Der Alte Ranke: Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich
Von Heinz Duchhardt
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Über dieses E-Book
In 12 Kapiteln und einem Epilog zeichnet Duchhardt gekonnt das Bild des alternden und an seinem Ruf arbeitenden Rankes nach, der mit seinen "Sämtlichen Werken" und der "Weltgeschichte" noch einmal in den Fokus des ganz großen Publikums gelangte. Aber Ranke war in dieser letzten Schaffensperiode nicht nur Wissenschaftler, sondern auch: ein homo politicus, Produktiver, Kranker, Eitler, ein Priester seiner Anliegen.
Heinz Duchhardt gelingt es, einen wichtigen Baustein zu einer allgemeinen, weit über Rankes Biografie hinausweisenden "politischen Geschichtsschreibung im Kaiserreich" vorzulegen. Ein großer Lesegenuss und eine hintergründige Studie über den Wissenschaftsbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Heinz Duchhardt
Heinz Duchhardt war Prof. für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth und für Neuere Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Direktor der Abteilung Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Zuletzt leitete er bis Februar 2015 als Präsident die Max Weber Stiftung.
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Buchvorschau
Der Alte Ranke - Heinz Duchhardt
Heinz Duchhardt
DER ALTE RANKE
Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-86408-297-9
eISBN: 978-3-86408-304-4
Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de
© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2023
www.vergangenheitsverlag.de
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Prolog: Der Mann
Kap. 1: Die Familie
Kap. 2: Der Haushalt
Kap. 3: Der Kranke
Kap. 4: Das Forschungsteam
Kap. 5: Akademie und Historische Kommission
Kap. 6: Freunde und Kollegen
Kap. 7: Der alte Ranke und der deutsche Höchst- und Hochadel
Kap. 8: Der homo politicus
Kap. 9: Die Dekade der Monographien und Editionen
Kap. 10: Die „Sämmtlichen Werke"
Kap. 11: Die „Weltgeschichte"
Kap. 12: Tod, Begräbnis und Nachrufe
Epilog: Der Produktive, der Kranke, der Eitle, der Priester
Quellen- und Literaturverzeichnis
Siglen- und Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Danksagung
Da die „normalen Elemente eines Vorworts – also die Legitimierung eines Buchs, die Wahl seines methodischen Ansatzes und seiner „Philosophie
– aus verschiedenen Gründen in der Einleitung ihren Platz gefunden haben, soll an dieser Stelle nur und ausschließlich Dank abgestattet werden: bei all denen, die die Entstehung dieser Monographie gefördert und begleitet haben. Da der Verfasser freilich kein seit Jahrzehnten in der Wolle gefärbter Ranke-Spezialist ist – das könnte ein Nachteil, kann aber wegen des unverstellten Blicks auch ein eminenter Vorteil sein – und nicht mit der gesamten Ranke-Community eng vernetzt ist, mag niemand Myriaden von Namen erwarten, die hier genannt werden müssten. Ich erinnere mich mit besonderer Dankbarkeit eines fast zwei Jahrzehnte zurückliegenden langen Gesprächs am Rande einer Mainzer Tagung mit Ernst Schulin, der mir erstmals mit großer Eindringlichkeit die Probleme und Defizite der Ranke-Forschung vermittelte. Noch länger zurück liegt ein privatissimum eines meiner akademischen Lehrer, des großen Ranke-Kenners Eberhard Kessel, über Rankes Weltgeschichte, und ohne die Einzelheiten dieses langen Monologs Kessels noch präzise in Erinnerung zu haben: Seitdem war das Interesse des damaligen Privatdozenten an der Weltgeschichte geweckt. Ich nenne nach diesem Rückblick auf wichtige „Altimpulse" sodann den verdienten und vieljährigen Bearbeiter des Ranke-Nachlasses in der Berliner Staatsbibliothek, Dr. Siegfried Baur, der mir aus seiner umfassenden Kenntnis der dortigen Bestände und denen der Ranke-Library in Syracuse (NY) nicht nur viele wichtige Hinweise