Otto von Pirchs Caragoli (1832): Ein preußischer Offizier in Venedig
Von Simonetta Sanna
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Rezensionen für Otto von Pirchs Caragoli (1832)
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Buchvorschau
Otto von Pirchs Caragoli (1832) - Simonetta Sanna
Simonetta Sanna
Otto von Pirchs Caragoli (1832)
Ein preußischer Offizier in Venedig
v. Hase & Koehler
Erste Auflage 2023
© v. Hase & Koehler ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2023
Satz: Gaja Busch, Berlin
Coverlayout: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen,
Abbildung unter Verwendung einer Mischtechnik von
© Franco Masia, Markusplatz in der Dämmerung
Printed in Germany
ISBN 978-3-7758-1424-9
eISBN 978-3-7758-1428-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Einleitung: Otto von Pirch, Offiziersleben, Reisebücher und andere Schriften
Caragoli
II. Venedig: Psychotopografie der urbs ludens
Der Raum, die Räume
Die Zeit
Die Venezianerinnen
III. Psychotopografie des erzählenden Ich: die heimische Fremde
Anmerkungen
Bibliografie
Namensregister
Vorwort
Ein Werk vermag gelegentlich aufgrund seiner Bedeutung, aber auch der besonderen Anlagen, der wachen Intelligenz und der menschlichen Aufgeschlossenheit seines Autors zu bestechen. Umso erstaunlicher ist es, all diese Eigenschaften in einem nahezu unbekannten Autor anzutreffen wie Otto Ferdinand Dubislav von Pirch, dem Berufsoffizier und Verfasser einiger Reisebücher, so eines Berichts Reise in Serbien im Spätherbst 1829 (2 Bde., Berlin 1830) und Caragoli (3 Bde., Berlin 1832/34). Wenngleich letztere seine Erkundungen des habsburgischen Ungarn und Italien, der österreichisch-türkischen Militärgrenze von Slawonien und Kroatien beschreiben, geht der Titel auf seinen Venedig-Aufenthalt zurück, wie der Autor in der Zueignung an einen ungenannten Freund erklärt: »Ich habe diesen Mittheilungen den Namen der kleinen venezianischen Muscheln gegeben, welche, leicht aufgefunden und aneinandergereiht, ihren Werth von dem Lichte erhalten, in welchem Du sie betrachtest.« Die Venedig gewidmeten Seiten, die fast das ganze zweite Buch einnehmen, stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Goethe meinte wahrlich zu Recht, dass von »Venedig schon viel erzählt und gedruckt« worden ist. Dennoch stellen Pirchs Mitteilungen ein originelles Kapitel der langen Geschichte der literarischen Vermittlungen zur Lagunenstadt dar, in der er sich zwischen dem 24. Januar und dem 18. Februar 1830 aufhielt.
Der preußische Offizier, der mit 32 Jahren starb, nahm Venedig nicht nur differenziert wahr, sondern wusste zukunftsweisende ethische und ästhetische Zusammenhänge einzufangen. Zudem erlaubt Caragoli gleichsam die psychologischen Dispositionen dieses jungen Deutschen zu erfassen, der sich mit einer fremden und in seiner Fremdheit einzigartigen Stadt konfrontiert sah. Namentlich die mehr als zweihundert Seiten zu Venedig vermitteln dem Leser die eindrucksvolle ›Psycho-Topografie‹ bzw. die ›geo-poetische‹ Mappatur – Begriffe, die im Folgenden erläutert werden sollen – eines Autors, bei dem die Bestandanalyse der inneren Verfasstheit mit einer außergewöhnlichen Öffnung gegenüber seiner Umwelt einherging. Die vielen Gesichter der Dogenstadt ermöglichten dem Autor, die reiche Palette seiner Sinneswahrnehmungen und mit ihnen das fremde Ambiente zu vollem Leben erwachen zu lassen, zumal der Autor, der gewöhnlich seinen Verpflichtungen nachkam, die Fähigkeit besaß, sich der Erfahrung der Stadt ungeteilt hinzugeben: An die Stelle starrer erwartungskonformer Demarkationen setzte er die rege Vermittlung der Gegensätze. Dergestalt vermied es Pirch, dass sich die Eindrücke, wie oft bei fremdländischen Reisenden »um sie selbst, um die Vorzüge ihres Landes« drehten. Da sie auf diesem Wege »nie zu einem freien Vergleich, zur Auffassung einer Eigenthümlichkeit des fremden Landes« gelangten, war das Ergebnis, dass ihnen »alles Fremde fremd« blieb, wie der Offizier gleich im Vorwort zu Caragoli mitteilt. Der preußische Adlige nahm sich indes die Freiheit, der fremden Welt in sich und außer sich »die ganze Seele voll Aufmerksamkeit zu widmen«, zumal die Differenziertheit seiner Selbstbeobachtung der seines Weltverständnisses zu entsprechen versprach.
