"

    „Natürlich. Ich melde mich."

    Visnijakov blieb neben dem Auto stehen, bis der Staatssekretär eingestiegen und das Taxi hinter den Büschen verschwunden war. Dann ging er nachdenklich wieder ins Haus zurück. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und begann zu telephonieren.

    ***

    Der ‚Gulfstream G450‘ Business Jet gab ein etwas seltsames Bild ab auf dem kleinen Flugplatz zwischen den einmotorigen Motorflugzeugen und den Segelflugzeugen, die vor dem barackenähnlichen Gebäude geparkt waren, das zwischen mehreren Wellblechhangars erbaut war und aus dessen Dach sich ein kleiner Kontrollturm erhob. Aber der Flugplatz verfügte über eine Betonpiste, die gerade lang genug war, um einer G450 Start und Landung zu erlauben. Ohne viel Aufsehen zu erregen, denn an Werktagen war der Platz, mit Ausnahme der Abendstunden, an denen die Hobbypiloten und Segelflieger ihre Freizeit hier verbrachten, so gut wie verwaist. Und er lag ganz in der Nähe von Nikolaj Visnijakovs Wohnsitz.

    Am frühen Vormittag war der Jet gelandet. Man hatte eigens einen Fluglotsen auftreiben müssen, der Anflug und Landung und später auch den Abflug überwachen sollte, denn normalerweise war der Kontrollturm nur an den Wochenenden besetzt, wenn reger Flugverkehr herrschte. Ansonsten wurde nur bei schönem Wetter und nach Sichtflugregeln geflogen.

    Das alles interessierte Visnijakov nicht im geringsten, dessen Maybach Limousine am späteren Vormittag auf der betonierten Fläche vor dem Flugplatzgebäude vorfuhr und unmittelbar vor dem Einstieg der Gulfstream zum Stehen kam. Er wartete, bis sein Chauffeur die Tür der Limousine geöffnet hatte und begab sich dann, ohne nach rechts oder links zu schauen sofort an Bord des Flugzeuges. Kaum fünf Minuten später war der Jet in der Luft.

    Visnijakov war nicht der einzige Passagier an Bord. Im hinteren Teil der Maschine warteten drei Männer und eine Frau auf ihn. Jedoch beachtete er sie vorerst nicht, sondern er nahm vorne an einem kleinen Tisch Platz, wo ihm die Stewardess ein Mittagessen servierte, gleich nachdem sie die Reiseflughöhe erreicht hatten. Danach kümmerte sie sich um die vier anderen Passagiere. Alle schwiegen während sie aßen.

    Nachdem Visnijakov seine Mahlzeit beendet und die Stewardess den Tisch abgeräumt hatte, rief er: „Kalinin, daweij!"

    Der Angesprochene erhob sich von seinem Sitz und ging nach vorne. Er hatte Mühe, sich in dem kleinen Flugzeug zu bewegen, denn er war außergewöhnlich groß, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mit buschigen Augenbrauen und finsteren Gesichtszügen, dem das Lachen oder Lächeln ganz offensichtlich schon in der Kindheit verlorengegangen war. Immerhin trug er einen dunkelgrauen Maßanzug mit weißem Hemd und einer bordeauxroten Krawatte.

    Visnijakov deutete mit der Hand auf den Platz ihm gegenüber und wartete, bis der andere Platz genommen hatte, bevor er ihn auf russisch ansprach: „Was haben Sie zu berichten?"

    „Das Material ist seit ein paar Tagen spurlos verschwunden. Als meine Leute in Russland den Fahrer des Transportes befragen wollten, war er zunächst nicht auffindbar. Stunden später entdeckte man ihn dennoch. Tot. In der Spedition, der der Lastwagen gehörte, gab man sich ahnungslos. Von einem verschwundenen Lastwagen wisse man nichts, alle Fahrzeuge seien ordnungsgemäß unterwegs, der betreffende derzeit in Kasachstan. Allerdings habe man momentan keine Verbindung zum Fahrer. Das sei normal und eine Sache des schlecht ausgebauten Mobilfunknetzes. Man erwarte ihn jedoch in einigen Tagen zurück."

    „Und damit haben Sie sich abspeisen lassen?"

    „Vorerst ja. Wir hielten es für besser, daß Sie sich selbst ein Bild machen, bevor wir andere Maßnahmen ergreifen."

    Visnijakov nickte zustimmend. Er wußte, worin diese ‚anderen Maßnahmen‘ bestehen würden, und er war mit deren Anwendung keineswegs einverstanden. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

    „Gut. Tun Sie vorerst nichts weiter. Wir werden sehen, was die Leute zu sagen haben. Was ist mit denen aus der Fabrik?"

    Kalinin schüttelte den Kopf. „Keine Chance, freiwillig sagt da keiner was."

    „Dann lassen Sie sie. Bis auf weiteres. Wir wollen keinen Staub aufwirbeln."

    Wieder nickte Visnijakov und machte eine Handbewegung, die andeuten sollte, daß der andere entlassen war.

    „Schicken Sie mir die Frau", sagte er noch.

