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Nazi - hin und zurück?: Dokumentarischer Roman
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eBook779 Seiten11 Stunden

Nazi - hin und zurück?: Dokumentarischer Roman

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Über dieses E-Book

Wie erlebten unsere Mütter, unsere Väter das Vorkriegsdeutschland, den Krieg und die Zeit danach?
"Nazi - hin und zurück?" erzählt die Familiensaga rund um den Schüler, Studenten, Unternehmer und Offizier Kurt.
Briefe, Tagebücher, Feldpost und Karten aus russischer Gefangenschaft liefern authentische Einblicke in sein Leben und persönliches Umfeld, machen Gedanken- und Gefühlswelt aller Beteiligten unmittelbar erlebbar.
Die Weltwirtschaftskrise mündet in den Aufstieg des Nationalsozialismus. Erfolgreichen Blitzkriegen in Polen und Frankreich folgen Scheitern in Russland und die Zerstörung Deutschlands. Und während das Land durch Wiederaufbau, Währungsreform und Wirtschaftswunder eine neue Identität entwickelt, kehren die letzten Kriegsgefangenen heim ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Apr. 2013
ISBN9783849543426
Nazi - hin und zurück?: Dokumentarischer Roman

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    Buchvorschau

    Nazi - hin und zurück? - Annegret Schirmer

    Mutter Luise

    Sie hatte drei Söhne, die Zwillinge Gustel und Hans sowie Kurt. Kurt war ihr Lieblingssohn. Er fühlte sich schon früh berufen, eigene „Memoiren" zu verfassen:

    „Wenn ich jetzt die Feder zur Hand nehme und im Folgenden einige kleine Skizzen über den Verlauf meiner Jugendjahre niederzuschreiben versuche, so soll damit nicht bekundet werden, dass ich plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine schriftstellerische Ader in mir entdeckt habe und nun versuchen will, diesen schriftstellerischen Drang, der sein Recht nach außen zu behaupten sucht, in irgendeiner Form zu dokumentieren. Ganz im Gegenteil! Das überlasse ich gerne den Leuten, die sich zu einer solchen Veranlagung wahrhaft berufen fühlen. Bei meinen Aufzeichnungen handelt es sich lediglich darum, einem inneren Verlangen, der Stimme des Herzens zu folgen, die schon von frühester Zeit an meiner Tür pochte und mir die freundliche und bittende Mahnung zurief, Leben und Erlebnisse in Gestalt eines Tagebuches oder sonstiger Aufzeichnungen festzuhalten. Nun liegt natürlich die Frage sehr nahe, warum die innere Stimme so dringlich zu einem solchen Tun appellierte? Es wäre unratsam und würde auf die Darstellung beeinträchtigend wirken, wollte ich schon jetzt auf diese Frage eine befriedigende Antwort geben. Vielleicht ergibt sich aber auch zwangsläufig die Lösung aus dem Verlauf der Erzählung.

    Ein großer Teil der Menschen wird in seinen Jugendjahren, soweit es ihm Zeit und Neigung erlaubte – denn beides gehört zweifellos dazu – , ein Tagebuch, oder wenn das nicht gerade, so doch irgendwelche Aufzeichnungen und Notizen über besonders erinnerungswürdige Ereignisse geführt haben. Denn zwei schöne und wertvolle Punkte sind für das spätere Leben mit solcher Arbeit verbunden: einmal veranlassen sie jeden jungen Menschen, sich durch das Niederschreiben von Eindrücken und Erlebnissen auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren und sich in Form und Ausdruck zu vervollkommnen, und zweitens rufen solche Niederschriften in späteren Tagen, wenn man einsam und traumverloren in seinem Kämmerlein sitzt und vielleicht unter physischen oder seelischen Schmerzen zu leiden hat, unauslöschbare Stunden und Erinnerungen in das Gedächtnis zurück, Stunden und Erinnerungen, die dazu angetan sein sollen, dem Menschen seine Leiden und Schmerzen vergessen zu machen, Stunden und Erinnerungen, die eine wahrhafte Erholung bedeuten und den Menschen zu neuer Freude und Erbauung am Leben erwecken sollen.

