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Mitra: Magisches Erbe - Start der Hamburger Urban Fantasy Trilogie
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eBook343 Seiten4 Stunden

Mitra: Magisches Erbe - Start der Hamburger Urban Fantasy Trilogie

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Über dieses E-Book

Das hat sich die 16-Jährige Mitra anders vorgestellt. Sie wollte in Hamburg ein neues und normales Leben beginnen. Doch nun muss sie sich zusätzlich zu ihrer Ausbildung mit ihrer magischen Gabe, einem nervigen Hausgeist und zwei Kerlen herumschlagen. Und dann wird sie auch noch in einen alten Kampf um Macht und Magie zwischen den Elementen hineingezogen, den nur sie wieder befrieden kann. Nur gut, dass sie in Aggy eine echte Freundin hat, die mit ihrer speziellen Art Mitra durch dieses Chaos begleitet. Der erste Teil der magischen Trilogie um Mitra und ihre Freunde.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Jan. 2018
ISBN9783746900759
Mitra: Magisches Erbe - Start der Hamburger Urban Fantasy Trilogie

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    Buchvorschau

    Mitra - Björn Beermann

    Prolog

    Die Nacht und eine drückende Schwüle hatten sich über den Stadtpark gelegt. In der Ferne hörte man bereits das tiefe Grollen eines nahenden Gewitters.

    Zwei Frauen passierten eilig den Parksee. Ihr Ziel war eine Steinfigur, die in der Nähe der Badestelle vor kurzem zerstört worden war. Ursprünglich stellte sie einen Jungen mit einem Reh dar, jetzt stand nur noch der Sockel. Vor ihm lagen die Brocken verteilt auf dem Boden herum.

    Von den vereinzelten Nachtschwärmern, die den Park besuchten, wurden die beiden Frauen mit den Kerzen in der Hand nicht beachtet. Sie hatten einen Schutzzauber beschworen, der sie davor bewahrte, von den Leuten gesehen oder gehört zu werden. Die wenigen Menschen, die sich in der Nähe aufhielten, johlten und lachten, schrien und sangen lauthals, ohne dass sie genau wussten, warum sie das taten.

    Es lag Energie in der Luft, die sich um die Brocken der zerschlagenen Steinfigur verdichtete.

    Die beiden Frauen blieben genau vor den Brocken stehen. Auch sie wurden von der unnatürlichen Energie, die hier austrat, beeinflusst, konnten diese mit ihrer Kraft aber nahezu abblocken. Die Frauen betrachteten die Steinbrocken besorgt.

    Die jüngere der beiden schaute die Ältere an.

    „Mal sehen, was sie uns sagen kann."

    Die Ältere nickte, und die Jüngere berührte einen der Brocken. Sie zuckte augenblicklich zurück und schrie auf. Tränen standen in ihren Augen. Die Ältere massierte ihr die Schulter.

    „Sie weiß es nicht genau. Aber sie glaubt, dass eine Wächterin ihr das angetan hat", sagte die Jüngere bestürzt und stöhnte auf.

    „Eine von uns?"

    „Macht ist anziehend." Wie beiläufig wischte sich die Ältere eine Strähne ihrer kaum zu bändigenden feuerroten Haare aus dem Gesicht.

    Die Jüngere blickte zu Boden. Ihre Lippen bebten. „Es beginnt also wieder?"

    Die Ältere nickte.

    „Aber sobald Mitra bei uns ist, kann es gut werden, nicht wahr?

    Sie könnte diejenige sein. Die Erste aus zweien."

    Die Ältere drehte sich abrupt zu ihr herum. „Es hat sich nichts geändert. Keiner setzt sie unter Druck. Sie muss es wollen, sonst ist alles verloren."

    Abschied

    Mitra lag auf ihrem weichen Kingsize-Bett, hörte ihre N’Sync- CD als Hommage an ihre Kindheit und starrte die Wände ihres Zimmers an. Obwohl sie gar nicht so viel eingepackt hatte, kam es ihr jetzt so leer vor. Ihr Blick glitt zu ihrem riesigen Trolley. Heute fing ihr neues Leben an. Ihre Haut begann zu kribbeln, und ihr Herz schlug heftig. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht, bis sie im Nachbarzimmer den Staubsauger hörte. Sofort zog sich ihre Kehle zusammen. Konnte sie ihren Vater wirklich hier alleine zurücklassen? Würde er es ohne sie schaffen?

