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Niemand hört dich schreien
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eBook358 Seiten4 Stunden

Niemand hört dich schreien

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Über dieses E-Book

Ein siebenhundert Jahre währender Familienfluch - uralte Mauern verbergen unsagbaren Reichtum und eine unrühmliche Geschichte, versteckt und vergessen unter dunklen Fichtennadeln … Als die Autorin Rita Dankeschön den Landsitz der Familie Balandero mietet, haben sie und die zehn Gäste ihres Erzähl-Wochenendes keine Ahnung, worauf sie sich damit einlassen. Schon bald geschehen bösartige und gefährliche Dinge, die so alt sein könnten, wie die vom Efeu überwucherten Mauern. Dabei erscheinen ihnen zunächst die absurden Vorfälle und unheimlichen Begegnungen, die jeden in Angst und Schrecken versetzen, wie Einbildungen. Doch als die ersten Gäste spurlos verschwinden wird klar, einer von ihnen spielt ein doppeltes Spiel. Zu spät für eine Flucht wird es bald zur Lotterie, wer von ihnen das Landgut lebend verlassen wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Jan. 2022
ISBN9783347499614
Niemand hört dich schreien
Autor

Heike Gehlhaar

Über die Autorin: Heike Gehlhaar ist eine Autorin, die so einzigartig ist wie ihre Geschichten. Ihre Literatur ist alles andere als Mainstream, stattdessen zeichnet sie sich durch ihre Frische und Innovationskraft aus. Biografie: Heike Gehlhaar begann ihre Schriftstellerkarriere nach einem einschneidenden Schicksalsschlag. Das Schreiben wurde zu ihrer bewegenden Lebensreise, die sie nicht mehr losließ. Ihr erster Roman "Franziska - Eine Reise in die Zukunft" entstand aus dem Wunsch, sich selbst zu beschäftigen und wurde der Auftakt zu einer bemerkenswerten schriftstellerischen Reise. Schon ein Jahr später veröffentlichte sie "Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute. Die aufregendste Reise nach dem Orient-Express", gefolgt von "Niemand hört dich schreien", einem packenden Mysterie-Thriller, der im Januar 2022 auf den Markt kam. Im Dezember 2022 verzauberte sie ihre Leser mit "Florentina - Liebe fragt nicht", einer gefühlvollen Romanze. Schreiben ist für Heike Gehlhaar zu einer leidenschaftlichen Berufung geworden, die sie mit voller Hingabe verfolgt. Als Autorin vermag sie, ihren Lesern einzigartige Welten zu eröffnen und sie auf spannende literarische Reisen mitzunehmen. Persönliches: Die Autorin lebt mit ihrer Familie im grünen Herzen Deutschlands, was sie zu einem tieferen Verständnis der Natur und des Lebens inspiriert. Leserstimme: "Eine Autorin, die wunderschöne Romane schreibt. Neben der Hauptgeschichte bietet sie stets eine faszinierende Nebenhandlung. Ihr ruhiger, erzählerischer Ton und die nostalgische Atmosphäre in ihren Werken lassen oft vergessen, dass sie in der Gegenwart spielen. Wenn Sie nach einer Flucht aus dem Alltag suchen, werden Sie sie mit Heikes Romanen auf jeden Fall finden." - Zitat einer begeisterten Leserin Entdecken Sie die Welt von Heike Gehlhaar: Besuchen Sie die offizielle Webseite der Autorin und tauchen Sie ein in ihre fesselnde Literaturwelt: www.heikegehlhaar.de Folgen Sie ihr auf Instagram: @autoringehlhaar Verpassen Sie nicht ihre kreativen Beiträge auf TikTok: @heikegehlhaar Erleben Sie das Einzigartige und lassen Sie sich von den Werken von Heike Gehlhaar in den Bann ziehen.

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    Buchvorschau

    Niemand hört dich schreien - Heike Gehlhaar

    Kapitel 1

    Siebenhundert Jahre sind vergangen…

    Schwer, wie ein Marathon durch die Sahara, fühlt sich heute Morgen ihr Weg durchs Verlagshaus an. Die Autorin Rita Dankeschön verließ vor wenigen Minuten das Büro der Lektorin. Ungläubig verliert sich ihr starrer Blick im langen Flur zum Treppenhaus. Dabei war vor einer Stunde ihre Welt noch in Ordnung. Obwohl sie inzwischen beinahe im Parkhaus steht, fühlt sie, wie sich in ihrer Brust das Herz noch immer überschlägt. Mit einem unangenehmen Rauschen im Ohr und wie durch einen Tunnel hallen die Worte der Lektorin in ihrem Gehirn wider.