    Unter diesen Gesichtspunkten habe auch ich mich an solchen Aufzeichnungen versucht, aber leider mit negativem Erfolge. Denn schon nach kurzer Zeit sah ich mich veranlasst, diese Versuche wieder einzustellen, da einerseits die Neigung und andererseits der erforderliche Stoff dazu fehlte. Aus diesem Grunde verlohnt es sich auch nicht, alle Kisten und Kasten nach Resten solcher Notizen umzuwühlen. Mithin muss ich mich auf die mir gebliebene Erinnerung stützen.

    Es wird nun wohl kaum einen Menschen geben, der sich noch derart genau auf Geschehnisse und Vorfälle seiner frühesten Jugend besinnen kann, dass diese einer unbedingten Festhaltung durch schriftliche Niederlegung würdig sind. Aus dieser Erwägung heraus möchte ich die Zeit bis zu meinem 14. Lebensjahr nur kurz streifen und lediglich die Begebenheiten einer etwas ausführlicheren Betrachtung unterziehen, die mir noch ganz gegenwärtig geblieben sind und für die spätere Entwicklung zu einem nicht geringen Teil von ausschlaggebender Bedeutung sein sollten.

    Da denke ich zunächst einmal an einen Vorfall zurück, der sich während meines ersten Schuljahres zutrug: Ungehemmt nimmt das Leben seinen Lauf und so war denn auch für mich der Augenblick herangekommen, wo ich den ersten Schulweg antreten sollte. Wer erinnert sich nicht gern der ersten Schuljahre, der schönen Zeit, in der man sich, unberührt von den Geschehnissen der Welt, ahnungslos der vielen Sorgen und Anforderungen, die das Leben an einen stellte, den fröhlichen Kinderspielen hingeben konnte?

    Die ersten Tage und Wochen des ersten Schuljahres verliefen so, wie sie für einen kleinen A.B.C. Schützen verlaufen mussten. Bevor mit dem 1x1, mit den ersten Versuchen der Buchstaben und anderen kleinen Anfängerübungen begonnen werden konnte, mussten wir zunächst einmal das „Stillsitzen und „Aufpassen lernen. Das fiel uns kleinen Krabben, die wir bis dahin uneingeschränkte Freiheit genießen durften, natürlich nicht ganz leicht. Aber was muss man im Leben nicht alles lernen und letzten Endes war das ja auch noch ganz erträglich, denn von Schläge, Strafe und sonstigen Unannehmlichkeiten, die die Schule im allgemeinen mit sich zu bringen pflegt, war ja noch nichts zu spüren! Diese Dinge waren uns nur insoweit bekannt, als die Eltern damit drohten und uns bange zu machen suchten, wenn wie einmal unartig gewesen waren.

    Doch alle Freude im Leben wird einmal gebrochen und so sollte denn auch ich eines Tages die erste Härte der Schule zu fühlen bekommen. Welches strafwürdige Kinderverbrechen ich mir hatte zu Schulden kommen lassen, vermag ich heute nicht mehr zu wissen und ist schließlich für das Ergebnis auch bedeutungslos. Jedenfalls verurteilte mich mein Lehrer dazu, eine Stunde „nachzusitzen. – Allerdings konnte von „sitzen keine Rede sein, denn die Zeit musste „stehenderweise" hinter der Tafel verbracht werden. – Das Urteil war also gefällt und die Strafe musste vollzogen werden.

    Der normale Unterricht dauerte von 8-10. Feuchten Auges sah ich alle anderen Mitschüler den Heimweg antreten, froh darüber, dass sie der Schule den Rücken kehren durften, während ich der Dinge harrte, die da kommen sollten. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als nach der Pause ins Klassenzimmer zurückzukehren. Die Tränen rollten unaufhörlich weiter, denn einmal war es nicht schön, als Erster nachsitzen zu müssen, zum Spott und Hohn derjenigen, die nach mir noch Unterricht hatten, zweitens war dadurch der kindliche Ehrgeiz erheblich gebrochen und drittens, und das war das Schlimmste bei der ganzen Sache, wusste doch die Mutter, dass ich um 10 Uhr aus der Schule kommen würde. Was für einen Grund sollte ich da für die Verspätung angeben? Eine Ausrede kannte man in den Jahren noch nicht und wie leicht war es zudem möglich, dass die Mutter nachträglich doch davon erfahren haben würde! Es schien also unmöglich, einer zweiten Strafe seitens der Eltern zu entgehen und die kindliche Furcht davor ließ sich keinesfalls so ohne weiteres beseitigen.