    Kalinin verschwand wieder im hinteren Teil der Kabine. Augenblicke später tauchte die Frau auf. Sie mochte Anfang dreißig sein, keine Schönheit im eigentlichen Sinne, aber doch eine attraktive Erscheinung, mit kurz geschnittenen, rotblonden Haaren und einer außergewöhnlich hellen Haut. Sie trug einen Hosenanzug, weiße Bluse, schwarze Pumps, dezent geschminkt, keinen Schmuck. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Hochmütiges.

    „Tanja Müller, Bundesinnenministerium, stellte sie sich vor. „Ich komme auf Weisung des Herrn Staatssekretärs.

    „Lassen Sie diesen Blödsinn, antwortete Visnijakov schroff. „Der Staatssekretär kann Ihnen gar keine Anweisungen geben. Er kann Sie allenfalls bei Ihren Vorgesetzten anfordern. Mit Hilfe von deren Vorgesetzten. Ich kenne mich aus, was die Beziehungen zwischen dem Innenministerium und dem Bundesnachrichtendienst angeht. Und ich gehe davon aus, daß Sie zu dieser Organisation gehören. Ihr ungewöhnlicher Hausname deutet darauf hin.

    Die Frau wollte etwas erwidern, aber Visnijakov ließ sie nicht zu Wort kommen.

    „Sparen Sie sich Ihre Erklärungsversuche. Sie sind unnötig. Ihre Dienstverhältnisse spielen hier keine Rolle. Wichtiger ist mir, zu erfahren, was Sie wissen. Wieder deutete er auf den Sessel ihm gegenüber. „Setzen Sie sich.

    ***

    Etwa fünf Stunden nach dem Abflug landete die Gulfstream auf dem Flughafen Roschtschino der Stadt Tyumen. Hier war es bereits dunkel, denn der Zeitunterschied zu Deutschland betrug vier Stunden.

    Eine Regierungslimousine des Tyumen Oblast, des Bezirks Tyumen, wartete auf dem Rollfeld. Visnijakov und Tanja Müller ließen sich damit zum Spasskaja Hotel fahren, das etwas außerhalb des Zentrums in der Nähes des Flusses Tura lag und in dem Visnijakov regelmäßig abstieg, wenn er sich in der Stadt aufhielt.

    Der Gouverneur des Bezirks Tyumen wartete auf ihn in einem Nebenzimmer des Restaurants. Die beiden Männer waren alte Bekannte, noch aus Sovjetzeiten, und sie begrüßten sich entsprechend. Natürlich in russischer Sprache. So wurde auch die Unterhaltung fortgeführt, nachdem sie und Tanja Müller am Tisch Platz genommen hatten.

    Wesentliches wurde nicht beprochen. Man frischte alte Erinnerungen auf und plauderte über die allgemeine politische Lage, die Konjunktur, das Wetter und die Kunst. Beide Männer waren sich sehr wohl bewußt, daß die Frau am Tisch ihrer Unterhaltung folgen konnte, obwohl sie bis dahin noch kein Wort gesagt hatte. Der BND hätte kaum einen Agenten nach Russland geschickt, der die Landessprache nicht beherrschte.

    Was Müller jedoch nicht beherrschte, war die Körpersprache der beiden Russen. Und in dieser tauschten sie sich aus. So erfuhr Visnijakov, daß auch die Administration des Tyumen Oblast keinen Hinweis über den Verbleib des Plutoniums hatte und im Moment auch keine brauchbare Spur verfolgte. Was sowohl Visnijakov als auch den Gouverneur außerordentlich zornig machte.

    Ungewöhnlich war das nicht, denn das Geheimnis der beiden Männer war, daß sie beide in den Plutoniumdeal verwickelt waren. Der Gouverneur hatte das Material beschafft und war für den Transport innerhalb des Landes zuständig, Visnijakov sollte den Stoff übernehmen, sobald es die Grenze der Russischen Föderation passiert hatte. Außerdem war es seine Aufgabe, einen Käufer dafür zu finden.

    Tanja Müller ahnte davon nichts. Am Ende des Abends, nachdem sie gegessen und eine Menge getrunken hatten, war sie genauso schlau wie vorher. Und das, obwohl sie sich beim Genuß der hochprozentigen, alkoholischen Getränke sehr zurückgehalten hatte.

    Frustriert verschwand sie in ihrem Zimmer, zu dessen Tür Visnijakov sie galant begleitete. Und keinerlei Anstalten gemacht hatte, ihr dort hinein zu folgen. Das war nicht sein Stil. Nicht, daß er einem gelegentlichen, sexuellen Abenteuer abholt gewesen wäre, das nicht. Aber er ließ sich niemals mit Frauen ein, mit denen er sich im Nachhinein erpreßbar gemacht hätte. Und eine solche war Tanja Müller ganz gewiß. Bestimmt würde sie eine Liaison zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Nicht zu ihrem persönlichen, möglicherweise, aber sicherlich zu dem ihres Dienstherren. Und darauf würde es Visnijakov auf keinen Fall ankommen lassen.

    Also wünschte er ihr eine Gute Nacht und begab sich danach in seine Suite. Am folgenden Tag würde er den Gouverneur alleine treffen. Dann konnte man Tacheles reden.

    ***

    Die Reise nach Tyumen war ein Schlag ins Wasser gewesen. Tanja Müller konnte weder ihren Vorgesetzten noch den Beamten im Innenministerium mit neuen Erkenntnissen dienen. Der Verbleib des Plutoniums war nach wie vor nicht bekannt, noch

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