gab, sondern für meine Fragen und Bitten immer auch ein offenes Ohr hatte. Meine unmittelbare Zusammenarbeit mit ihm vor Ort kam meinem Manuskript nachhaltig zugute. Er hatte zudem die Freundlichkeit, ein Kapitel gegenzulesen. Sodann weiß ich mich den Direktionen des Deutschen Literaturarchivs Marbach und des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verbunden, die mir aus ihren Beständen in unbürokratischer Weise einschlägige Archivalien in Form von Scans und Kopien zugänglich machten – in pandemischen Zeiten war das für den Fortgang des Vorhabens wichtig, um Verzögerungen wegen ausgeschlossener Reisen und auch jenseits des Höhepunkts der Pandemie noch monatelanger Wartezeiten zur Benutzung nicht endlos werden zu lassen. Und natürlich erstreckt sich mein Dank auch auf die Berliner Einrichtungen, die mir bei meinen Forschungen vor Ort alle erdenkliche Unterstützung zuteil werden ließen: die Direktionen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz und des Akademiearchivs und deren zuständige Mitarbeiter. Den im Abbildungsverzeichnis genannten Einrichtungen in Berlin und Marburg danke ich für die Erlaubnis zur Reproduktion von Objekten aus ihren Beständen. In einer ophthalmologischen Spezialfrage lieh mir der Würzburger Emeritus Franz Grehn zum wiederholten Mal seine Expertise; ich weiß mich ihm dafür erneut herzlich verbunden. Den ersten Entwurf des Buchs las, wie stets, meine Frau Dr. Małgorzata Morawiec, eine leicht überarbeitete Fassung, aus einer fachfremden Perspektive, Dr. Stefanie Frosch. Beiden bin ich für ihre Hinweise von Herzen dankbar, was zugleich aber sagen will, dass die Letztverantwortung natürlich beim Autor bleibt.
Die hier vorgelegten Untersuchungen zur letzten anderthalben Lebens-Dekade Rankes münden, bei aller Bewunderung für die wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Leistungen des alten Mannes in der Berliner Luisenstraße, in ein durchaus kritisches Bild des Protagonisten ein. Bestimmte problematische Seiten seines Charakters, seiner Selbstwahrnehmung und seines wissenschaftlichen Arbeitens können nicht verschwiegen werden. Aber es ist nicht Sache eines verantwortungsbewussten Historikers, irgendwelche Klischees und Traditionen zu bedienen, er fühlt sich seinen Quellen, nur ihnen, verantwortlich und wird sie nie verbiegen.
Es ist eine große Freude, dass der Berliner Vergangenheitsverlag, der vor Jahr und Tag schon meine Biographie von Rankes Sekretär Theodor Wiedemann herausbrachte, spontan seine Bereitschaft bekundete, auch das vorliegende Buch in sein Programm aufzunehmen. Ich danke dem Verleger Dr. Alexander Schug für sein Interesse und ihm und seinen Mitarbeitern für die sorgfältige Begleitung der Drucklegung.
Ranke hat, abgesehen von seinen Erstlingswerken in den 1820er Jahren, seine Bücher eigenem Bekunden nach immer für ein ganz großes Publikum geschrieben, nicht in erster Linie für die Fachkollegen an den Universitäten. Ich habe mich zumindest bemüht, es sprachlich und von seinem Aufbau her – insofern, aber auch nur insofern auf Rankes Spuren – auch für einen breiteren Leserkreis zugänglich zu machen.
Einleitung
Die bis 2013 reichende Zusammenstellung der Literatur zu Leopold (von) Ranke in Günter Johannes Henz‘ gewaltigem Handbuch umfasst beinahe 150 Seiten und damit mehrere Tausend Titel. Besteht vor diesem Hintergrund irgendeine Notwendigkeit, die endlos lange Liste der (internationalen) Forschungsliteratur noch um einen Titel zu verlängern? Ist nicht zu Ranke, seiner Biographie, seinen Karrieren, seinem Wissenschaftsverständnis und seiner Wissenschaftlichkeit, der Formierung seines Geschichtsbegriffs durch Geschichtsphilosophie, Politik, eigene Erfahrungen und eigene Konstrukte, zu seinem gewaltigen Œuvre, seiner fortdauernden Wirkung auch „jenseits des Historismus", alles gesagt?