    Sie schnippte mit ihren Fingern gegen ihr schlechtes Gewissen an. Ein Tick, den sie sich bei Nervosität bereits als kleines Kind angeeignet hatte. Sie wusste, was er jetzt gerade machte: Er starrte auf das Foto ihrer Mutter, das letzte in dieser Wohnung, und weinte. Der Staubsaugerlärm war nie laut genug gewesen, um es zu übertönen.

    Sie und ihr Vater hatten nach dem Unfall alles, was ihrer Mutter gehört hatte, aus der Wohnung und aus ihrem Leben verbannt, in der Hoffnung, dass damit auch der Schmerz über den Verlust aufhören würde. Mitra musste aber zugeben, dass das nicht gelungen war.

    Sie ächzte, als sie sich aufrichtete. Es wurde Zeit. Noch einmal schaute sie sich im Raum um und schluckte einen Kloß im Hals hinunter. Dann strich sie liebevoll über die Zimmerpflanzen, die sie nicht mitnehmen konnte, schnappte sich den Koffer und klopfte an das Zimmer ihres Vaters.

    Als sie vorsichtig hineinlugte, saß er mit abgewandtem Gesicht auf dem schmalen Bett und stopfte hektisch ein Foto in den Nachtschrank. Er fuhr sich übers Gesicht, stellte den auf dem Boden liegenden Staubsauger aus und lächelte sie aus verquollenen Augen an.

    „Bist du fertig?"

    Mitra nickte, während sie verlegen auf den Boden starrte.

    „Klasse! Ich bin so stolz auf dich, Fräulein Gold. Meine Tochter wird erwachsen."

    „Ich bin doch erst 16."

    „Schon fast 17."

    Mit einem Lächeln wischte er sich noch einmal übers Gesicht und griff nach dem Autoschlüssel.

    Reise ins Unbekannte

    Während der Autofahrt schwiegen beide. Die Augen ihres Vaters waren wieder feucht geworden, und Mitra wusste, was er gerade dachte: Seine kleine Tochter zog in die weite Welt hinaus. Sie betete, dass er nicht wieder anfangen würde zu weinen. Das wäre zu viel für sie gewesen.

    Das war auch der Grund, warum Mitra ihn gleich, nachdem sie am Bahnhof angekommen waren, dazu nötigte, wieder nach Hause zu fahren. Als sie ihm nachwinkte, atmete sie erleichtert aus.

    Sie schnippte wieder mit ihren Fingern. Alle zehn Sekunden wanderte ihr Blick zur großen Bahnhofsuhr. In 15 Minuten würde ihr Zug laut Plan losfahren. Was würde ihre Mutter ihr nun raten?

    So sehr Mitra auch versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen – ihr kamen nur Bilder von der Beerdigung in den Sinn. Sie wusste noch genau, wie sie damals, eingezwängt zwischen ihrem Vater und ihrer einst besten Freundin Viola, vor dem Erdloch gestanden und auf den Sarg hinabgeblickt hatte. Sie hatte die gesamte Zeit nur an die abgedroschene Phrase „Asche zu Asche! Staub zu Staub!" gedacht. Rein biologisch betrachtet, stimmte das natürlich. Aber was war mit der Seele? Würde diese auch zu Staub werden? Einfach so?

    Ihr Vater hatte einfach wie eine leblose Hülle in die Leere gestarrt, und Viola hatte ihr ständig über den Rücken gestrichen. Sie hätte am liebsten geschrien. Und da hatte sie zwei rothaarige Frauen bemerkt. Rothaarig, wie ihre Mutter es gewesen war. Mitra hatte sie den Rest der Zeremonie nicht aus den Augen gelassen.

    Die Frauen waren, nachdem alle ihr Beileid bekundet hatten, auf sie zugekommen und hatten sich als ihre Großmutter Mildred und ihre Tante Minerva vorgestellt. Ihr Vater hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt und war stumm geblieben wie ein Fisch. Sie hatten Mitra nach Hamburg eingeladen und sich wieder verabschiedet.

    Viola hatte tröstend Mitras Hüfte umfasst, und dann war der Moment gekommen, in dem sie keine Berührung mehr hatte aushalten können. Sie hatte Violas Hand weggeschlagen und sie von sich weggeschubst.

