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Gutland: Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, aber..
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eBook348 Seiten4 Stunden

Gutland: Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, aber..

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Über dieses E-Book

Bahlenbrede ist ein Dorf zwischen Ost und West. Man lebt hier gut und ruhig abseits des Weltgeschehens und hat überschaubare Träume. Eine Gruppe von lokalen Investoren schmiedet große Pläne und will ein "Horse & Rider Wellness & Beauty Center" errichten. Gerade ist alles unter Dach und Fach, da muss der Ort Flüchtlinge aufnehmen und die Träume vom großen Geld zerplatzen wie Seifenblasen. "Besorgte Bürger" und die engagierte Willkommensinitiative prallen aufeinander und der Ort gleitet in das Chaos.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Juli 2016
ISBN9783738078008
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    Buchvorschau

    Gutland - Uve Kirsch

    1. Dorfarzt

    Gutland

    Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, aber...

    Den Ort Bahlenbrede gibt es ebenso wenig auf der Landkarte Deutschlands wie die Tablette Valuron in den Apotheken. Leider. Alles Andere in diesem Roman könnte ebenfalls frei erfunden sein.

    Gutland

    Uve Kirsch

    Erster Teil

    Im Wartezimmer war es still. Es war Montag und kurz vor 12 Uhr, Zeit für einen kleinen Mittagstisch im Deutschen Haus. Renate, die Sprechstundenhilfe, lugte kurz in das Behandlungszimmer. Vorne habe ich schon abgeschlossen und im Wartezimmer sitzt nur noch die alte Frau Eulend. Kann ich dann schon mal gehen? Dr. Hofkrampe nickte. Die Tür fiel hinter ihr zu und Dr. Hofkrampe hörte das Geklacker harter Absätze im Flur und im Treppenhaus. Ausgerechnet Frau Eulend. Gab es heute keine angenehmeren Patienten?

    Dr. Ralph Hofkrampe hasste Montage. An Montagen fiel das Arbeiten besonders schwer, da kamen sie alle. Die, die keine Lust hatten und die, denen das Wochenende auf den Magen oder die Psyche geschlagen war. Ein paar davon kamen am Dienstag und natürlich die Schüler, die einer Klassenarbeit aus dem Weg gehen wollten. Mittwochs kamen die, die Rücken hatten oder einen Infekt. Oder einen akuten Anfall von Heuschnupfen. Donnerstags kamen die ernsthaft Kranken. Die, die er weiter verweisen musste an spezialisierte Fachärzte oder sogar in die Kliniken der Landeshauptstadt. Freitags würden die Montagsblaumacher kommen, aber freitags hatte die Praxis geschlossen. Die Blaumacher kamen deshalb alle am Montagmorgen, schon am Donnerstag zu kommen trauten sie sich nicht.

    In den kalten Monaten war das Wartezimmer überfüllt mit überbesorgten Müttern, die ihre verrotzten Kleinkinder auf dem Arm trugen und ihn mit besorgten Mienen anstarrten. Die Mütter litten mit, ihnen ging es psychisch oft schlechter als den Kindern und sie hatten keinerlei Hemmungen, dies offen zu zeigen. Aber jetzt war Sommer, das Dorf lag träge in der Hitze, die dynamischen Neubürger, die Zugezogenen mit ihren Traumjobs im IT- oder Managementbereich, waren samt ihrer Musterfamilien in den Urlaub entschwunden.

    Nur die Alten oder Daheimgebliebenen, die weniger Vermögenden und die Vergessenen hielten hier die Stellung in ihren Datschen und Gärten, am Grill und in der Hollywoodschaukel. Jeder, der einen Wagen besaß und nicht arbeiten musste, war jetzt an der Ostsee, auf dem Priwall oder an der Küste bei Barendorf. Die Moped- oder Radfahrer rollten bis an die Badestelle am See und blieben dort im sicheren Schatten, mit den Füßen im Wasser, die Kiste Bier einen halben Meter tief auf dem Grund des Gewässers, bis es erträglicher wurde. 34° Grad sollte es heute werden und windstill. Unerträglich.