    Nie hätte sie damit gerechnet, dass das Manuskript vom ’Feuervogel’ auf so viel Ablehnung stößt. Nach dem Erfolg ihres Romans vom ’Hasen’ und der ’Trabant-Tür’ vertraute man ihr und wartete gespannt auf ein ebensolches faszinationsgeladenes Werk. An Spannung mangelte es dem neuen Buch keineswegs, dennoch schrieb sie etwas komplett anderes. Dass sich diese Tatsache zu einem Problem entwickeln könnte, war ihr nicht klar. In den vergangen Monaten fragte man seitens des Verlages nicht einmal nach. Sie gingen eben davon aus, dass sie eine Fortsetzung schreiben würde. Um ehrlich zu sein, war es auch so abgesprochen. Darüber hinaus ließ man ihr freie Hand. Aber seit einer halben Stunde weiß sie, so frei dann eben doch nicht.

    Eine Fortsetzung, wie soll das gehen? Die Frage treibt sie um.

    Viele Geschichten des so erfolgreichen Romans stammten ja schließlich nur bedingt aus ihrer Feder. Vor beinahe drei Jahren befand sich Rita schon einmal in einer ähnlichen Situation. Wie heute, saß sie damals vor jenem Büro und fühlte sich wie im Vorzimmer des Rektors ihrer Schule. Die Sichtung ihrer ersten Geschichte für das neu entstehende Buch gefiel der Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck hinter dem riesigen Schreibtisch offensichtlich nicht.

    »Die Ansätze sind gut!«, begann sie. »Sie haben wirklich Talent. Auch Ihr Exposee ist durchaus vielversprechend. Aber ich sage Ihnen: Eine Geschichte dieser Art ist in Ordnung, jedoch nicht mehrere! Sie müssen mehr Pep und Spannung in die Geschichten bringen, sonst langweilen wir die Leser. Vielleicht sollten Sie eine Spur Erotik oder Anrüchigkeit hineinbringen. Auch von kriminalistischen Inhalten lässt man sich gern verführen!«

    Nur der Zufall sorgte damals dafür, dass sie diesen Anspruch erfüllen und mit ihrem so entstandenen Roman einen recht beachtlichen Erfolg feiern konnte. Die chaotische Fahrt mit dem IC 2029 von Hamburg nach Nürnberg, der beinahe zehn Stunden vor einer Schneewehe stand, versorgte Rita mit so viel Stoff, dass es für einen vollständigen Roman reichte. Es war göttliche Fügung, dass sie ausgerechnet mit diesen Menschen im selben Abteil saß. Davon ist sie heute überzeugt. Allesamt fantastische Erzähler, mutig und mit einem goldigen Humor gesegnet. Noch immer pflegt sie mit allen einen regen freundschaftlichen Kontakt.

    Bei der Lesung zur Markteinführung ihres Buches hatte keiner von ihnen gefehlt. Auf dem Heimweg sah es zunächst so aus, als könnte es eine Wiederholung der damaligen Erlebnisse geben. Der Halt des IC währte allerdings nur kurz und so ging man auseinander. Jedoch nicht, ohne zu versprechen, sich in Zukunft nicht aus den Augen verlieren zu wollen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das auch gelingt. Die Ereignisse, die diese unterschiedlichen Menschen so eng zueinander brachten, waren schon einmalig und somit unvergesslich.

    Das nützt ihr jetzt überhaupt nichts. Inzwischen ist sie im Parkhaus und hält den Autoschlüssel in der Hand. Noch immer reagiert ihr Gehirn wie gelähmt. Es arbeitet, als hätte man es in ein Glas mit klebrigem Honig gesteckt. Ratlos sitzt sie in ihrem altersschwachen Polo. Der Vorschuss von fünftausend Euro ist lange aufgebraucht. Vier Monate, mehr Zeit will und kann man ihr nicht mehr einräumen. Ein neues Konzept in so kurzer Zeit? Achtzehn Monate schrieb sie an der Fantasiegeschichte. Als dünn und wenig verkäuflich bezeichnete es die Lektorin.

    Und nun? »Aufhören, nie wieder schreiben! Ich packe meine Sachen und verschwinde einfach!«

    Auch nach der zweiten Zigarette sitzt sie unbeweglich und kopfschüttelnd hinterm Lenkrad - sieht in den Rückspiegel und findet, dass sie furchtbar aussieht.