    Mit dem Glockenzeichen, das den Wiederbeginn der Stunde ankündigte, waren qualvolle Minuten verknüpft. Die Augenpaare aller Schüler waren auf mich gerichtet; mein Schluchzen nahmen sie zum Anlass, mich zu verspötteln und sich über mich lustig zu machen. Wie froh war ich, als durch das Eintreten des Lehrers dieser Qual ein Ende bereitet wurde. Als er mich erblickte, befahl er mir, mich hinter die Tafel zu stellen. Zwar folgte ich dieser Weisung, aber dem Lehrer war es bei meinem Gewimmer nicht möglich, den Unterricht bei den an sich schon unruhigen A.B.C. Schützen zu erteilen, weshalb er mich mit einigen scharfen Worten zum Stillschweigen ermahnte. Das hatte die Wirkung, dass das Heulen nur noch lauter wurde und der Lehrer sich veranlasst sah, um wenigstens unterrichten zu können, mich in Gnaden zu entlassen. Wie ich aus dem Klassenzimmer gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Jetzt galt es nur, die versäumte Zeit aufzuholen und möglichst schnell nach Haus zu kommen, damit die Mutter sah, dass der Sohn um 10 Uhr aus der Schule gekommen war.

    Die Eltern haben nichts von dem „Nachsitzen" erfahren, denn ich glaube nicht, dass ich jemals von meinen späteren Schulwegen so schnell nach Haus gelaufen bin wie an diesem Tage.

    Dieser Begebenheit folgte im nächsten Jahr eine zweite, die allerdings mit der Schule in keinem Zusammenhang steht.

    Wie bereits erwähnt, erstreckte sich der Unterricht in den ersten Schuljahren nur bis 10 Uhr. Die paar Schulaufgaben für den nächsten Tag waren bald gemacht und was lag da näher, als den Rest des Tages mit der goldenen Freiheit auszufüllen und sich dem Tummeln und Tollen mit gleichaltrigen Spielkameraden hinzugeben; es gab ja so unendlich viele Spiele, mit denen man die Zeit totschlagen konnte.

    Von den vielen Tagen, die mit solchen Spielen ausgefüllt waren, möchte ich einen herausgreifen.

    Da war wieder einmal ein Tag, an dem wir Zeit und Gelegenheit fanden, uns den fröhlichen Spielen hinzugeben. Das beliebteste unter allen Spielen war das „verstecken und kriegen" spielen. Die besondere Vorliebe gerade für dieses Spiel ergab sich aus der Natur der Dinge und zwar insofern, als sich in einer Autohalle, zwischen Kisten, altem Gerümpel und sonstigen willkommenen Hindernissen, geradezu glänzende und geeignete Gelegenheit zur Ausübung bot. Dass wir drei Brüder ein derartiges Spiel nicht unter uns ausmachten und sich meistens mehr Spielkameraden als erwünscht dazu einfanden, brauche ich wohl nicht besonders zu unterstreichen.