Ja und nein. Ja, denn der „Sättigungsgrad" an älterer und rezenter Forschung ist in der Tat gewaltig. Aber auch nein: Generell zählt die letzte Lebens- und Wirkungsphase Rankes, die nach dem tiefen Einschnitt von 1871, über den gleich zu sprechen sein wird, zu allem anderen als zu den bevorzugt behandelten Themen der Ranke-Forschung, die ohnehin in den zurückliegenden Jahrzehnten – wenigstens im deutschen Sprachraum¹ – in Bezug auf eine umfassende Ranke-Biographie vornehme Zurückhaltung geübt hat und über der Einbindung des Ranke-Œuvres in die rezenten Theorie-Debatten die Historisierung Rankes deutlich aus den Augen verloren hat. Es kann keine Rede davon sein, wie es kürzlich formuliert worden ist, dass man sich für die letzte Lebensphase Rankes auf einem „gut ausgeleuchteten Forschungsterrain befindet. Hinzu kommt, dass, abgesehen von der Ausgabe „letzter Hand
und der von Anfang an problematischen und über einen Torso nicht hinaus gekommenen Weltgeschichte, Rankes seit dem genannten Einschnitt entstandene Monographien allesamt mit den großen „Würfen" der früheren Schaffensperioden, dem Wallenstein oder den „Päpsten, der Reformationsgeschichte oder den beiden Nationalgeschichten, nicht (mehr) zu vergleichen sind. Manche sehen in den 1870er und 1880er Jahren nur noch Niedergang, nur das verzweifelte Bemühen eines Greises, „oben
zu bleiben, sein wissenschaftliches Standing im Fach und in der Öffentlichkeit behaupten zu wollen, und sei es auch mit Hilfe sehr problematischer Publikationen. Und solche Zeitfenster sind es nicht, die nach neuen Studien geradezu rufen².
Aber auch die Phasen des vermeintlichen wissenschaftlich Niedergangs haben ihren Reiz und bedürfen näherer Aufklärung. Was treibt einen zwar eitlen, zugleich jedoch hinfällig werdenden Wissenschaftler, der allen Grund gehabt hätte, sich auf seinen in der Vergangenheit akkumulierten Lorbeeren auszuruhen, dazu, in einer nachgerade atemberaubenden Frequenz weiter zu publizieren? Was bewegt ihn, sein ganzes Leben, das sich im Wesentlichen nur noch in den häuslichen vier Wänden abspielte, Großprojekten unterzuordnen, die (mutmaßlich) nie abgeschlossen werden könnten, sich zudem an bisher abseitigen oder gar fremden Gattungen wie der Biographie oder der Quellenedition zu versuchen? Ging es dem „Alten, wie er von manchen seiner jüngeren Kollegen teils etwas respektlos, meist aber wohl überaus respektvoll, genannt wurde, darum, seinen „Thron
als unbestrittener Doyen der deutschen, ja europäischen Historikerzunft zu verteidigen, oder war er im hohen Alter noch in der Lage, in seine Wissenschaft neue Impulse hineinzutragen?
Die wissenschaftliche Arbeit ist, das soll damit angedeutet werden, noch lange nicht getan. Ich habe in den zurückliegenden Jahren mehrfach Themen behandelt, die bisher unbeachtet oder vergleichsweise nur wenig reflektiert worden waren: so Rankes Augenprobleme, die am Ende dem Zustand völliger Blindheit sehr nahe kamen und ihn von Dritten abhängig machten; so sein Team, den Kreis der (Nachwuchs-)Wissenschaftler, die sich in den fraglichen Jahren um ihn scharten und ihm wissenschaftliches Weiterarbeiten überhaupt erst ermöglichten, um nur zwei Themenbereiche zu nennen. Und da einer alten Rankeschen Maxime zufolge³ jede Generation ihre Sicht der Geschichte und der sie prägenden Menschen neu zu schreiben hat, scheint mir dieser Punkt jetzt erreicht zu sein, um an die letzte Lebens- und Schaffensperiode Ranke von neuem Hand anzulegen, die bisher nicht im Fokus der Forschung gestanden hatte und mit abschätzig gemeinten Begriffen wie „Niedergang, „Abstieg
und „Dämmergrau" bedacht worden war.