    »Na klar, den Kopf in den Sand! Und wovon soll ich den Vorschuss und die Vertragsstrafe zahlen, die damit auf mich warten?«

    Schon frühzeitig begann der Verlag, für sie und das erwartete Buch zu werben. Rita empfand es als eine große Ehre und hoffte auf einen sicheren Erfolg, wenn sie mit so vielen Vorschusslorbeeren an den Start gehen kann. Dumm nur, dass ihr neues Buch komplett durchfiel. Sie wirkt völlig apathisch und der Wagen steht noch immer auf dem Parkplatz. Wie lange, weiß sie irgendwann nicht mehr. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Dann kehrt sie langsam aus ihrer Starre zurück. Ihr Blick hängt am Armaturenbrett und ihre Ohren folgen den Werbesprüchen des Radios, die auf sie einprasseln. Mit beinahe leerem Kopf legt sie den Gang ein.

    »Der Wagen wird schon den Weg nach Hause finden«, murmelt sie.

    Wie von Geisterhand gesteuert fährt er tatsächlich los.

    In einem Jogginganzug, neben sich eine Flasche Rotwein, in ihre Kuscheldecke eingewickelt und mit verheulten Augen findet sie sich Stunden später auf dem häuslichen Sofa wieder. Die vergangenen Stunden erlebte sie wie in Trance. Ein Gehirn aus Watte, was jedes Bild durch einen Schleier sieht. Wie sie heimkam, ist ihr nicht wirklich bewusst. Gut, dass ein panisches Gehirn auch durchaus automatisierten Abläufen folgen kann. Rita ist der beste Beweis dafür. Schon das zweite Glas Rotwein!

    Eine halbe Packung nasser Tempos stapeln sich vor ihr auf dem Kissen und plötzlich kommt Leben und Bewegung in das Häufchen Unglück. Im Nebelschleier des nun wirkenden Alkoholspiegels erinnert sich ihr Unterbewusstsein an das Letzte was sie hörte, bevor der Automatismus sie einfach nur noch handeln ließ. Wovon der Werbespot berichtete, weiß sie nicht. Aber vor den glasigen Augen entsteht eine Idee und der letzte Strohhalm nach dem sie greift. Etwas, was nüchtern komplett verrückt und zum Scheitern verurteilt wäre. Aber Rita ist Gottsei-Dank alles andere als nüchtern. Krakelig und nur mit viel Fantasie ist nachzuvollziehen, was die wackelige Hand aufs Papier kritzelt. Erneut entsteht eine Erinnerungslücke.

    Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie sich am Schreibtisch sitzend. Das Display des Laptops blendet ihre müden Augen. Ratlos steht sie auf und alles, was sie noch bemerkt, ist das Kuschelkissen der Sofalandschaft an ihrem heißen Gesicht. Dann gehen alle Lichter aus.

    Nachmittag - 16:30 Uhr - ihre Augen werden erneut geblendet. Jetzt ist es die Sonne, die Rita ins Gesicht scheint. Sie weigert sich, die schweren Lider zu heben und doch schreit ihr Gehirn: »Aufstehen, dein Körper hat Bedürfnisse!«

    Eine halbe Stunde wird es dauern, ehe sie bereit ist, den neuen Tag, der sich schon dem Abend zuneigt, zu akzeptieren. Viel kaltes Wasser, eine Kanne Kaffee und drei Aspirin sollten Rita wiederbeleben. Eine weitere Stunde später schleppt sie sich in die Küche. Auf dem Weg dorthin kommt sie am Laptop vorbei und klappt ihn im Vorbeigehen, quasi aus Gewohnheit auf. Er ist noch immer an. Offenbar war sie gestern nicht mehr in der Lage, ihn ordnungsgemäß herunterzufahren. So ein vollständiger black out ist ihr noch niemals passiert.

    »Grund genug hatte ich und um ehrlich zu sein, würde ich gerne dort weitermachen, wo ich in der letzten Nacht aufgehört habe!«

    Stöhnend bleibt ihr Blick an dem Rest Rotwein im Glas hängen.

    »Was ist denn das?«

    Stirnrunzelnd verfolgt sie die geöffneten Pfade im Netz, denen sie gestern Nacht noch mühelos folgen konnte. Ganz langsam, beinahe in Zeitlupe erkennt sie, was sie im Vollrausch getan hatte. Noch auf einen Irrtum hoffend, starrt sie auf die Bestätigungsmail, die 10:15 Uhr bei ihr einging.