    An diesem Tage waren wir unsere sechs. Das Spiel nahm seinen Anfang. In der besagten Halle setzte ein ausgelassenes Hasten und Jagen ein. Keiner wollte dem anderen nachstehen und jeder versuchte, die schwierigsten und entlegensten Schlupfwinkel ausfindig zu machen und die höchst erreichbarsten Balken zu erklimmen. So boten denn die unter dem Dach entlanglaufenden Stangen und Balken gute Gelegenheit, sich dem Verfolger zu entziehen. Schwierig wurde die Sache allerdings, wenn der Verfolger selbst diesen höchsten Punkt erreicht hatte. Da gab es dann wegen der Höhe keine Möglichkeit mehr, dem Schicksal des Abschlags zu entrinnen. Da sich dieses Schicksal des Öfteren einstellte, schien uns diese an sich schon ideale Möglichkeit noch nicht ausreichend genug, unseren überaus großen Eifer zufrieden zu stellen, und wir sannen deshalb nach Auswegen, die geeignet waren, das Spiel noch interessanter und toller zu gestalten. Bei diesem Nachsinnen muss uns wohl zum Bewusstsein gekommen sein, dass die Halle eigentlich nicht zum „kriegen" spielen, sondern in erster Linie zum Einstellen von Automobilen bestimmt war. Aber gerade das veranlasste uns, eins der vorhandenen Automobile für unser Vorhaben zu verwenden. Gesagt, getan! Das Spiel wurde neutralisiert und alles half, einen Wagen herauszuziehen und unter die Balken zu schieben. Jetzt erst war die Freude riesengroß. Nun konnte man von dem Balken in die Polster springen, flugs über Haube, Kotflügel etc. zum nächsten Hindernis laufen und so dem Verfolger die Sache erschweren. Das war ein Spaß! Aber auch hier sollte die Freude bald ein frühzeitiges Ende haben. Wir waren gerade mit der neu erworbenen Gelegenheit vertraut und mitten im tollsten Spiel, als sich plötzlich das Hallentor öffnete und der Vater hereintrat. Er war nicht allein, in seiner Begleitung befand sich ein Herr, der sicherlich nicht gekommen war, um sich an unserem fröhlichen Treiben zu ergötzen, sondern vielmehr die Absicht hegte, einen Wagen zu kaufen, was in der damaligen Zeit eine Seltenheit war. Uns schwebte in diesem Augenblick nur der Gedanke vor: Hoffentlich nehmen sie uns unseren Wagen nicht fort. Doch schnell verfärbte sich unser Gesicht, als wir die strafenden Blicke des Vaters auf uns ruhen sahen. Blitzschnell verkrochen wir uns in den nächst erreichbaren Verstecken, ohne dass uns eigentlich zu Bewusstsein gekommen war, was wir eigentlich angerichtet hatten. Doch auch das sollten wir bald erfahren. Wieder begann ein Hasten und Jagen, das sich allerdings insofern von dem ersteren unterschied, als es nicht von uns, sondern auf uns veranstaltet wurde. Der Grund dazu war der, dass wir für unser Spiel gerade den Wagen ausgesucht hatten, der kurze Zeit vorher vollständig neu lackiert, gepolstert und überholt war und jetzt in diesem Augenblick verkauft werden sollte. Die Jagd dauerte nicht lange, denn unsere Schlupfwinkel waren bald ausfindig gemacht. Wir drei Brüder, als Urheber dieser schönen Gelegenheit, wurden herausgeholt und ... Ich will den Ausgang dieses fröhlichen Treibens nicht weiter erörtern, aber soviel kann ich sagen: Wir haben bestimmt keine Schokolade für unsere Tat bekommen.

    Inzwischen waren nun die ersten drei Jahre auf der Mittelschule schnell vergangen und nun galt es, für den weiteren Lebenspfad den ersten entscheidenden Schritt zu gehen. Dieser entscheidende Schritt bestand darin, dass eine Entscheidung darüber gefällt werden musste, ob die weitere Ausbildung auf der Mittelschule oder auf dem Gymnasium erfolgen sollte. Da nach den bisherigen Zeugnissen anzunehmen war, dass ich auf dem Gymnasium gut weiterkommen würde und außerdem meine Brüder diese Schule bereits besuchten, war es für meine Eltern eine Selbstverständlichkeit, dass auch ich mich für den letzteren Weg entscheiden würde. Aber mit der Entscheidung allein war dieser Weg noch keineswegs beschritten. Zwar konnte die Anmeldung für die Sexta erfolgen, aber der Besuch des Gymnasiums hing einzig und allein von dem Ergebnis der Aufnahmeprüfung ab. Es musste also ein kleines „Examchen" gemacht werden. So zog ich denn eines Morgens voller Mut zur Schule, um diese Aufnahmeprüfung abzulegen.

    Alle diejenigen, die einmal Sextaner zu werden beabsichtigten, fanden sich in einem Klassenzimmer zusammen. Als ich dieses Zimmer betrat, gab es zunächst einmal große und herzliche Freude, denn viele alte Spielkameraden und ehemalige Mitschüler traf man hier wieder und ich ging jetzt mit viel mehr Freude und Hoffnung der Prüfung entgegen.