Otto von Pirchs Erfahrungsmodus ist heute umso bestrickender, als sich die Voraussetzungen einer lebenszugewandten Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsweise nicht grundsätzlich gewandelt haben, sondern weiterhin in der Durchdringung des eigenen komplexen Selbst und der Aufgeschlossenheit gegenüber der Vielfältigkeit der Umwelt bestehen. Eben dieser Kontakt zu den eigenen Wahrnehmungen, die auf das leibliche, erfahrende, bewusste und sich erinnernde Subjekt bezogen bleiben, ermöglichte es dem Autor, sich selbst und die Grundsätze des Eigenen bzw. des »bei uns«, wie er es nannte, infrage zu stellen und sich dem Fremden und Befremdenden zu öffnen. Allgemeiner gefasst, vermitteln Pirchs Reisebeschreibungen die Einsicht, dass der Bewegungs- und Handlungsraum der eindeutigen Zugehörigkeit allemal kleiner und einförmiger ist als der Freiraum des Dahinter, das unumschränkte Ausland und die Fremde.
Nicht von ungefähr verband der preußische Offizier seine Titelwahl mit einem Hinweis auf die Perspektive, genauer noch: auf das Licht, von dem aus man die titelgebenden spiralförmigen caragoli-Muscheln betrachtete, mit einem im Schlusssatz des Vorworts an den Leser gerichteten Wunsch: »Möge es ein freundliches sein.« Die Mitteilungen zu Venedig entwerfen wunschgemäß einen Erwartungshorizont, wie er ihnen in den Augen des Autors angemessen war, und mithin das Bild eines Lesers, den er sich geneigt wünscht, den Gegenstand durch die eigene Lektüreerfahrung sinnlich und reflexiv zu durchdringen. Scheint das Venedigerlebnis von Otto Ferdinand Dubislav von Pirch auf den ersten Blick unmittelbar einsichtig, so erweist es sich bei näherem Zusehen als frische und ungehemmte Variation des sapienti sat, der Einsichtigen, die aus dem Vollen der Erfahrung schöpfen, aber auch der longissima via, des unendlichen Weges, der zu dieser Weisheit führt. Der Leseakt bleibt an die Selbstverortung des Lesers in Innen- und Außenwelt gebunden. Das Ziel besteht offenbar in der Reise selbst. Insofern dient auch unsere Lektüre einzig als Vorlage, die den Leser dazu ermutigen will, sein eigenes ›freundliches Licht‹ auf Caragoli zu entwickeln.¹
Simonetta Sanna
Berlin, Februar 2023
I.
Einleitung
Otto Ferdinand Dubislav von Pirch, Offiziersleben, Reisebücher und andere Schriften
»Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.«
(Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung)
Aus der Perspektive der deutschen Literatur macht der berühmte Heinrich, großer Dichter und missglückter Berufsoffizier, die Differenz, sonst würde die Militäraristokratie derer von Pirch, die bis auf das XIII. Jahrhundert zurückgeht, womöglich bekannter sein als die derer von Kleist. Einst in Böhmen ansässig, folgen die von Pirscha, später von Pirch, dem Deutschen Ritter-Orden nach Norden. Jasbon von Pirch, der 1376 nach Pommern kam, war dessen Heermeister, während sein Sohn Gützlaff schon Generalissimus des kaiserlichen Kriegsheeres war. Seitdem hatten die von Pirch Zugang zum Hof, einige der jüngeren als Pagen.