    »Vielen Dank für Ihre Anzeige! In den nächsten sechs Ausgaben unserer Infoliteratur werden wir Ihre acht Zeilen veröffentlichen. Anbei erhalten Sie online die Rechnung…«

    Was für ein Blödsinn?, denkt sie und liest fassungslos die Worte, die sie in dem Aufruf unter der Rubrik Kleinanzeigen veröffentlichte.

    »…Erzähler gesucht… auch jeder Spinner ist hierzu gern eingeladen…«

    »Die im Verlagshaus haben gesagt, ich hätte mein schriftstellerisches Talent verloren! Irrtum, da steht es klar und deutlich und das auch noch stockbesoffen formuliert!«

    Noch hat sie die Hoffnung, dass sich auf so einen Quatsch niemand meldet.

    »Aber was tue ich, wenn doch?«

    Bei dieser Frage läuft es ihr eiskalt über den Rücken. Und dennoch, es belebt sie und lässt sie anfangen zu recherchieren.

    »In jedem Fall sollte ich vorbereitet sein. Ich suche mir jetzt einen passenden Ort, der für so ein verrücktes Vorhaben geeignet scheint. Sollte ich dort tatsächlich alleine sein, hilft mir die Umgebung vielleicht bei einem Neuanfang. Ansonsten bleibt mir nur noch eine Option: Erschießen!«

    Ihre Worte hallen von den Wänden wider.

    Nun beginnt sie zu suchen. Lange muss sie graben und recherchieren. Irgendwann glaubt Rita gefunden zu haben, wonach sie so lange und intensiv auf der Suche war. Sie sieht sich das alte Gemäuer an und geht mit der Maus auf eine virtuelle Besichtigungstour. Fasziniert verfolgen ihre Augen den Kameraschwenk über das gesamte Anwesen. Plötzlich packt sie eine enorme Unruhe, es hält sie kaum noch auf ihrem Stuhl. Zwei Wochen später hat sie das Landgut für ein verlängertes Wochenende, komplett mit mehr als zehn verfügbaren Gästezimmern, vorhandenem Personal und allem, was sonst noch dazugehört, gemietet.

    Kapitel 2

    Mit einem lauten Knall verabschiedet sich der Motor ihres alten Polos und das scheinbar für immer.

    Egal!, denkt Rita frustriert. Von hier aus geht es ohnehin nur noch zu Fuß weiter.

    Zumindest ist ihr Ziel gut ausgeschildert. Sie öffnet den Kofferraum, hängt sich die Handtasche über die Schulter, holt den Laptop und den Koffer heraus, schließt den Wagen ab und schaut sich stöhnend um.

    »Ich muss komplett irre gewesen sein! Klar, besoffen, wie sonst kann man an solch einem unwirklichen Ort landen?«

    Nervös kramt sie nach einer Zigarette in der Handtasche.

    Wie selbstverständlich greift sie nach ihrem Smartphone.

    »Super, kein Netz! Wie auch? Das kommt davon, wenn man am Arsch der Welt ein Wochenende verbringen will! Hoffentlich verfügen die wenigstens über einen Festnetzanschluss.«

    Zum Jammern ist es viel zu spät. Jetzt muss sie endlich handeln. Die fehlende Internetverbindung ist kein größeres Problem, denn jeder der eingeladenen Erzähler bekam einen genauen Routenplan mit Karte und vollständiger Adresse.

    Das dürfte doch zu schaffen sein!, grübelt sie.

    Schließlich lud sie die Leute nicht auf den Mars oder gar in eine ferne Galaxie ein.

    Aber bereits nach kurzer Zeit beschleichen sie erste Zweifel. Der schmale Pfad dem sie folgt, verschwindet scheinbar mit jedem weiteren Meter in der Wildnis. Ein dichter Nadelwald, der durch sein mageres Unterholz an Hänsel und Gretel erinnert, wird nach jeder Wegbiegung dichter und undurchdringlicher.

    Plötzlich weiß Rita, dass sie seit Minuten kein Geräusch mehr hört. Kein Vogel, kein Insekt und schon gar keine Zivilisationsgeräusche dringen an ihr Ohr. Sofort dreht sie sich um. Niemand zu sehen! Das Licht wird zunehmend spärlicher. Zum einen ist es das schlechte Wetter und zum anderen die fortgeschrittene Tageszeit, die die alten Bäume in dunkle Umrisse verwandeln.

    Nun ja, Anfang Oktober muss man durchaus mit ungemütlichem Wetter rechnen. »Aber warum ausgerechnet heute?« Inzwischen schreit die bis auf die Knochen durchgefrorene Frau ihre Worte den Bäumen entgegen. Die Zweige biegen sich immer weiter nach unten in dem nun stärker werdenden Wind.