    Das Glockenzeichen ertönte und ein Herr, der der Lehrer zu sein schien, betrat das Schulzimmer. Er hieß uns, die Hefte herauszunehmen und verabfolgte uns dann die Aufgaben, die in Diktat, Rechnen und anderen kleinen Scherzen bestanden. Es wurde fieberhaft gearbeitet und bereits nach zwei Stunden war dieser Schmerz überwunden. Nur schwebte man jetzt in Ungewissheit über das Resultat. Aber auch von dieser Folter sollte man bald befreit werden. Die Lehrer sahen nach der Prüfung die Hefte gleich nach und machten dann, nachdem sie mit dem Direktor Rücksprache genommen hatten, den Eltern, die eigens zu diesem Zweck mitgekommen waren, Mitteilung davon, ob man aufgenommen war oder nicht.

    Bei mir war das Ergebnis niederschmetternd. Ebenso mutig, wie ich zu dieser Prüfung hingegangen war, ebenso traurig und niedergeschlagen kehrte ich wieder heim. Zwar war ich für die Sexta aufgenommen worden, aber das Diktat und die Rechenaufgaben waren nach Aussage des Lehrers negativ ausgefallen, was zur Folge hatte, dass er meiner Mutter eröffnete, dass die Kenntnisse in Deutsch und Rechnen für den Besuch einer höheren Lehranstalt nicht ausreichten und zu ernsten Bedenken Anlass gäben. Nun war zum zweiten Male der kindliche Ehrgeiz angezackt. Jedoch half das erhabene Gefühl und der Stolz, die schwarze fesche Mütze mit dem schönen goldenen Streifen tragen zu dürfen, bald über diesen Kummer hinweg; denn nun war ich Schüler des weit bekannten und angesehenen Gymnasium-Andreanum.

    Von nun an stellte die Schule natürlich höhere Anforderungen und die freie Zeit wurde damit etwas beschränkter. Allerdings nahmen die Jahre der Sexta, Quinta und Quarta nicht den Verlauf, wie er vorhergesagt war. Die Prognose mit den Kenntnissen in Deutsch und Rechnen war nicht eingetroffen. Ganz im Gegenteil! Als ich das erste Zeugnis erhielt, waren die Zensuren für Deutsch 3 und besser und für Rechnen sogar 2. So verliefen denn die ersten drei Jahre auf der höheren Schule ganz zufriedenstellend.

    Aber die Untertertia, von vielen Menschen als die Klippe der höheren Schule bezeichnet, sollte auch ich nicht ganz ohne Schwierigkeiten bestehen. Eigentlich ist mir das Jahr derart zu Herzen gegangen, dass ich am liebsten nicht daran zurückdenken möchte. Wäre es nicht für die spätere Entwicklung von Wichtigkeit, so würde ich es hier bestimmt nicht erwähnen.

    Als ich in die Untertertia kam, wollte mir die Arbeit nicht mehr so glatt von der Hand gehen wie in den Vorjahren. Und das hatte seine Gründe. Man fing nämlich an, sich für Dinge zu interessieren, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Schule standen.

    Da war zunächst einmal der Sport, der in diesen Jahren einer besonderen Entwicklungsstufe entgegensah und begreiflicherweise auf die zum Sport veranlagten Jungen nicht ganz ohne Einfluss bleiben konnte. Auf den Sport an sich will ich an anderer Stelle näher eingehen. Hier soll er nur insoweit erwähnt werden, als er mit der Schule und seinen Ereignissen in unmittelbarer Verbindung stand.

    Überall, wohin man auch immer schauen mochte, stand zu dieser Zeit mit großen Lettern das Wort „S p o r t" geschrieben. Wenn man des Morgens die Schule betrat, dann fragten die Mitschüler nicht, ob man seine Schularbeiten alle gemacht hat, – so pflegte es nur in früherer Zeit zu sein –, sondern hatten als einziges Gesprächsthema: Weißt Du’s schon, der und der hat einen neuen Rekord ... Ganz große Leistung! So ging das den ganzen Vormittag über und nicht nur die Pausen, sondern auch die Unterrichtsstunden hindurch war der Sport Gegenstand der Unterhaltung. Ja, diese Richtung griff so epidemisch Platz, dass wir um 10 Uhr bereits keine Lust mehr verspürten, noch weitere drei Stunden die Schulbank zu drücken.