    Wer heute kam, war ernsthaft krank oder hatte ein anderes wichtiges Anliegen. Ralph Hofkrampe war seit einem Jahrzehnt Dorfarzt. Bei ihm landeten alle Geschichten, Dramen und Triumphe. Alle Sorgen, Nöte und Neidereien, die im Dorf im Umlauf waren, fanden früher oder später ihren Weg zu ihm. Meistens früher.

    Er kannte die Ehegeschichten der meisten Bewohner besser als deren Nachbarn. Gerade die Neuen suchten nach Kontakt und gaben ihm mehr preis als manch Alteingesessener. Vielleicht ein Versuch, die Isolation zu durchbrechen, dachte er.

    Dr. Hofkrampe atmete einmal tief durch und betätigte dann die Taste der Rufanlage. Frau Eulend, bitte in das Sprechzimmer eins. Aus dem Wartezimmer hörte er das Knarren von Stuhlbeinen auf den nackten Holzdielen. Er stellte sich an das Fenster, ließ seinen Blick über den langgestreckten See schweifen, im Osten der neue Sportplatz mit den Wiesen davor, das westliche Ufer mit seinen gewaltigen Trauerweiden, die Seewiesen nahe am Ort, an deren Rand der breite Schilfgürtel im leichten Wind wogte. Die tiefen Wälder, die sich nach Norden am Horizont in Richtung Ostsee verloren gaben dem Land diese Weite, für die er es liebte.

    Es ist schön hier, dachte er, ein gutes Land. Der alte Wasserturm am östlichen Ufer strahlte etwas Verwunschenes aus, besonders, wenn die Nebel über dem Wald hingen, aus den er um viele Meter herausragte. Über dem Schilfgürtel kam ein Reiher im Sinkflug nieder und verschwand im Halmdickicht am Ufer. Er sah bunte Schlauchboote nahe der Badestelle am Ende der Seewiese treiben, Schwimmer und dazwischen ein Surfbrett. Pferde standen auf der Koppel und grasten und über ihnen kreiste träge ein Habicht auf seiner Suche nach einer unvorsichtigen Feldmaus. Am alten Schulgebäude stand ein schwarzer Kombi, aus dem ein Pärchen stieg. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich und die ältliche Bäuerin schlurfte gebückt durch die Tür.

    Die alte Frau war dicklich, klein und geschwätzig. Sie kam häufig, immer nur montags, und sorgte jedes Mal dafür, dass sie die letzte im Sprechzimmer war. Ihre Wehwehchen waren meist nur Bagatellbeschwerden, wenn sie nicht sogar komplett erfunden waren. Für ihre siebzig Jahre war sie überraschend gut in Schuss. Nein, daran lag es nicht. Sie war gefährlich, denn wenn sie kam, gab es meist etwas zu berichten. Selten etwas Positives. Sie wusste alles und heute machte sie wieder Meldung. Wahrscheinlich ging es einem der neuen Zuzügler an den Kragen. Totsicher hatte sie Informationen, mit denen sie einen von ihnen an den Dorfpranger stellen konnte.

    Sie ist eine Runkunkel, dachte er, eine alte Bäuerin, die nicht mehr auf dem Feld arbeiten kann, am Spinnrad sitzt und Wolle spinnt. Grobe Wolle und dunkle Geschichten. Und sie strotzt nur so vor lauter Boshaftigkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Mal sehen, was sie heute für mich hat. Also nur noch diese eine Patientin, dann war endlich Pause.

    Ralph Hofkrampe musste sich eingestehen, er hatte Angst vor ihr. Denn auch er hatte etwas zu verbergen. Das Geheimnis seiner Hausbesuche. Als neue Bürgerin dieses Ortes wohnte man weit ab vom Schuss, soweit ab, dass man irgendwann genervt und gelangweilt in der Fertighausvilla hockte, im Internet surfte und beschäftigungslos auf den Mann wartete. Oder man bekam schlimme Kopfschmerzen und Migräneanfälle und ging in seine Sprechstunde. Ralph Hofkrampe war ein attraktiver Mann. Er mochte Frauen, er wollte keine festen Beziehungen. Er merkte, dass die Frauen ihn mochten. Er nahm seine Hausbesuche wieder auf, wenn man wirklich nach ihm verlangte. Auch als Mann. Die Bäuerin setzte sich.