    „Geh bitte!", hatte sie tonlos herausgebracht.

    Nachdem ihre Freundin sie eine Weile erschrocken angestarrt hatte, hatte sie sie tatsächlich alleine gelassen.

    Auf diese oder ähnliche Weisen hatte Mitra alle ihre Freunde mit ihrer Wut und ihrer Trauer verprellt. Schlussendlich hatte es keiner mehr mit ihr ausgehalten.

    Kurz vor ihrem Hauptschulabschluss hatte sie die Telefonnummer ihrer Großmutter in einer Schublade wieder- gefunden. Sie hatten einige Male miteinander telefoniert, und Mitra hatte beschlossen, sich einen Ausbildungsplatz in Hamburg zu suchen und dort einen Neuanfang zu wagen.

    Mitra stand grinsend am Bahnsteig. Sie hatte es geschafft. Sie hatte einen Ausbildungsplatz in der norddeutschen Metropole angeboten bekommen, als Kauffrau in einem großen Unternehmen für ökologisch verträgliche Verpackungen. Nun würde alles wieder so werden wie früher, wie vor dem Unfall. Allerdings kannte sie in Hamburg niemanden. So ein Neuanfang bedeutete auch, dass sie sich mühsam alles neu aufbauen musste.

    Sie wippte unruhig hin und her, während sie sich mit ihrem Fingergeschnippe langsam selbst auf die Nerven ging. Noch konnte sie wieder nach Hause gehen, ihre Ausbildung in Hamburg kündigen und einfach hierbleiben. Sie dachte an ihren Lieblingsbaum im Wald, auf den sie eine Zeit lang fast täglich geklettert war, wenn ihr alles zu viel geworden war, und an ihren Vater, wie er das Foto ihrer Mutter anstarrte. All das würde sie zurücklassen.

    Der Zug nach Hamburg fuhr ein, und Mitra blieb wie angewurzelt stehen. In ihre Angst vor dem Neuen mischte sich ein bisher unbekanntes Gefühl. So etwas wie eine Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn sie in diesen Zug stiege. Sie wich einen Schritt zurück und stieß direkt gegen eine Säule. Verwirrt rieb sie sich ihren Hinterkopf und drehte sich um.

    Sie starrte die Säule benommen an. Es war eine Art Litfaßsäule, die mit Werbeplakaten vollgeklebt war. Ein Plakat fiel ihr sofort auf. Eine Frau mit Föhnwelle war darauf zu sehen, die sie kokett anlächelte, während sie in einem gepunkteten Kleid staubsaugte.

    Mitra bewegte sich leicht hin und her und erstarrte. Sie musste unter Halluzinationen leiden, denn irgendwie fühlte sie sich von dieser Frau beobachtet.

    Ein Schaffner kam auf Mitra zu und nahm ihren Koffer hilfsbereit in die Hand. „Möchten Sie mit in Richtung Hamburg?", fragte er.

    Mitra nahm den Schaffner gar nicht wahr. Sie konnte ihren Blick nicht von der Frau abwenden und nickte ihr zu, um zu sehen, ob und wenn ja, wie diese darauf reagierte. Der Schaffner interpretierte ihr Nicken als ein Ja. Er schob sie an der Schulter in Richtung Zug und hievte den Koffer hinein.

    Die Frau auf dem Plakat zwinkerte ihr zufrieden zu. Und während Mitra den Zug bestieg, erwachte sie aus ihrer Trance. Sie wollte sich schnell ihren Koffer greifen und den Zug wieder verlassen, doch in dem Moment schlossen sich schon die Türen, und sie war gefangen. Sie versuchte, die Tür mit ihren Händen wieder aufzustemmen, doch es war vergebens. Sie rührte sich keinen Millimeter mehr.

    Der Zug setzte sich in Bewegung. Und Mitra blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Sie atmete tief durch.

    Okay, okay, was soll’s. Es ist wichtig, das Nest zu verlassen. Eine Ausbildung ist auch wichtig. Wenn es dir da nicht gefällt, kannst du immer noch nach Hause zurück. Hör auf, so ein Angsthase zu sein und hör auf, mit dir selbst zu reden!

    Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihrem Koffer um. Dabei fiel ihr ein Mann mittleren Alters auf, der sie amüsiert beobachtete. Ihre Blicke trafen sich kurz, und Mitra schaute schnell nach unten, schnappte sich ihren Trolley und eilte an ihm vorbei, bevor er ihr rotes Gesicht sehen konnte.