    »Zwei Kilometer stand auf dem Schild! Das kann doch nicht so weit sein?«

    Allmählich macht sich bei ihr Erschöpfung breit. In den letzten Monaten hatte sich Rita nur selten an frischer Luft bewegt. Sie saß Stunden vor ihrem Laptop.

    Und wofür das alles?

    Sie beschließt aufzuhören, sich selbst zu bemitleiden.

    Dann fange ich eben noch einmal von vorne an! Das verspricht sie sich.

    Nur müsste sie dafür zunächst dem Walddickicht entkommen. Plötzlich bleibt sie stehen. Der Koffer fällt um. Nach dem knackenden Geräusch aus dem schwarzen Unterholz des unheimlichen Waldes hat sie sich nicht einen Zentimeter weiter bewegt.

    Ihr Gehirn schreit: »Lauf, beweg dich! Los!«

    Die zu Tode erschrockene Frau steht noch immer auf diesem einen Fleck. Nicht ein Haar von ihr bewegt sich noch im Wind. Rita weiß, sie könnte sich in den nächsten Minuten selbst in eine der dunklen Fichten verwandeln. Unter ihren Füßen spürt sie bereits die Wurzeln, die notwendig wären, um in dem Walddickicht für immer zu verschwinden.

    Wieder ein Knacken, noch näher!

    Ihre Augen beginnen zu tränen. Dabei muss sie sich sehr anstrengen, um etwas zu entdecken, wo nichts zu entdecken ist. Dann ist es wieder vollständig still. Selbst der Wind hält den Atem an. Wie im Auge eines Hurrikans steht die Zeit still. Jetzt läuft sie los, zerrt den Koffer hinter sich her, ihr Atem überschlägt sich und als sie stolpert, glaubt sie, dass rechts aus dem Wald Wurzeln auf sie zukommen, bereit sich um ihren Fuß zu wickeln und sie in die Tiefen des Dickichts zu zerren.

    Der Schmerz im Knie weckt sie. Rita steht auf und beginnt wieder zu laufen, ohne sich nochmals umzusehen.

    Inzwischen befindet sie sich in einem Tunnel. Tränen der Erleichterung laufen ihr übers Gesicht, als sie in der Ferne rote Ziegel entdeckt. Wie ein Ertrinkender krallt sich ihr Blick an den hinter den gewaltigen Wipfeln der Fichten hervorlugenden roten Punkte fest. Mit jedem weiteren Schritt auf das rettende Ziel zu werden ihre Füße schneller. Mit letzter Kraft lässt sie sich von den roten Ziegeln ziehen, die wie ein kaum wahrnehmbarer Hoffnungsschimmer durch die sich im Wind bewegenden Äste der Fichten aufblitzen.

    Dann endlich lichtet sich vor ihr der Wald. Der Weg wird breiter und heller. Er scheint nun gerader und führt augenscheinlich direkt zum Anwesen. Der Waldweg wird rechts und links von flachen welkem Gras gesäumt. Es ist ungepflegt wie die blattlosen abgestorbenen Stämme uralter Bäume, die wie ein warnendes Hinweisschild in einer Reihe angeordnet stehen. Dann ist es geschafft. Vor ihr erstreckt sich eine zirka zwei Meter hohe Mauer. Sie umschließt das gesamte Gelände und reicht soweit der von Tränen verschleierte Blick sieht.

    Hätte ich mich doch erschossen!, denkt sie.

    Auf den unregelmäßigen Steinen der Mauer befinden sich rote Ziegel. Denen verdankt es Rita, dass sie dem endgültigen Zusammenbruch bereits im Wald noch einmal entkam. Ein weiterer Waldweg führt am Landsitz vorbei. Die wild wuchernden Wurzeln, die Rita vermutlich bis ans Lebensende Albträume bescheren werden, durchziehen jeden Weg und die Wiesen. Sie machen nicht einmal vor den Mauersteinen halt. Vielleicht werden sie eines Tages endgültig die Macht über das Areal übernehmen. Über die gesamte Mauer wuchert wilder Efeu bis hoch zu den Ziegeln. Die mächtigen Blätter haben sich bereits rot verfärbt.

    Für die Schönheit des natürlichen Farbenspiels hat Rita keinen Blick. Der haftet stattdessen an einem alten verwitterten Stein, groß wie ein Felsbrocken und ähnlich einem alten, antiken Grabstein dessen Ränder wie abgefressen wirken. Obwohl seine raue, unebene Oberfläche einen anderen Eindruck erwecken sollte, zuckt sie zusammen.