    Was haben wir denn heute?

    Ich hab so ein Kratzen im Hals. Morgens muss ich immer Husten, dann kommt sogar Schleim!

    Routine. In den Rachen gucken, Brustkorb abhorchen. Keine verdächtigen Geräusche. Er untersuchte die Frau.

    Zum Kratzen kann ich nichts erkennen. Aber vielleicht sitzt das auch ein bisschen tiefer. Ich gebe Ihnen etwas zum Gurgeln. Und die Bronchien rasseln ein wenig. Waren Sie nicht im Frühjahr noch erkältet? Bronchitis?

    Sie nickte. Aber geraucht haben Sie nie?

    Igitt! Sie schüttelte den Kopf.

    Es kann sein, dass davon noch immer etwas übrig ist und deshalb ab und zu Schleim ausgeworfen wird. Das hört sich aber nicht gefährlich an. Ich gebe Ihnen etwas zum Inhalieren. Sie können sich anziehen.

    Frau Eulend zog sich umständlich ihre viel zu weite Bluse über und knöpfte sie mühsam zu. Dr. Ralph Hofkrampe kritzelte etwas auf seinen Rezeptblock.

    Und dann hab' ich noch so ein Ziehen im Rücken und zwischen den Schultern. Sie vollführte eine groteske Bewegung, um ihm die Stellen zu zeigen. Etwa hier und hier.

    Aha. Aber laufen können Sie noch?

    Ja. Aber wenn ich lange sitze, dann zieht es da. Sie zeigte auf eine Stelle im unteren Lendenwirbelbereich.

    Aha. Dr. Hofkrampe reichte ihr das Rezept.

    Ach übrigens, haben Sie schon gehört, mein Bruder will die Seewiesen verkaufen? Er hat das Grundstück teilen lassen. Ein Stück neben der Schule ist wohl schon verkauft.

    Ach nee, wirklich? Das war wirklich eine Neuigkeit, denn bislang galt dieses Filetgrundstück direkt am See als unverkäuflich.

    Doch. Sie war sichtlich stolz darauf, ihre Neuigkeiten als Erste präsentieren zu können. Sie reckte ihr Kinn wichtigtuerisch empor. Wahrscheinlich wird da jetzt doch noch gebaut, legte sie nach.

    Das glaube ich nicht. Im Bebauungsplan steht doch da ganz eindeutig: Weideflächen und Naturreservat.

    Ach was, Bebauungsplan! Geld bestimmt die Welt!, stieß sie hervor. Wenn die verkauft werden, wird da auch gebaut. Der wird ganz schnell geändert. Sie werden sehen, so wird es kommen.

    Abwarten. Ralph Hofkrampe war skeptisch.

    Sie schüttelte den Kopf und warf dann einen Blick auf das Rezept. Und für meinen Rücken haben Sie mir nichts aufgeschrieben? Ihre Enttäuschung schwang mit und Dr. Hofkrampe duckte sich unwillkürlich.

    Nein, das ist nicht nötig. Ihre Penetranz ging ihm auf die Nerven. Ich kann Ihnen aber was raten.

    Was denn?

    Der Doktor überlegte kurz. Bewegen Sie sich. Gehen Sie wandern.

    Wie bitte?

    Dr. Hofkrampe erhob sich. Ja, gehen Sie wandern. Beim Wandern läuft man sich den Alltagskummer weg und man wird entspannter. Man entdeckt Neues und nimmt seine Umwelt bewusster wahr. Man wird ausgeglichener und regt sich nicht so schnell auf. Wandern ist gut für unser physisches und psychisches Wohlbefinden und man nimmt dabei auch noch spielend ab.

    Er klopfte ihr dabei leicht auf ihr ausladendes Hüftgold, während er sie sanft aber bestimmt in Richtung Ausgang schob. Frau Eulend schüttelte verständnislos ihren Kopf und sie schüttelte ihn immer noch, als sie den Flur hinunter ging. Er musste vorsichtig sein, sonst würde er zum Ziel ihrer Rache.