Neben seinem fast in die Nähe der „geflügelten Worte aufgestiegenen „bloß zeigen, wie es gewesen
ist das Dictum, dass der Historiker alt werden müsse⁴, eins der am häufigsten verwendeten Zitate Rankes. Es liegt nahe, es zu variieren: Es bedarf (vielleicht) eines alten (oder doch älteren) Historikers, um den alten Protagonisten in seinen erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen zu „verstehen, um seinen „Marotten
verständnisvoll zu begegnen und zu ermessen, welcher Wille aufgebracht werden musste, um in den 1870er und vor allem in den 1880er Jahren noch ein Projekt nach dem anderen aufzugreifen und zu realisieren. Die Erkrankungen, die ihm das Leben schwer machten, der wissenschaftliche Gegenwind aus der Ecke der politischen und der nationalen Historie, der dem „Alten" zunehmend ins Gesicht stand, der völlig veränderte Lebensrhythmus, an den er sich nach dem Rückzug aus der Universität, dem Tod der Gemahlin und dem Verzicht auf alle Forschungsreisen zu gewöhnen hatte: das waren Herausforderungen, die erst einmal psychisch bewältigt werden mussten. Sein Glaube, ein sprichwörtliches Selbstbewusstsein, seine Fähigkeit, Kritik schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen, dazu das Miterleben des Nachwachsens einer Generation von Enkeln und Enkelkindern, waren neben seinem ungebrochenen Erkenntnisdrang wichtige Komponenten, um sich diesen Herausforderungen gewachsen zu zeigen.
Ich habe zu einem Zeitpunkt, als ich in etwa auf der Altersstufe war, die Ranke 1871, womit die vorliegende Studie zur letzten Lebens- und Schaffensphase des „Meisters einsetzt, erreicht hatte, dieses Manuskript in Angriff genommen. Es schreibt also ein „Alter
, auch wenn seine körperlichen Beeinträchtigungen mit denen Rankes nicht gleichgesetzt werden können, mithin ein Historiker, der Alter selbst „erfährt und die Rückwirkungen von Alter und Begrenzung auf Forschungsprozesse einzuschätzen vermag. Das darf selbstredend nicht in eine wie auch immer geartete Hagiographie einmünden und den getrübten Blick eines „Alten
für einen „Alten". Aber ein spezifisches Verständnis für die altersbedingten Befindlichkeiten eines Greises vernebelt, wie ich denke, nicht die Unvoreingenommenheit und die Objektivität eines Historikers, und das um so weniger, als sich sein Ranke-Bild nicht schon vor Jahrzehnten geformt und verfestigt hat.
Mit dem Frühjahr 1871 änderte sich für den weltweit gefeierten, mit vielen nationalen und internationalen Ehrungen bedachten und an Produktivität seinesgleichen suchenden Berliner Historiker beinahe alles, ja: alles. Der Tod der aus einer irisch-englischen Honoratiorenfamilie stammenden Ehefrau Clarissa, deren frühes Ableben nach einer langwierigen schweren Erkrankung fast schon absehbar geworden war, machte die gemeinsame große Wohnung in der Berliner Luisenstraße, über viele Jahre ein Treffpunkt von Berliner und internationalen Künstlern jedweder Art und Intellektuellen, leer. „Es wird mir jetzt sehr einsam werden in meinem Hause" schrieb der Witwer, prophetisch oder realistisch, Anfang Mai 1871 unmittelbar nach dem Tod Clarissas einem Freund⁵. Auch wenn die Freitagabende im Rankeschen Salon, an denen sich, wenn man den gelegentlich zu Übertreibungen neigenden Söhnen glauben darf, manchmal bis zu 60 oder gar 100 Persönlichkeiten, alle ohne formell eingeladen worden zu sein, versammelten⁶, vor dem Hintergrund von Clarissas Erkrankung schon in den 1860er Jahren rarer geworden waren, kamen sie nun, ganz unabhängig von Trauerzeiten, gänzlich zum Erliegen. Unmittelbar vor diesem (vorhersehbaren) Todesfall, am 26. April 1871, war der 75jährige Historiker, frustriert ob der dramatisch geschrumpften Zahl und dem offenkundigen Desinteresse der Hörer in seiner Vorlesung zur neuesten Zeit (seit 1789), für deren Ausarbeitung er sich viel Mühe gegeben hatte, mit Hinweis auf sein vorangeschrittenes Alter und ein ihm von der Krone angetragenes Publikationsprojekt (die nicht ausdrücklich genannten Hardenberg-Memoiren)⁷ um seine Entpflichtung eingekommen, der umgehend entsprochen wurde. Dramatisch zurückgehende Hörerzahlen, wachsende Differenzen zwischen der politischen Grundeinstellung des Professors und seiner Studenten, ein Vorlesungsstil, der sich überholt hatte – in Berlin gab es durchaus Parallelbeispiele, dass dies zum Anlass für die Einstellung der Lehrtätigkeit führte, wenn man beispielsweise an Schellings Rückzug aus der Universität 1846 denkt⁸. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass neben der Frustration über studentisches Desinteresse und neben dem dramatischen Gesundheitszustand seiner Frau auch eine eigene, ihn sehr belastende Erkrankung, eine „retentio urinae", deretwegen er sich für das Wintersemester 1869/70 von seinen Vorlesungen hatte dispensieren lassen wollen⁹, einer der Gründe für diesen Schritt war¹⁰.