Generäle sind die Brüder des Urgroßvaters von Otto Ferdinand Dubislav, Georg Ernst von Pirch, und einige seiner Söhne, darunter Johann Ernst, der in französische Dienste trat, 1783 mit seinem Regiment nach Amerika übersetzen sollte, aber überraschend bei Cádiz verstarb. Von den neun Söhnen des Großvaters, Franz Otto, haben sechs die militärische Laufbahn eingeschlagen. Unter ihnen der Vater des Autors von Caragoli, Generalleutnant Christoph Wilhelm Rüdiger, und dessen Brüder Georg Dubislav Ludwig und Otto Karl Lorenz, dem sämtliche Militärschulen Preußens unterstanden. Auf den Namen Dubislav hörten mehrere der Vorfahren.
In Jahre 1807 heiratete Christoph Wilhelm Rüdiger Amalie Elisabethe Isabelle Louise von Lynker, Tochter von Heinrich Ferdinand Christian Freiherr von Lynker, dem Geheimrat und späteren Kanzler in fürstlich schwarzburgischen Diensten. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und drei Töchter hervor, von denen allerdings nur eine Tochter und eben Otto Ferdinand Dubislav von Pirch (1799–1832, von nun an einfach Otto von Pirch) überlebten. Der Sohn kam am 1. Mai 1799 in Bayreuth zur Welt, wo sein Vater Kapitän eines Infanterie-Regimentes war.²
Schon als Kind genoss er eine gute Erziehung bei angesehenen Pädagogen. Beachtenswerter könnte jedoch eine andere Begebenheit sein: die Bekanntschaft mit Jean Paul (eigentlich Johann Paul Friedrich Richter), dem in einem protestantischen Landpfarrhaus aufgewachsenen Schriftsteller von überschwänglicher Fantasie und ansteckendem Humor, der 1804 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Bayreuth wohnte. Als schöner kluger Junge gewinnt der Schriftsteller Otto Ferdinand Dubislav lieb, sodass dieser in Jean Pauls Haus seine freien Stunden mit dessen Kindern verlebte.
1807 zieht die Familie nach Potsdam und später nach Berlin um. Hier wird Otto von Pirch das renommierte Gymnasium Regium Joachimicum, die 1607 gegründete Fürstenschule für begabte Knaben, besuchen. Er war zu jung, um an den antinapoleonischen Kriegen teilzunehmen. Doch als der Imperator erneut die europäischen Monarchien bedrängte, stürzte sich der kaum sechzehnjährige Sprössling derer von Pirch in die Schlacht, zunächst als Volontär bei der Garde du Corps und nach kurzer Frist beim 2. Dragoner-Regiment. Er brillierte bei Ligny und Belle-Alliance, sodass ihm der König entweder das Ritterkreuz oder eine Offiziersstelle anbot.
Der spätere Autor von Caragoli entschied sich für Letztere und diente beim 6. Infanterie-Regiment und beim 1. Regiment Garde zu Fuß. Zunächst aber kehrte er zum Studium zurück, weitete seine Kenntnisse der europäischen Sprachen aus und las insbesondere französische Autoren, von dem Historiker Jean de Joinville bis zu den Schriftstellern Jean Racine und Alphonse de Lamartine, deren Werke er auch gern rezitierte.³ Drei Jahre lang besuchte er die allgemeine Kriegsschule, in der er militärische Wissenschaften, Technik, Geschichte und Kriegsstrategie studierte, namentlich der Artillerie, ohne dabei die humanistischen Disziplinen zu vernachlässigen. 1820 kehrte er für ein Jahr zum praktischen Dienst zurück, wurde aber ab 1821 als Spezialist in Geodäsie, d.h. in der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche, ins topografische Bureau des Generalstabs zu Berlin versetzt.
In dieser Funktion wurde er 1826 in den Distrikt Posen (Poznań) nach Polen entsandt, um im Dreieck von