    Als sie ihren Waggon erreicht hatte, verstaute sie den Koffer an der Seite des Flures und suchte ihren reservierten Platz. Einen Moment später ließ sie sich seufzend neben einer alten Frau, die sie abschätzig begutachtete, auf den Sitz fallen. Mitra nickte ihr kurz zu und schluckte die aufsteigende Säure hinunter.

    Nun war sie also auf dem Weg nach Hamburg.

    Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie in einer Stellenanzeige gelesen, dass das Unternehmen Telmec eine Auszubildende zur Kauffrau für Büromanagement suchte. Ohne weiter nachzudenken, hatte sie sich beworben. Das Vorstellungsgespräch hatte in Berlin in der Personalabteilung stattgefunden. Und jetzt würde sie tatsächlich in der kaufmännischen Zentrale in Hamburg anfangen.

    Hamburg! Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, fühlte sie sich ihrer Mutter näher. Sie schluckte. Ihre Mutter war in Hamburg geboren und hatte dort lange Zeit gelebt. Sie hatte ihr nie viel aus diesem Abschnitt ihres Lebens oder von ihrer Familie erzählt. Jedes Mal, wenn Mitra nachgefragt hatte, war sie so traurig geworden oder war dem Thema ausgewichen. Irgendwann hatte Mitra schließlich akzeptiert, dass nur noch ihre Großeltern väterlicherseits existierten. Und jetzt würde sie in Hamburg bei ihrer Großmutter und ihrer Tante, die sie kaum kannte, wohnen.

    Mitra seufzte und schaute an ihrer Sitznachbarin vorbei aus dem Fenster. Kurze Zeit später döste sie, eingelullt von den gleichmäßigen Fahrgeräuschen, ein.

    Sie wachte erst auf, als sich ein dürrer Finger in ihre Schulter bohrte und sie aus ihrer unruhigen Traumwelt zerrte. Unwillig drehte Mitra den Kopf in die Richtung der Störung. Aus verschlafenen Augen betrachtete sie ihre mürrische Nebenfrau.

    „Sie haben ja einen sehr tiefen Schlaf."

    Mitra bemerkte einen vorwurfsvollen Ton in der Stimme der ältlichen Dame. Ihr Gehirn war aber noch voller Watte. Deswegen blieb sie einfach stumm und schaute sie unverwandt und wahrscheinlich ein bisschen dümmlich an.

    Die Frau wurde zusehends ungeduldiger. „Ich muss an Ihnen vorbei. Stehen Sie auf!", drängelte sie.

    Mitra war noch nicht ganz in dieser Welt angekommen. Dementsprechend langsam zwängte sie sich aus ihrem Sitz heraus und gab den Weg für die Dame frei. Diese zischte an Mitra vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

    Seufzend ließ Mitra sich wieder auf ihren Sitz fallen und betrachtete den vorbeiziehenden Rangierbahnhof Maschen. Durch den Lautsprecher wurde Hamburg-Harburg durchgesagt. Ihre Lider wurden wieder schwerer. Auf einmal verlangsamte sich der Zug und kam ruckelnd zum Stillstand.

    „Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund des derzeitigen hohen Wasserstandes der Elbe verzögert sich unsere Weiterfahrt um wenige Minuten", ertönte die Durchsage eines gestresst klingenden Mitarbeiters der Bahn.

    Mitra fuhr sich durch ihre kurzen braunen Haare und starrte den Lautsprecher genervt an. Kurz danach ging jedoch ein Ruck durch den Zug, und er setzte sich bedächtig wieder in Bewegung.

    „Geht doch", murmelte sie.

    Sie überquerten in sehr langsamem Tempo eine Brücke. Von oben erblickte Mitra den angeschwollenen Fluss und einige Gebäude, vor denen Sandsäcke aufeinandergestapelt waren, die sie vor dem Hochwasser schützen sollten. Die Lage schien mehr als angespannt.

    Mitra hatte bereits in den Nachrichten gesehen, dass der außergewöhnlich hohe Wasserstand der Elbe die Stadt bedrängte. Es wurde fieberhaft nach Lösungen geforscht. Wenn sie es richtig verstanden hatte, waren sich die Experten allerdings noch nicht einmal über den Grund des Hochwassers einig.