    Was war da wohl nicht bequemer und auch gegebener, als nach der zweiten Stunde beim Professor wegen Unwohlseins, oder was weiß ich, was damals für Entschuldigungsgründe an der Tagesordnung waren, um Erlaubnis zu bitten, nach Hause oder zum Arzt gehen zu dürfen. Der Arzt war in jedem Falle der Sportplatz. Kaum hatte man durch Täuschung und Lüge eine solche Erlaubnis erhalten, dann ging es anschließend, mit dem Fußball bewappnet, auf die in der Nähe der Schule gelegene Steingrube, um dort bis zum Mittagessen unser „Match auszuspielen. Natürlich spielten wir nicht etwa einen gewöhnlichen Bauernfußball mit „Gummipille und Sandalen oder auch sonstigen zweifelhaften Utensilien; oh nein, das war alles derart gut organisiert, dass ein eigener Ball und für jeden eine eigene Kluft zur Verfügung stand. Wo wir das Geld herhatten? Auf dem Wege der Schnurrerei, Kungelei etc. Zwar war bei späterer Überlegung die Art dieser Geschäfte manchmal nicht ganz einwandfrei, aber was fragte man damals danach? Die Hauptsache war, wir konnten einen richtigen Fußball spielen und nun mit den anderen Pennen in Konkurrenz treten.

    Natürlich wiederholte sich dieses Manöver des Arztes des Öfteren in der Woche und einige hatten sich bald dadurch eine beneidenswerte Routine im „Schwänzen" angeeignet. Allerdings habe ich persönlich nicht allzu oft Gebrauch von dieser schönen Institution gemacht; denn ich hatte einen mächtigen Bammel, dass es eines schönen Tages doch einmal an die große Glocke kommen würde, und dann wären alle rettungslos verloren gewesen. War nun der Sport allein die einzige Beschäftigung am Tage? Oh nein, denn damit hätte man doch unmöglich den ganzen langen Tag ausfüllen können. Also musste nach einer weiteren Beschäftigung gefahndet werden.

    Das erforderte aber keine sonderlich große Überlegung, da in dieser Zeit mit dem Wort „Sport auch das zweite große Wort verbunden war, das Wort „Technik. Wer wusste nicht jeden Tag von neuen Erfindungen zu berichten und wer von meinen Mitschülern war damals nicht im Besitze eines Stabil-Baukastens, mit dem er dann in Miniatur die neuesten Errungenschaften und Maschinen nachbaute? Sicherlich doch alle, d.h. mit Ausnahme der Streber, die nur für die Schule und ihre Arbeit lebten, weil sie in solchen Dingen keine Möglichkeit sahen, sich bei den Lehrern einen guten Namen und eine gute Note zu verschaffen. Auch wir besaßen einen solchen Baukasten, benutzten ihn jedoch recht wenig, weil wir in dieser Hinsicht in der Wahl unserer Eltern recht vorsichtig gewesen waren; denn wir brauchten uns nicht mit Baukästen und Modellen abgeben, sondern konnten durch das väterliche Geschäft Technik und Mechanismus der Maschinen in ausgiebigem Maße, vom Holländer über’s Fahrrad, Motorrad, Automobil bis zu den kompliziertesten Maschinen aufwärts studieren. Somit wurde frühzeitiger als sonst in unserem kleinen Jungen-Verstande der Sinn für die technische und praktische Seite des Lebens geweckt.

    Nun gestehe ich gerne, dass notwendigerweise durch solche Interessen die der Schule etwas vernachlässigt wurden. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, dass von nun an die Schule gänzlich Nebensache war. Es wurde eben nur das für die Schule gearbeitet, was gerade für den nächsten Tag aufgegeben und sonst notwendig war, um nicht am Ende des Jahres Heulen und Zähneklappern vernehmen zu müssen. Mir persönlich sollte jedoch diese Technik zum Verhängnis werden.