    »Was soll der Grabstein hier? Hoffentlich bin ich hier überhaupt richtig?«

    Augenblicklich ist ihre Panik zurück. Bevor der schlagende Puls ihren Hals sprengen kann, sieht sie im Augenwinkel ein Schild auf zwei Metallpfosten. Das Metall sah vermutlich so lange es das Schild trägt, keinerlei Farbanstrich. Und doch wirkt das Schild neu.

    »Willkommen im Landgut Balandero«

    Über ihm hängt auf jeder Seite eine kleine Laterne. Sie spenden ein spärliches mattes Licht. Der Metallrahmen ist am oberen Ende mit einer Eisenfigur verziert. Ein Adler, der seine gefährlichen Krallen in den Rahmen eingräbt, breitet über dem gesamten Schild seine Flügel aus. Sein Kopf wirkt zum Angriff bereit, wobei die gelblichen Augen zu funkeln scheinen.

    Was für ein bizarrer Anblick!

    Ritas Erschöpfung ist nun nicht mehr aufzuhalten. Sie lehnt an der Mauer und schaut an sich hinunter. Entsetzen ist das Einzige, was ihr völlig überfordertes Gehirn noch wahrnehmen kann.

    Die Turnschuhe zerkratzt, die graue Jeans am rechten Knie zerrissen, der Schal hängt nur noch in Fetzen um ihren Hals und von einer Frisur ist sie Lichtjahre entfernt.

    Sie schnieft, sie heult und die zittrigen Hände wollen einfach kein Taschentuch in der Seitentasche der Jacke finden. Ihre Handtasche, der Laptop und der Koffer liegen noch immer wie ein wilder Haufen zwei Meter von der Mauer entfernt auf dem Waldweg, der plötzlich aussieht, wie ein ganz gewöhnlicher Wanderpfad.

    Obwohl es langsam zu dämmern beginnt, suchte sie weder nach einer Klingel, Gegensprechanlage oder einer anderen Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Das riesige Metalltor, quasi vor ihrer Nase, sah sie nur wie durch einen vergilbten Spiegel. Dabei sieht das Tor noch unheimlicher aus als das, was sie bereits zu sehen bekam. Aber ihr vor Angst und Erschöpfung gelähmtes Gehirn weigert sich zunehmend, noch erschreckendere Details aufzunehmen.

    Das zweiflüglige Eingangstor wurde aus langen, nach obenhin spitz zulaufenden Metallstreben gefertigt. Die eng aneinanderliegenden Verstrebungen sind oben und unten mit Ornamenten verziert. In der Mitte des Gitters befindet sich eine Figur in Form einer Medusa. Ihre Schlangenhaare verbinden elegant und gespenstisch beide Torhälften. Ihr Schlund soll das Schloss und dessen Schlüsselloch darstellen.

    Wie mag der Schlüssel dazu aussehen?

    Rita steht mit lethargisch starrem Blick, der sich wie gebannt im dunklen Hain verirrt, noch immer im Schatten der Steine. Plötzlich - eine Stimme hinter der Mauer!

    »Hallo? Ist jemand vor dem Tor?«

    In sekundenschnelle erwacht der Teil ihres Gehirns, der scheinbar noch nicht den Weg zur Realität verloren hat. Ihre Stimme klingt weinerlich, schrill und panisch. Einen halben Meter neben ihr an der Mauer öffnet sich quietschend das eiserne Tor. Jetzt registriert sie das im Efeu versteckte Gitter, das ihre Augen lange gesehen haben müssen.

    Eine ältere robust wirkende Frau steht im Tor und eilt zu dem offenbar verunglückten Gast. Fürsorglich schaut sie Rita an und als die zunächst nicht auf ihre Frage reagiert, schüttelt sie die komplett neben sich stehende Autorin an der Schulter. Endlich zerreißen die Panikschleier vor ihren Augen und als hätte es die letzte Dreiviertelstunde nicht gegeben - länger brauchte sie nicht für den Fußmarsch vom Parkplatz bis zum Landsitz - sieht sich Rita verwundert um.

    »Sie sind sicher Frau Dankeschön. Geht es Ihnen gut? Sie sehen aus, als hatten Sie einen Unfall! Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«

    Die kopfschüttelnde Frau sieht besorgt den Zustand des gerade eingetroffenen Gastes.