Damit entfiel ein „Korsett", eine Art Taktgeber für den Tag: Der Gang zur Universität und die regelmäßigen Zeiten für die (mittägliche) Vorlesung und die Übung entfielen ebenso wie die für die Fakultätssitzungen und die Kommissionen und für die feierlichen Promotionen seiner Schüler – der Tagesablauf musste sich neu erfinden. Und das wurde umso zwingender, als ihm das Reisen, die auswärtigen Sitzungen von Kommissionen, die Besuche von Bibliotheken und Archiven seiner körperlichen Probleme wegen immer schwerer fielen und er aus demselben Grund auch von den lange und intensiv frequentierten Teilnahmen an Hofbällen und Soireen Abstand nehmen musste. Der Tag musste rundum neu gestaltet werden. Und es war ein Tag, der sich, abgesehen von wenigen Urlauben meist in seiner weiteren Heimat, auf Schloss Lodersleben, dem Wohnsitz seiner Tochter Maximiliane und ihres Mannes, wo er zwischen 1871 und 1876 regelmäßig einige Sommerwochen verbrachte, nur noch in den eigenen vier Wänden abspielte. Vor dem Hintergrund des bisherigen ausgefüllten sozialen Lebens Rankes kann es kaum überraschen, dass die neue Beschränkung auch aufs Gemüt schlug, fin-desiècle-Stimmungen (und zudem ein wenig Selbstmitleid) in Gang setzte, wenn er beispielsweise in einer „Sylvesterbetrachtung 1872, seine „Freunde
mit ihren Gedanken zitierend, die aber auch die seinen waren, formulierte: „Die eigentliche Impression bei meinen Freunden ist schmerzlicher Natur; denn eigentlich alles, worauf wir beruhen, gehe zu Grunde"¹¹. Auf dieses von Skeptizismus durchtränkte Tagebuchblatt und seinen politischen Hintergrund wird zurückzukommen sein¹².
Die Quellenlage für den „alten, also den späten Ranke ist auf den ersten Blick nicht schlecht. Zwar reichen die vier autobiographischen „Diktate
Rankes¹³ nicht bzw. nur im letzten von 1885 mit dem allerletzten Satz in die Zeit nach 1871 hinein (und dürfen generell zudem nicht zum „Nennwert genommen werden¹⁴), und seine „Tagebücher
sind nie regelmäßig geführt worden, sondern geben nur fallweise „Gedanken, Impressionen, Betrachtungen zu politischen und anderen Ereignissen des Tages, zu Kunst und Literatur, gelehrte Informationen wieder¹⁵. Aber seine Korrespondenz ist in den verschiedenen Editionen zumindest annähernd so weit erschlossen, dass man ein Gerüst zur Hand hat – obwohl insgesamt nicht der Brief, sondern das meist monologisierende ‚Gespräch‘¹⁶ zu Rankes bevorzugten Kommunikationsformen gehörte, zumal im Alter. Diese Editionen setzten schon kurz nach seinem Tod ein, so von Carl Geibel, seinem Verleger, der 1886 eine wichtige gegenstandsorientierte Quelle von 216 Briefen vorlegte, und von Alfred Dove, der im letzten Band der „Sämmtlichen Werke
(1890) 298 Briefe mitteilte, die freilich einseitig die Familienkorrespondenz bevorzugten¹⁷. Editionen aus späteren Jahrzehnten schlossen sich an und reichen bis nahe an die Gegenwart heran: Endlos viele Kleinsteditionen, die zu einem erheblichen Teil Rankes frühe Biographie und nicht das hier interessierende Zeitfenster betreffen, die von Etta Hitzig, Rankes Nichte, edierte Korrespondenz mit dem Bruder Ernst (1906), Walther Peter Fuchs‘ und Hoeft/Herzfelds eindrucksvolle Sammlungen aus dem Jahr 1949 bis hin zu Günter Johannes Henz‘ gewichtiger Nachlese aus dem Jahr 1972. Da die Korrespondenzen Rankes bei seinem Tod aber auf endlos viele Empfänger verstreut waren und im Familienkreis ganz widersprüchliche und wissenschaftlich abstruse Vorstellungen von künftigen Editionen („Familienbriefe, „Reisebriefe