    Er schloss die Tür hinter der dicken Frau und sperrte ab. Auf dem Balkon seines Arbeitszimmers gönnte er sich eine Zigarette. Das Beste an seiner Praxis war dieser Balkon.

    Sie lag im Obergeschoss des höchsten Gebäudes Bahlenbredes. Von hier aus hatte man alles im Blick, den ganzen Dorfanger bis hinunter zum alten Schulgebäude und dem See. Wenn er nach Praxisschluss das Licht anließ, dachte man im Dorf, er würde bis spät abends arbeiten. Der Trick mit der Zeitschaltuhr hatte ihm schnell einen Ruf als fleißiger Arzt eingebracht. Die zwölf Euro waren eine lohnende Investition.

    Das Wetter war schön, es war der wärmste Sommer seit langem. Eigentlich war er ganz zufrieden. Er stellte sich an die Balustrade und zog den Rauch ein. Er entspannte sich. Alles war gut. Die Entscheidung war richtig gewesen, obwohl er hier keine Reichtümer anhäufen würde. Hamburg lag hinter ihm, das Krankenhaus und die Scheidung auch. Das hier war eine kleine, schöne Welt. Karriere war nicht alles.

    Bahlenbrede, so hieß das Dorf. Eigentlich war es gar kein richtiges Dorf mehr. Als kurz nach der Wende der alte Landarzt in Pension gegangen war, hatte er nicht lange gezögert und seine Stelle als Assistenzarzt im Hamburger Albertinenkrankenhaus aufgegeben. Er war das Wagnis eingegangen, hatte gekündigt, einen Kredit für die Praxis und die Patientenkartei aufgenommen und zog hierher. Damals waren es kaum mehr als zweitausend Menschen, die an diesem Flecken wohnten. Es gab einen kleinen Konsum, zwei Dorfkneipen, die sich gegenseitig den Rang streitig machten, bis schließlich eine auf der Strecke blieb, einen kleinen Bäcker, der nur morgens für zwei Stunden geöffnet hatte, einen Ponyhof, die freiwillige Feuerwehr und einen Landarzt. Und das war jetzt er selbst, Ralph Hofkrampe.

    Das Dorf war auf die doppelte Größe gewachsen, hatte Speck angesetzt, an den Rändern. Es hatte Nebenarme und Tentakeln gebildet. Die Neubausiedlung auf dem Hypothekenhügel war binnen weniger Jahre gewachsen und bescherte dem Dorf einen beachtlichen Bevölkerungszuwachs und sprudelnde Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Jetzt gab es ein kleines Einkaufzentrum auf der anderen Seite, einen provisorischen Anbau an die kleine Grundschule, eine Tankstelle und ein echtes Restaurant. Der Sportverein bot neuerdings sogar Beachvolleyball und Kijutsu an. Von einer Leichtathletik-Abteilung hatte er auch gehört. Die Gruppen waren zwar noch klein, aber sie wuchsen, immerhin. Das Dorf macht sich langsam, dachte Ralph Hofkrampe und schnippte seine Zigarette über die Balkonbrüstung. Eigentlich war alles in Ordnung - bis auf das Geld. Am Ende des Angers kletterte jemand unbeholfen über die geschlossene Pforte der alten Schule.

    2. Mut zum Flug

    Wulf Lindaus Leben war übersichtlich. Nicht langweilig oder ereignisarm, nein, darüber konnte er sich nicht beklagen. Übersichtlich war es dennoch. Normalerweise. Er arbeitete immerzu, ständig, rund um die Uhr. An den Wochenenden und an den meisten niedrigen Feiertagen. Er kam oft spät nach Hause, nur um zu essen, zu duschen, seine Sachen zu wechseln und zu schlafen. Meist allein, aber wenn er seiner Frau Katharina begegnete, dann gelegentlich auch mit ihr. Anschließend ging er wieder arbeiten. Er war überall zu Hause, in Deutschland, in Europa. Er hatte eine kleine Messebaufirma und war als Inhaber hauptverantwortlich für alle wichtigen Projekte. Er war berufsbedingt polyglott, hielt sich für sattelfest und souverän und behauptete von sich, angstfrei durchs Leben zu gehen.