    »Ach, es geht schon. Danke! Ich bin gestürzt. Es war meine eigene Schuld. Ich bin ein wenig durcheinander. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken! Ja, ich bin Rita Dankeschön.«

    Dann reicht sie ihr die schmutzige und blutverschmierte Hand. Die Frau zieht die Augenbrauen hoch, mustert sie besorgt und sagt nichts mehr. Stattdessen geht sie zwei Meter auf dem Weg entlang und holt Ritas Gepäck, nimmt den verwirrten Ankömmling am Arm und zieht sie auf das Gelände des Landsitzes. Mit einem Quietschen fällt das uralte gusseiserne Tor ins Schloss.

    Dabei erschreckt Rita so heftig, dass die Furchen auf dem erstaunten Gesicht der Frau spontan noch tiefer werden. Leider kann Rita ihr nichts von dem gerade überlebten Albtraum erzählen. Wie hätte sie beschreiben sollen, dass der Wald dabei war, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.

    So beginnt ein Nervenzusammenbruch! Kein Wunder nach dem Stress!

    Sie muss unbedingt daran glauben. Anderenfalls wäre ein Notarzt und der Aufenthalt in einer entsprechenden Einrichtung der beste Weg, um ihrem völlig überreizten Geist zu entkommen.

    Als Rita aufsieht, beruhigt sie sich. Das ausladende und weiträumige Gelände, des wie in einem Dornröschenschlaf wartende Gut, strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, als hätte es nur auf sie gewartet. Verträumt und verspielt trotzt das Gemäuer eigenwillig den Unbilden der Jahrhunderte. Dabei wirkt es, als hatte der Bauherr einst keinen Bauplan zur Hand. Ihr Blick fällt auf einen Innenhof, dessen Ausmaße nicht sofort zu erfassen sind.

    Mit Erstaunen betrachtet sie einen alten steinernen Springbrunnen. Er ist etwa zwei Meter hoch und mit alten verwitterten Bruchsteinen in runder Form gemauert. Beinahe vollkommen mit Moos bewachsen, erzählt sein Anblick Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Von Rabatten umschlungen, deren Buchsbaumhecken sehr streng geschnitten wurden, steht er wie ein Mahnmal und nichts kann ihm etwas anhaben. Die Hecken passen nicht zur alten Schönheit des Brunnens. Trotzdem zeugt ihr exakter Schnitt, der einer schaurig verzerrten Fratze ähnelt, von einer kürzlichen und regelmäßigen Pflege. Wasserfontainen sprudeln aus einer auf der Empore aufragenden offenen Steinmuschel an dem steinernen Becken hinunter.

    Auf den Wiesen und Beeten rings um den Innenhof, wobei jede von ihnen in geschwungene flache Steinborde gefasst wurde, stehen Blumen und Sträucher der Saison. Alles wirkt sehr liebevoll umsorgt und gepflegt. An jeder Seite der Rabatten thront eine sehr hohe und alte Laterne, deren lange Metallstäbe scheinbar endlos in den grauen Herbsthimmel ragen. Die daran befestigten geschwungenen Metallarme beherbergen eine schlichte geschlossene Lampe, aus deren Gehäuse ein Leuchtmittel ragt.

    Auf dem Gelände stehen unzählige Laubbäume. Ihre Blätter haben sich bereits in bunte Farben gehüllt. Warum es bei solch einem Gehöft keine gepflasterten oder geteerten Wege gibt, ist unverständlich. Allein die Größe der Fläche bedarf sicher enormen Aufwand und entsprechender Fahrzeuge. Dennoch sieht sie nirgends Schmutz oder Pfützen. Vielleicht ist das die Handschrift eines genialen Bauherrn. Nur an wenigen Stellen bemerkt man überhaupt, dass man versuchte, vorsichtig zu sanieren. Aber dazu braucht es einen zweiten Blick.

    Wenn der Landsitz auch optisch einen sehr professionellen Eindruck hinterlässt, so bleibt ein nagendes Gefühl. Hier passt etwas nicht zueinander. Alles wirkt unnatürlich und inszeniert. Was bei näherer Betrachtung nicht sein kann.

    Rita stöhnt, schüttelt den Kopf und eilt der vor ihr zügig gehenden Frau hinterher. Je näher sie dem Haupthaus kommt, desto unruhiger wird sie. Sie versucht sich zusammenzureißen. Aber das mulmige Gefühl, das wie eine böse Vorahnung über ihr schwebt, bleibt dennoch.

    Die Frau mit Ritas Gepäck an der Hand geht zielstrebig um ein rundes großes Blumenbeet herum, das mit sehr viel gärtnerischem Geschick angelegt wurde und steht beinahe vor dem Eingangsportal. Sie dreht sich besorgt nach ihr um. Rita hat inzwischen ein neues Problem.