    Mitra schaute weiter aus dem Fenster auf den Fluss. In Ufernähe ragten die Spitzen einiger Büsche aus dem Wasser heraus. Bisher hatte sie sich über ihre Sicherheit in Hamburg noch keine großen Sorgen gemacht, aber als sie es nun mit eigenen Augen sah, wurde ihr schon ein wenig mulmig.

    Aber was war das? Mitra starrte gebannt aus dem Fenster. Es schien ihr, als hätte sie dort unten im Wasser eine Regung wahrgenommen. Schwamm da jemand?

    Sie beugte sich näher ans Fenster heran und konnte tatsächlich einen Kopf erkennen. Eiskalte, meergrüne Augen schienen sie zu fixierten. Auch glänzende, schuppige Arme konnte sie ausmachen. Dieses Etwas grinste sie an, wodurch messerscharfe Zähne im Maul aufblitzten. Und es schien ihr zuzuwinken. Konnte das Ding sie überhaupt sehen? Und wo sie schon dabei war: Wie konnte es sein, dass sie dieses Etwas da unten so genau erkennen konnte – von hoch oben aus dem Fenster eines Zuges?

    Sie schaute sich hektisch um. Keiner sonst schien etwas zu bemerken, obwohl einige Passagiere mit Händen vor den Mündern auf den angeschwollenen Fluss hinabblickten. Sie schauderte. Vielleicht hatte sie es sich ja bloß eingebildet. Oder war sie wieder eingeschlafen? Mitra entspannte sich wieder. Das klang logisch. Träume konnten ja ziemlich konfus und realistisch sein. Doch da räusperte sich jemand vernehmlich neben ihr.

    „Junge Frau …"

    Ihre griesgrämige Sitznachbarin war wieder da. Mitra starrte sie ungläubig an und stand langsam auf. Von so einer langweiligen Schachtel würde sie niemals träumen, da war sich Mitra sicher. Schlagartig war sie hellwach und ging die Möglichkeiten in ihrem Kopf durch. Was hatte sie gerade in dem Fluss gesehen? Sie erinnerte sich an ein Märchenbuch, aus dem ihre Mutter ihr früher vorgelesen hatte. Darin war eine Nixe abgebildet, die ihrer Vision von eben sehr ähnlich sah. Es wäre doch möglich, dass ihr Gehirn ihr einen Streich gespielt hatte. Vielleicht kam genau jetzt dieses Bild in ihr hoch, da sie sich auf dem Weg nach Hamburg befand, wo ihre Mutter früher gelebt hatte?

    Mitra lächelte. Sie hätte Psychologie studieren sollen. Sie war nicht verrückt, sondern eine junge Frau, die ihr Leben in die Hand nahm. Heute war wirklich ein merkwürdiger Tag. Erst diese Säule im Bahnhof und jetzt das.

    Unbekannte Verwandte

    Schließlich fuhr der Zug in den Hamburger Hauptbahnhof ein. Am Bahnsteig wurde sie von einer Menschenmasse empfangen. Sie war in der Großstadt angekommen.

    Mitra blickte sich um und suchte nach ihren Verwandten. Doch durch das Drängeln und Schubsen der anderen Passagiere, die auch aus dem Zug oder in eine andere Richtung wollten, war das in Ruhe gar nicht möglich. Sie fühlte sich wie ein Blatt im Wind, das hin- und hergetrieben wurde. Und es wurde mit der Zeit auch nicht übersichtlicher, sondern bloß nerviger.

    Am liebsten hätte sie sich jetzt ihren Trolley geschnappt, sich auf eine menschenleere Wiese gesetzt, tief durchgeatmet und einen Kaffee genossen. Das Gras, die Blumen, der Wind, die Bäume und natürlich das Koffein hätten ihre Laune sicherlich gehoben.

    Jemand rammte ihr seinen Ellbogen in die Seite und beendete somit abrupt ihren Wunschtraum. Vielleicht hätte bereits ein Kaffee geholfen, um ihre Stimmung zu heben – oder wenigstens eine Toilette. Sie suchte den Bahnsteig nach entsprechenden Hinweisschildern ab.

    Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich einmal auf dem Absatz herum und erblickte zwei rothaarige Frauen. Beinahe hätte sie dabei einem Mann im Anzug ihre Hand ins Gesicht geschlagen. Sie wollte sich gerade bei ihm entschuldigen, doch da war er schon weitergegangen oder - geschoben worden.