    Aber darin irrte er sich gewaltig, wie er gerade feststellen musste. Denn er balancierte auf der Spitze eines verrosteten schmiedeeisernen Zaunes, kämpfte mit seiner aufkommenden Panik und hielt sich angsterfüllt an einem alten Pfosten fest. Der Zaun unter ihm zitterte und wackelte bei jeder Bewegung. Wenn er den linken Fuß löste, würde sein gesamtes, nicht unerhebliches Gewicht nur auf dem rechten Fuß lasten und der Zaun drohte einseitig einzuknicken. Scheiße, dachte er, ich mache mich so was von lächerlich.

    Mach dich nicht lächerlich!, tönte es von der anderen Seite des Zauns. Na, spring schon, du Feigling! Seine Frau stand im hüfthohen Gras und machte sich über ihn lustig. Im Gegensatz zu ihm hatte sie keinerlei Probleme bei der Überwindung des Zaunes, im Gegenteil. Er war überrascht, wie geschmeidig sie förmlich über das Hindernis geflogen war. Davon war er meilenweit entfernt. Es bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn und zwei Fliegen umschwirrten seinen Kopf. Ach, scheiß drauf, sagte er zu sich selbst, nahm seinen letzten Mut zusammen und schwang sein linkes Bein über die Zaunkante. Er stieß sich ab und landete stolpernd im niedrigen Gestrüpp.

    Alle Achtung!, sagte Katharina lachend, während er sich das Hemd abklopfte und dabei versuchte, möglichst unberührt zu gucken. Aber in seinem Inneren kochte es. Es war ihre Idee, stellte er fest, ganz allein ihre Idee. Sie hatte ihn hier her gelockt, in seiner wertvollen Freizeit.

    Hoffen wir, dass es sich lohnt, dachte er und bog einen niedrigen Busch zur Seite, um einen besseren Blick auf das Haus zu bekommen.

    Sie standen vor einem großen alten Gebäude in rotem Backstein, eingerahmt von zwei stattlichen alten Magnolienbäumen. Der verrostete Zaun mit seiner breiten schmiedeeisernen Pforte erzählte von vergangener Herrlichkeit. Drei breite Granitstufen führten zu einem großzügigen Vorbau, in dessen Innerem eine zweiflügelige massive Eichentür Wind und Wetter trotzte. Über dem Vordach stand ein Schriftzug. Volksschule Bahlenbrede 1898. Das Gebäude war sicher länger als achtzehn oder zwanzig Meter. Sechs alte Sprossenfenster zeigten zur Straße. Im Schleppdach saßen vier kleine Gauben. Selbst als halbe Ruine besaß das Gebäude noch einen historischen Charme.

    Scheiße, sagte Wulf Lindau und wollte die Eingangstür aufdrücken. Eine verrostete Kette fesselte die beiden Türflügel aneinander. Er schaute nach links und nach rechts, das Dorf schien zu schlafen, niemand war zu sehen. Nur am Ende des Angers in dem hohen Gründerzeithaus stand eine Balkontür offen. Er gab der Tür einen deftigen Tritt, aber die Kette hielt stand.

    Egal, dachte er und schaute an seinem Anzug hinunter. Katharina hatte ihn hier her gelotst. Nun gut, jetzt war er hier, der Anzug ließ sich ersetzen. Das, was einmal ein Vorgarten gewesen war, ging ihm bis zur Hüfte. Es summte und raschelte. An seinen Hosenbeinen klebten Kletten. Er kämpfte sich durch die Macchia der Ginsterbüsche und wilden Brombeersträucher bis er Katharina eingeholt hatte. Sie standen in einem Hof, der hinten an ein offenes Feld grenzte. Der Pausenhof, in dessen Mitte ein mit Efeu überwachsender gemauerter Brunnen stand. Am Ende kauerten niedrige Eichengehölze, zwischen denen das Blau des Sees schimmerte. Ein länglicher Anbau aus roten Ziegeln schob sich weit nach hinten. Oben eine Reihe von Gauben, unten breite Sprossenfenster mit eingeschlagenen Scheiben, die leeren Fensterflügel hingen lose in den Angeln. Blauregen rankte sich die Außenmauern hoch. Geil!, sagte er zu Katharina und kämpfte sich durch das niedrige Brombeergestrüpp bis zu den offenen Fensterflügeln des Anbaus. Wulf Lindau hörte ein Reißen und er wusste, sein Anzug war Geschichte. Unter seinen Füßen knirschte Glas. Von außen öffnete er einen Fensterriegel und drückte den verzogenen Fensterflügel nach innen. Er zog sich ächzend hoch und rollte sich über den Rahmen in den Innenraum. Das war schmerzhaft, aber er war drinnen. Er beugte sich aus dem Fenster und gab Katharina mit einer Hand Hilfe.