    Rechts, gegenüber dem Portal, direkt hinter dem Springbrunnen, steht ein alter, seltsam verschnörkelter blattloser Baum. Nur ein kurzer Augenblick, in dem sie das Gebilde wahrnimmt, doch er genügt, um sie dem Wahnsinn ein Stück näher zu bringen. Spontan hat sie das Gefühl, dieses Geästgerippe winkt nach ihr mit seinen knorrigen Holzfingern und ein langer Ast will nach ihr greifen. Schon hört sie wieder das knackende Geräusch. Sofort schließt sie die Augen und hastet, atemlos vor Entsetzen, ihrem vor ihr schwebenden roten Koffer hinterher. Mit starrem Blick, der nur noch an die Silhouette vor ihr geheftet ist, nicht mehr nach rechts oder links schauend, stolpert sie dem Eingang entgegen.

    Dabei entgeht ihr der atemberaubende Anblick, den das Landgut dem Besucher bietet. Ihre Begleiterin stellt bereits den Koffer vor der Tür ab und greift nach der Klinke, da dreht sie sich ein weiteres Mal zu ihrem seltsamen Gast um.

    »Kommen Sie herein! Ich kümmere mich sofort um Sie.

    Zunächst bringe ich Ihr Gepäck in Sicherheit!«

    Unendlich viel Kraft kosten Rita die letzten Meter. Die schwere alte Eingangstür fällt hinter ihr ins Schloss und sie ahnt: hier komme ich niemals wieder heraus…

    Kapitel 3

    Noch immer schwer atmend sitzt Rita auf einem mit scharlachrotem Samt bezogenen Sofa. Ein wenig zittrig greift ihre schneeweiße Hand nach der feinen Porzellantasse, über der sich der Qualm des heißen Kräutertees in kleinen Wölkchen kräuselt. Seufzend lehnt sie sich zurück, umfasst mit beiden Händen die Tasse und langsam schweift ihr Blick durch die Empfangshalle. So etwas hat sie noch nie gesehen.

    Jeder Mitarbeiter eines Museums würde hier vermutlich freiwillig und mit feuchten Augen Jahre verbringen. Allein der Anblick des antiken, wie gerade erst einem Königshaus entzogenen Mobiliars, lässt jedem Betrachter den Mund offen stehen. Das schrullige Sofa, auf dem sie völlig entkräftet niedersank, als die Angestellte in die Küche eilte, um sie mit einem heißen Getränk zu versorgen, scheint für sie im Augenblick wie der letzte Zufluchtsort.

    Zärtlich erobern ihre Finger das dunkle lackierte Holz, das mit geschwungener Schönheit den Samt beschützt. Seine leicht nach außen gebogenen Beine halten zuverlässig jeden, der auf ihm nach Bequemlichkeit sucht. Helle Kissen mit Goldfäden gestickten Blumenornamenten laden zum Verweilen ein. Ein flacher runder Tisch, der auf einem gedrechselten Fuß steht, passt ebenso gut ins Ambiente, wie zwei hohe Ohrensessel aus dem gleichen Holz und samtbezogenen Armlehen. Trotz ihrer offensichtlich vielen Lebensjahre sieht Rita nicht einen Kratzer oder gar ein Stäubchen an der Sitzgruppe.

    Die weinrote Auslegware, gepaart mit feinen Teppichen, deren rotgold leuchtenden Ornamente hell und klinisch rein wirken, verführen zum Barfußgehen. Für wenige Sekunden kämpft sie mit dem Drang, sich ihrer Schuhe zu entledigen und die wunden Füße im weichen Flor zu vergraben. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch neben die zarte Porzellanvase, deren Dekor dem des Teegedeckes sehr ähnlich ist. Ein duftender Blumenstrauß steht stolz in uraltem Porzellan.

    Die weiträumige Empfangshalle bildet den Mittelpunkt und das lebendige Zentrum des Hauses. Hier beginnen alle Wege in jeden Winkel des Gebäudes. Man trifft sich, empfängt Gäste oder verweilt staunend. Jeder Zentimeter des hohen Raumes, der scheinbar keine eigene Decke hat und somit direkt im Dachstuhl endet, wirkt düster und einschüchternd. Seine Weite und Eleganz können die Wärme von Tageslicht nicht ersetzen. Ein goldener Käfig aus dem es kein Entkommen gibt.

    Kaum fünf Minuten brauchte dieses Flair, um Rita in

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