    Sie zuckte mit den Schultern, wandte sich den beiden rothaarigen Frauen zu und lächelte leicht. Vor allem aus Erleichterung, dass sie nicht weiter nach ihnen suchen musste und somit bald aus dem Gedrängel kommen würde.

    „Hallo Mitra! Schön, dass du da bist." Die Augen ihrer Großmutter Mildred ruhten auf ihr.

    „Schön, dich wiederzusehen." Ihre Tante Minerva lächelte sie an.

    Mitra ließ die Umarmungen über sich ergehen. „Ähm … ich müsste noch kurz auf die Toilette." Sie schaute sich hilfesuchend um.

    Minerva lächelte breiter, beschrieb ihr den Weg und drückte ihr 60 Cent in die Hand.

    Als sie von der Toilette wiederkam, waren die beiden Frauen in ein intensives Gespräch vertieft, das von viel Körpereinsatz begleitet wurde. Mitra schlich sich im Schutz einer lärmenden skandinavischen Touristengruppe näher an sie heran.

    „Eine Frau auf einem Plakat?", fragte Mildred empört und schüttelte den Kopf.

    Minerva zuckte mit den Schultern: „Es hat doch funktioniert."

    Im Gedränge der Touristengruppe wurde Mitra weiter- geschoben. Nur mit äußerster Mühe konnte sie sich an den Wänden eines Kiosks auf dem Bahnsteig festhalten und so verhindern, weiter mitgeschleppt zu werden.

    Mitra atmete nach dieser Anstrengung durch und bemerkte dabei einen Schatten, der sich von ihrem löste und eilig davonhuschte. Sie schaute nach oben, ob ein Vogel diesen geworfen hatte, doch über ihr war nichts zu sehen. Es gab keine logische Erklärung für dieses dunkle Ding, das inzwischen mit einer düsteren Ecke verschmolzen war.

    Mitras Magen rumorte. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie an diesem Tag vor lauter Aufregung kaum etwas gegessen hatte. Sie lehnte sich an den Kiosk. Ihre Beine gaben nach, und so ließ sie sich langsam an der Wand auf den Boden rutschen. Das war alles ein wenig zu viel für einen Tag, dachte sie noch, bevor ihr schwarz vor den Augen wurde.

    „Schatz, du bist ja kalkweiß. Hast du einen Geist gesehen?", fragte ihre Tante.

    „Minerva! Hör auf! Mildreds Stimme war nicht laut, aber befehlsgewohnt. „Geht’s dir gut, Kind?

    Mitra starrte die beiden Frauen an. Warum nestelte ihre Großmutter jetzt eine Kerze aus ihrer Tasche und zündete sie an?

    „Ich will wieder nach Hause", flüsterte sie.

    „Was? Nach Hause?" Minervas Stimme klang beinahe hysterisch.

    Die weit aufgerissenen Augen ihrer Tante verengten sich allerdings zu Schlitzen, nachdem Mildred ihr einen Stoß in die Rippen versetzt hatte. Die Flamme der Kerze wurde größer. Mitra schaute fasziniert in das Licht.

    „Du hattest anscheinend einen sehr anstrengenden Tag. Komm doch erst einmal mit uns und schlaf wenigstens eine Nacht darüber", sagte ihre Großmutter ruhig.

    Mitra blickte weiter in die Flamme und nickte. Das klang vernünftig, fand sie. Das würde ihr sicher auch die Frau auf dem Plakat aufder Litfaßsäule am Heimatbahnhofraten. Sie rieb sich den Kopf. Die Stimme ihrer Großmutter beruhigte sie ein wenig. Zumindest eine Nacht sollte sie sich hier in Hamburg geben. Immerhin hing ja auch ein Ausbildungsplatz an dieser Entscheidung. Sie sollte erst einmal durchatmen und nichts überstürzen.

    „Ach, das ist keine Beeinflussung?", zischte Minerva ihre Mutter an.

    Diese strich sich völlig unschuldig eine rote Locke aus dem Gesicht. „Sie war panisch. Nachher wäre sie noch vor einen Zug gerannt, statt in diesen einzusteigen. Reiner Schutz also."

    „Reiner Schutz", äffte Minerva Mildred nach, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen.