    Sie standen in einem alten Klassenzimmer und schreckten eine Taube auf, die sich gurrend verzog und durch ein kaputtes Fenster nach draußen entschwand. Umgestürzte, kaputte Stühle und Bänke lagen wie von wirrer Hand verstreut herum. An den Wänden hatte jemand ausgiebigen Gebrauch von einer Spraydose gemacht und ein Graffiti zum Thema Geschlechtsverkehr dort hinterlassen, wo einmal die Tafel hing. Deren zertrümmerte Reste fanden sich verteilt über den Boden. Es roch feucht, modrig, nach Schimmel. Sie gingen über knirschende Glasscherben in das Haupthaus und ihre Schritte hallten nach in den verlassenen Räumen. Im Haupttrakt gab es noch ein paar unzerstörte Toiletten, in denen die Plastikarmaturen aus den Waschbecken gerissen waren. Es stank. Das Klobecken in der Jungentoilette hatte einen breiten Riss und in der Klopfanne stand ein gelblicher Rand kristalliner Ablagerungen.

    Der andere Raum war riesig und ebenfalls ein Klassenzimmer. Halbhoch getäfelte Wände, ein Kamin an der rechten Seite, drei Fenster gingen zur Straße, drei seitlich zum Garten. Die Lehrer mussten dort an der Rückwand zum Garten - oder besser Schulhof - gestanden haben. Im Winter brannte ein Holzfeuer im Kamin. Daneben stand ein überdimensionaler hässlicher Ölradiator, dessen Bedienungsschalter abgeschlagen war. Auch hier war ein Graffitikünstler gewesen, aber anscheinend ein anderer, der in Liebesdingen die romantische Fraktion vertrat. Laura + Kevin = Never ending Love stand an der Rückwand. Der Raum hatte ein fantastisches Licht. Der gemauerte Kamin, die ausgetretenen Holzdielen an denen man ablesen konnte, wo die Schulpulte gestanden hatten. Wulf Lindau war begeistert. Katharina zog ihn am Ärmel und sie stiegen die knarzende Holztreppe hinauf ins Dachgeschoss. Die alte Lehrerwohnung, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer zeigten zur Straße, Küche und Bad gingen zum Schulhof. Wolf Lindau stieg auf einen alten Hocker und schaute aus der Gaube. Am Ende der Fläche, die mal Schulhof gewesen war, standen Sträucher und Eichengehölze. Eine Hecke spendete Schatten an der linken Grundstücksgrenze. Dahinter lag Grasland, aus dem orangerote Holzpflöcke ragten. Hier wird gebaut, dachte Wulf Lindau. Er sah zwei Pferde beim Grasen auf ihrer Weide. Am rechten Rand der Weide erkannte er hinter niedrigen Birken den Zaun des Sportplatzes. Er öffnete die Tür zum Anbaudach. Ein alter Gymnastikraum. Eine Sprossenwand, die bis zur Decke ging, Turnringe hingen von den Balken. Auf der Außenmauer war ein aufgemaltes Handballtor. Es roch nach Staub, Moder und Taubenmist. Ein Bock und mehrere Turnkästen standen mitten im Raum, fast so als wäre gestern erst die letzte Sportstunde abgehalten worden. Nur die Bettstatt aus Pappe und alten Decken war neu. Hier hatte jemand in Not für einige Zeit ein Dach über dem Kopf gefunden. Auf den Dielen klebten runter gebrannte Kerzenstummel. Klar, hier würde man vom Dorf aus keinen Lichtschein sehen. Wulf Lindau hob eine zerfledderte Zeitung vom Boden. Das Datum war älter als zwei Jahre.