u. ä.) entwickelt wurden¹⁸, ist die epistolarische Editionsgeschichte insgesamt fraglos ein Kapitel der „Irrungen und Wirrungen". Ranke selbst legte, obwohl er früh (1867) einmal von einer posthumen Auswahledition seiner Briefe gesprochen hatte¹⁹, auf eine verlässliche Sammlung seiner Korrespondenz mit Dritten keinen Wert, wie er ohnehin kein bemühter oder gar verlässlicher, sondern ein nachlässiger und widerwilliger, oft genug auch fordernder, um etwas nachsuchender Briefpartner war, der Briefe – sieht man von seiner Frühzeit ab – vor allem aus dienstlichen und geschäftlichen Gründen verfasste, die somit keine literarischen oder intellektuellen Ansprüche erhoben. Im Alter ging er nolens volens gar zu der Praxis über, Briefe an einen bestimmten Empfängerkreis von seinem Sekretär Wiedemann formulieren und schreiben zu lassen²⁰ und in den verschiedenen Entwürfen seines Testaments immer wieder auf den Gedanken zurückzukommen, nach seinem Tod seine gesamten (eingegangenen) Briefschaften zu verbrennen. Das geschah zwar nicht²¹, es kann aber keineswegs ausgeschlossen werden, dass Ranke deutlich früher selbst Briefcorpora, von denen er glaubte, sie könnten vor der Nachwelt ein diskriminierendes Licht auf ihn werfen, dem offenen Kamin übergab – oder von seiner Frau vernichten ließ²². „Indiskretionen", ob zu Lebzeiten oder post mortem aus seinen Briefen abgeleitet, waren für ihn generell ein Trauma²³. Er wollte vor der Nachwelt der Mann ohne Fehl und Tadel bleiben, der Wissenschaftler, der nur seiner Profession lebte und den die „Niederungen" des Alltags nicht interessierten.
Vor diesem Hintergrund konnte Henz in dem eingangs vorgestellten Kompendium auch nicht umhin, sich des Langen und Breiten mit der Geschichte der Briefeditionen zu beschäftigen und heftige Angriffe vor allem gegen die Publikation von Walther Peter Fuchs zu führen²⁴, der den Eindruck hatte hervorrufen wollen, alles sei mit den „Editionen der von Ranke ausgehenden Briefe von 1949 – und den parallel publizierten „Neuen Briefen
– jetzt bekannt. Tatsächlich ist das aber längst nicht der Fall. Fuchs hatte von den seinerzeit bekannten etwa 1250 Briefen Rankes nur eine Auswahl publiziert, sie zudem mit manchmal sehr problematischen Kürzungen versehen, und zu allem Überfluss ein Viertelhundert bereits gedruckte Briefe schlicht übersehen. Die seit damals publik gewordenen Einzelstücke, darunter 35 bisher völlig unbekannte Briefe, die Henz 1972 mitteilte, unterstreichen nur, dass das Corpus der Ranke-Briefe keineswegs als abgeschlossen gelten kann – Henz‘ Hinweise auf die in den Archiven und Bibliotheken noch unbearbeitet liegenden Korrespondenzen²⁵ unterstreichen das eindrucksvoll. Ob die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Angriff genommene „Gesamtausgabe" seines Briefwechsels in absehbarer Zeit über den ersten, bis 1825 reichenden und inzwischen (2016) neu bearbeiteten Band hinauskommen wird, der allein für sich schon eine aufregende Publikationsgeschichte hat, ist kaum vorauszusagen. Zumindest würde Mut dazugehören, die Frage im Hinblick auf die zu bewältigenden, im Lauf der Jahrzehnte noch zunehmenden paläographischen Schwierigkeiten, die Bearbeitungszeit pro Band und damit die allenfalls überschlägig zu bemessende Laufzeit des Projekts zu bejahen. Denn es gibt (leider) nicht wenige Editionsprojekte – wie das Andreas Boldts zu Clarissa Rankes und ihres Mannes Korrespondenz mit den englischen Verwandten –, die, wohl aus Einsicht, auf der Strecke geblieben sind. Viele der Teileditionen von Briefen, so die Briefe Rankes an seinen Verleger Perthes oder die Sammlung von achtzehn ungedruckten Briefen Rankes an verschiedene Empfänger, die Helmolt 1921 veröffentlichte, sind für die hier interessierende letzte anderthalbe Lebensdekade Rankes ohne Belang.