    Mitra nahm die Unterhaltung der beiden Frauen nur noch als Hintergrundgeräusch wahr. In ihren Gedanken saß sie mit ihrer Tante und ihrer Oma gemütlich an einem runden Tisch und trank Tee, der sie wärmte und alles Schlimme vergessen ließ.

    In diesem Moment hätte sie eigentlich bereits stutzig werden müssen, denn sie mochte Tee normalerweise gar nicht. Sie sah es als gefärbtes Wasser an, das sie an Krankheit erinnerte. Doch jetzt konnte sie sich nichts Leckereres vorstellen. Sie stieg, beseelt von der Vorstellung, mit ihren Verwandten Tee zu trinken, in das bereitstehende Taxi ein.

    Heimat in Hamburg

    Eine knappe Viertelstunde fuhren sie durch den lärmenden und pulsierenden Verkehr. Minerva deutete immer wieder aufgeregt auf Sehenswürdigkeiten und erzählte Anekdoten dazu.

    „In diesem wunderschönen Gebäude hier befindet sich die Kunsthalle. Von außen ist sie allerdings wesentlich imposanter als von innen. Minerva zeigte aus dem Fenster auf einen See. „Und dort ist die Binnenalster mit der Wasserfontäne und rechts die Außenalster. Da siehst du häufig Segelschiffe. Viele joggen auch um die Alster. ‚Sehen und gesehen werden‘, heißt da die Devise. Sie lachte über ihren eigenen Einwurf.

    Mitra konnte über die Schönheit der Stadt nur staunen. Allerdings waren auch hier bereits Sandsäcke gestapelt worden, für den Fall, dass der Wasserpegel weiter steigen würde und die Promenade geschützt werden müsste. Darauf ging jedoch weder ihre Großmutter noch ihre Tante ein. Es wird schon alles gut. Mit Wasserkatastrophen kennt sich Hamburg aus, versuchte Mitra sich selbst zu beruhigen.

    „Der Dammtor-Bahnhof. Chic, nicht wahr? Da hinten ist das Hauptgebäude der Universität. Wunderschön, schwärmte ihre Tante. „Und erst die vielen Restaurants und Bars in der Nähe! Das Kino ist auch ganz entzückend. Hach, du wirst dich hier wohlfühlen.

    Minerva plapperte munter weiter, bis sie schließlich in die Auffahrt eines großen, mit Efeu überwucherten Fachwerkbaus einbogen. Knarzige Kastanienbäume schirmten es von der Straße ab. Mitra gähnte. Sie fühlte sich noch ein wenig benommen.

    Doch als sie das altehrwürdige Anwesen betrachtete, fiel jegliche Müdigkeit von ihr ab. Sie hatte bereits im Vorfeld versucht, im Internet Fotos von ihrer neuen Unterkunft zu finden. Allerdings war dafür gesorgt worden, dass diese unkenntlich gemacht worden waren. Diesem Anblick wäre aber ohnehin kein Foto gerecht geworden. Allein die Atmosphäre, die das Haus ausstrahlte! Sie konnte die Geschichte nahezu schmecken. Gleichzeitig fühlte es sich auch sofort nach zu Hause an.

    Mitra stieg aus dem Taxi. Noch überwältigt von ihren Eindrücken, strich sie einem steinernen Löwenkopf, der den Hausaufgang bewachte, gedankenverloren über die Mähne. Sie spürte sofort Energie durch ihren Arm fluten und hatte kurz den Eindruck, als ob sich der Kopf des Löwen ihrer Hand entgegenstreckte. Irritiert betrachtete sie die Tierfigur, die jedoch unbeweglich dasaß. Mitra schüttelte kurz den Kopfund lächelte.

    Pure Einbildung!

    Ihre Tante wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während sie diese Szene beobachtete.

    Mitra wandte sich wieder der Villa zu. Sie konnte nicht anders.

    „Das ist ein Erbstück", hörte sie die schon fast entschuldigende Stimme ihrer Großmutter hinter sich.

    Mitra nickte eingeschüchtert.

    „Wir stammen von Hamburgs Gründermüttern ab." Minerva strahlte abwechselnd das Haus und Mitra an.

    „Aha, entfuhr es ihr, weil sie nicht wusste, wie sie angemessen auf diese Information reagieren sollte. „Ist meine Mutter hier aufgewachsen?, fragte sie ehrfürchtig.

    Mildred nickte traurig. „Sie

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