    Wulf Lindau stellte sich mit gespreizten Beinen in das Handballtor, die Hände erhoben, bereit, die scharfen Würfe des Gegners abzuwehren. Katharina machte ihm den Gefallen. Sie schritt zum imaginären Sieben-Meter-Punkt, tat so, als hielte sie einen Ball und warf. Wulf Lindau wehrte den Wurf mit einem Reflex ab.

    Er grinste. Die Bude war ein Hammer, auch in diesem halbruinösen Zustand.

    Was kostet der Schuppen?, fragte er seine Frau.

    Einhundertzwanzigtausend. Sie drehte sich, ging die Treppe runter und ließ die Zahl einfach so im Raum stehen, wo sie von den Wänden reflektiert wurde und als Nachhall in seinen Ohren hängen blieb. Sie hatte dabei nach unten geblickt, aber er glaubte, beim Rausgehen ein Lächeln in ihren Mundwinkeln entdeckt zu haben.

    3. Deutsches Haus

    Ralph Hofkrampe saß auf seinem Stammplatz, am Ende des Anbaus mit dem herrlichen Blick in den Biergarten mit seiner mächtigen Linde, der etwas erhöht am Endes des Dorfangers lag. Er war der einzige Gast im Schankraum. Der Garten war um die Mittagszeit gut besucht. Er starrte aus dem Fenster, auf dem ein dünner Schleier von getrocknetem Blütenstaub klebte, den der letzte Gewitterschauer nicht runterspülen konnte. Eine Fliege summte entlang der Scheibe, prallte geräuschvoll gegen das Glas. Sie blieb auf dem Rücken und mit den Beinen strampelnd auf dem Fensterbrett liegen. Hinter der vergilbten Gardine lagen schon drei andere vertrocknete Fliegen.

    Er mochte diesen Platz. Draußen fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller, die Leute erkannten ihn, grüßten freundlich, mit einem Kopfnicken oder einer Handbewegung, aber früher oder später legte einer seine Scheu ab, sprach ihn an und fragte ihn aus nach Krankheitsbildern, nach Therapien, nach Fachärzten. Nie interessierte sich jemand für ihn als Person, für seine Vergangenheit und seine Qualifikationen oder für seine Gründe in dieses abgelegene Nest zu ziehen. Aber das war ihm recht, denn er wollte nur seine Ruhe. Obwohl sie ihn oft ansprachen, war er keiner von ihnen - und würde es auch bleiben.

    Sie brauchten ihn und so nahmen sie ihn auf, wie jemanden, auf den man nicht verzichten kann. Es war der Respekt vor seinem Titel, der ihm Achtung einbrachte. Ohne seinen Doktor wäre er ein Fremder, obwohl er schon seit zehn Jahren hier lebte. Zehn Jahre sind gar nichts auf dem Lande. Bei den Freien Wählern fand er ein politisches Zuhause, allein weil er neu hier war, keiner der verdienten alten Sozialisten, die seit der Wende den Ort regierten. Er litt nicht unter seiner isolierten Stellung, denn eigentlich war es ganz bequem so. Er hatte alles richtig gemacht, fand er: Die Ex-Frau war in sicherer Entfernung und beschränkte sich auf gelegentliche postalische Sticheleien. Er zahlte seine Alimente pünktlich und so drehte sich die Kommunikation mit ihr meist nur um die Vereinbarung der Besuchstermine der Kinder, die nun langsam in ein Alter kamen, in dem man sich nicht sonderlich für die Belange seiner Erzeuger interessierte. Sie begannen, ihre eigenen Wege zu gehen und ließen sich immer seltener bei ihm blicken. Gut, etwas mehr Geld hätte es schon sein können, aber man kann nicht alles haben. Sein eigentliches Problem war auch nicht seine Vergangenheit und sein Einkommen.

    Es waren die Frauen im Allgemeinen. Er mochte Frauen. Und sie mochten ihn. Soweit war das alles in Ordnung. Aber die finanziellen Folgen seiner Scheidung hatten ihn kurzzeitig an den Rand des Ruins getrieben und jetzt war

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