Andererseits liegen selbstredend Korrespondenzen Dritter mit Ranke im Druck vor, also Briefe an den Historiker, die in den jeweiligen Teileditionen greifbar werden, so etwa von Alfred Dove (Oswald Dammann) oder von Edwin von Manteuffel (Dove in einer allerdings willkürlichen und zudem fehlerhaften Edition) und nicht zuletzt, das familiäre Umfeld beleuchtend, von Walther Peter Fuchs (Heinrich Ranke). Die Fragmentierung der Editionen von Briefen Dritter an Ranke – Henz sprach 1972 von 40 Publikationen, in denen sich Briefe Dritter an Ranke fänden – erreichte eine Art Höhepunkt in den HZ-Beiträgen Conrad Varrentrapps in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, in denen ziemlich wahllos bekannt gewordene Briefe von Freunden und Kollegen an Ranke mitgeteilt wurden. Über die brieflichen Quellen hinaus sind „Erinnerungen" auf uns gekommen, so aus dem Familienkreis (von Friduhelm von Ranke, Etta Ranke, seiner Großnichte und Schwiegertochter Lily [Selma] von Ranke), die allerdings schwerpunktmäßig meist die Jahre vor 1871 betreffen, und solche aus dem Kreis seiner Mitarbeiter, sie ausschließlich für das hier interessierende Zeitfenster relevant (Theodor Wiedemann²⁶, Georg Winter²⁷). Andere Quellen, so seine Vorlesungen, von denen bisher nur die Einleitungen publiziert wurden²⁸, sind für die Fragestellung dieser Studie von minderer Relevanz, weil Ranke, wie erwähnt, seit 1871 keine Kollegs mehr hielt.
Auch die Literaturlage ist alles andere als unbefriedigend. Ich spreche von mehreren Tausend Titeln, die in der eingangs genannten zweibändigen Publikation, einer Art Handbuch der Rankeistik, die geradezu eine (immer wieder angemahnte²⁹) Ranke-Bibliographie ersetzt, minuziös zusammengestellt worden sind. Ihr Bearbeiter, Günter Johannes Henz, hat mit diesem Werk eine Art Bilanz eines viele Jahrzehnte umfassenden Ranke gewidmeten Lebens gezogen, das ihn seit seiner Kölner Dissertation von 1968 Leopold Ranke: Leben, Denken, Wort 1795-1814 zu dem Ranke-Kenner der Gegenwart schlechthin gemacht hat. Die genannte Publikation von 2014 Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung ist für Rankes Leben, seine Werke, sein Umfeld und vor allem seine Rezeption und Wirkungsgeschichte bis zur Gegenwart, womit sie weitgehendes Neuland beschritt, grundlegend und wird auf Generationen hinaus ein Meilenstein in der Ranke-Forschung bleiben³⁰ – auch wenn man nicht jede Bewertung und jedes gelegentlich scharfe Urteil des Verfassers teilen mag. Die Anmerkungen des vorliegenden Buches werden verdeutlichen, welch zentrale Bedeutung Henz‘ Kompendium für die Forschung und die Forschungsgeschichte zukommt.
Gleichwohl macht dieses Handbuch die vorliegende Studie zur Spätphase Ranke, seiner letzten anderthalben Lebensdekade, nicht überflüssig, weil sie sich auf ein Zeitfenster fokussiert, das in der Forschung als Phase vermeintlichen „Abstiegs" weit weniger Interesse gefunden hat³¹ als insbesondere die Anfänge des Historikers und die Zeiten seiner großen Werke. Rezente gewichtige Bücher wie Henz‘ und Baurs Dissertationen³², Untersuchungen wie Muhlacks „Genese eines Historikers³³ oder Schulins Studie zur Rankes Erstlingswerk³⁴ sind ausnahmslos dem „jungen
Ranke gewidmet. Auch die Bonner Dissertation von Gisbert Bäcker über den Historiker im Kontext seiner Familie, um ein letztes Beispiel anzuführen³⁵, kommt für diese Untersuchung nur eingeschränkt in Betracht, weil sie quellenbedingt vor allem die Jahre bis zu Clarissas Tod (1871) im Auge hat. Selbst das oben genannte biographische Standardwerk von Leonard Krieger verwendet gerade einmal 30 von 350 Seiten auf Rankes letzte anderthalbe Lebensdekade!
Auch wenn sich das pandemiebedingt schwieriger als zu „normalen Zeiten gestaltete, wurden für dieses Buch – wenigstens in begrenztem Umfang – ungedruckte Quellen in Berliner Einrichtungen (Geheimes Staatsarchiv, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz) und im Marbacher Literaturarchiv herangezogen, die zwar von Henz und anderen bereits eingesehen worden waren, aber dennoch in Einzelheiten neue Erkenntnisse erbracht haben. Der Hauptnachlass Rankes liegt in der Berliner Staatsbibliothek und wird dort, nachdem zunächst die ursprüngliche Ordnung des Nachlasses gemäß Ranke fragiler „Ordnung
rekonstruiert werden musste, nicht ohne anfängliche innerbetriebliche Reibungsverluste seit über zwanzig Jahren von Siegfried Baur aufgearbeitet und erschlossen, auch er seit seiner Berliner Dissertation von 1996 Versuch über die Historik des jungen Ranke, mithin seit seinen wissenschaftlichen Anfängen, ein Ranke-Spezialist. Die Verzeichnungsarbeiten der legendären 93 Kästen mit ihren rund 50.000 Blatt haben, sogar vorrangig, auch die letzte Lebensperiode Rankes erreicht. Für dieses Buch wurden vor allem die Datensätze zur Weltgeschichte, die mit ihren über 100 Ausdruck-Seiten seit gut einem Jahrzehnt im Kalliope-Verbundkatalog eingesehen werden können und vielfältiges neues Licht auf die Entstehung der einzelnen Bände werfen, herangezogen. Im Geheimen Staatsarchiv und dem dortigen Bestand „Kultusministerium" waren zentral wichtig die Akten der Philosophischen Fakultät und die Ministeriums-Personalakte Ranke, dies um so mehr als nach Mitteilung des Archivs der Humboldt-Universität die Fakultäts-Personalakte Ranke dort nicht (mehr) vorhanden ist. Eine flächendeckende Erhebung des auf unglaublich viele Einrichtungen zerstreuten sonstigen archivalischen Materials erschien auch deswegen nicht zwingend, weil Henz für sein Handbuch in jahrzehntelanger Arbeit alle in Betracht kommenden Archive und Bibliotheken durchforstet und in seinem opus magnum zu einem guten Teil auch zum Sprechen gebracht hat. Wirkliche „Überraschungen" sind mit einiger Wahrscheinlichkeit insofern nur noch im Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek zu erwarten, unbeschadet der Tatsache, dass in den von Henz ermittelten weit verstreuten anderen Beständen noch bemerkenswert viel Unediertes und Unbekanntes schlummert. Die Ranke-Forschung wird weitergehen, denn Material, das der Aufbereitung harrt, gibt es für viele Forschergenerationen noch in Hülle und Fülle.
Prolog: Der Mann
Rankes Leben und Werk waren – weit über den Kreis der Zunftgenossen hinaus – dem deutschen Bildungsbürgertum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts über Generationen hinweg wenigstens in ihren Grundzügen geläufig. „Man besaß zumindest einige seiner Werke, die „Reformationsgeschichte
, die „Päpste", den Wallenstein, „man wusste um seine lange Karriere, um die Hekatomben von Schülern, die von ihm ausgebildet worden waren, um seine wissenschaftsorganisatorischen Leistungen, um seine Nähe zur Dynastie, um sein „Weltbild
und manch anderes mehr. Da seine Schüler – die Bresslau und Büdinger, die Cornelius und Dove, die Dümmler und Hegel, die Lehmann und Lindner, die Prutz und Moriz Ritter, die Sickel und Simson, die Stern und Varrentrapp – sowie Ranke-Verehrer wie Friedrich Meinecke³⁶ bis (zum Teil weit) ins 20. Jahrhundert hinein die historischen Lehrstühle in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland besetzten und ganze Kohorten seiner Schüler im höheren Schuldienst reussierten, kann es kaum überraschen, dass sich seine memoria im kollektiven Bewusstsein der Deutschen lange hielt. Im Übrigen gilt das angesichts der Fülle von Studenten aus ganz Europa von Russland bis Schottland und von Schweden bis Rumänien und aus den USA, die, wie es in Kondolenzbriefen oft formuliert wurde, „zu seinen Füßen saßen", auch für andere Weltregionen.