    Im Herbst des Jahres 1922 war in Berlin Automobilausstellung. Mein Vater entschloss sich eines Abends ganz plötzlich, diese am nächsten Tag zu besuchen und fragte mich, ob ich Lust und Interesse hätte, mit ihm zu fahren. Nie konnte mir eine Frage willkommener sein als diese, denn gleichzeitig bekam ich dadurch Gelegenheit, ein Automobil-Rennen – das erste in meinem Leben – auf der Avus-Rennbahn in Augenschein zu nehmen. Ich sagte also mit tausend Freuden zu. Die Reise sollte am anderen Morgen früh um 4 Uhr losgehen. Natürlich war es infolge der kurzen Zeit nicht mehr möglich, bei meinem Lehrer vorher eine Erlaubnis zu dieser Reise einzuholen. Selbstverständlich musste das gleich am anderen Morgen geschehen und so ging denn meine Mutter in der Zeit, wo wir bereits in Berlin waren, zum Lehrer, um mich nachträglich zu entschuldigen. Während ich in Berlin weilte und mir auf der Avus das erste Rennen, die engste Zusammenarbeit von Sport und Technik, ansah, musste sich meine Mutter bei dem Lehrer eine bittere Schmach gefallen lassen. Er wollte den angegebenen Grund nicht anerkennen und ließ seine Antwort, die nur in Flüchen und üblen Reden bestand, dahingehend ausklingen, dass ich wohl verrückt geworden sei, einfach ohne Entschuldigung in der Weltgeschichte herumzufahren! Man bedenke, dass sich in diesem Augenblick ein Akademiker und eine hilflose Frau gegenüberstanden!

    Mit keinem Gedanken dachte ich in Berlin daran, dass dieser Übereifer später noch irgendwelche Nachwirkungen für mich haben sollte. Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Von diesem Tage ab konnte ich bei dem Lehrer auf keinen grünen Zweig mehr kommen. Ich arbeitete mehr und beteiligte mich reger am Unterricht, aber es half nichts, ich wurde kaum noch beachtet. Bei den mündlichen Aufgaben wurde ich überhaupt nicht gefragt, weshalb ich meine ganze Arbeit auf die schriftlichen Übungen konzentrieren musste.

    Eines Tages wurde die letzte schriftliche Arbeit, die für die englischen Zensuren maßgebend sein sollte, angekündigt. Da man eine ungefähre Ahnung hatte, was vielleicht dran kommen konnte, präparierte ich mich ganz gründlich darauf vor, damit der Lehrer nicht durch einen schlechten Ausfall Grund zum Tadel haben sollte. Ich saß bei dieser Arbeit mit meinem Freund H.D. zusammen auf einer Bank. Er hatte mal wieder nichts getan, konnte den angegebenen Text nicht übersetzen und schrieb die ganze Arbeit von mir ab. Als wir dann die Hefte zurückbekamen, behauptete der Lehrer, ich hätte von meinem Nachbarn abgeschrieben und setzte deshalb eine 4 unter meine Arbeit. Doch schien jetzt das Ungerechtigkeitsgefühl in meinem Nachbarn stark zu schlagen, denn freimütig gestand er dem Lehrer, dass nicht ich, sondern er der Schuldige sei. Da blieb Herrn Sch. nichts anderes übrig als die Nummern bei uns beiden umzuändern. Und das Ergebnis? – Die Würfel zur Versetzung waren schon damals für mich gefallen. Ich bekam in Englisch eine 4 und blieb, da kein Ausgleich vorhanden war, „hängen".

    Dieses für mich unerfreuliche Ereignis habe ich deswegen ausführlich geschildert, weil nicht nur häufig, sondern immer im Leben die Beobachtung gemacht werden kann, dass, wenn ein Kind nicht versetzt worden ist, immer der Lehrer, niemals der Schüler selbst die Schuld daran trägt. So behaupten es wenigstens die Kinder den Eltern gegenüber und schließlich auch, um sich als Vater oder Mutter keine Blöße zu geben, die Eltern denjenigen gegenüber, die sich am Ende des Schuljahres teilnahmsvoll nach dem Ergebnis erkundigen wollen. Bei mir lag die Sache aber tatsächlich so, dass ich der Falschheit und dem Neid eines politisch nicht ganz einwandfreien Lehrers zum Opfer gefallen war.

    Was war nun dagegen zu tun? Eine Beschwerde hätte dagegen keinen Zweck gehabt, weil der damalige Direktor und mein Lehrer aus ein und demselben Holze geschnitzt waren. Und die Gefahr, die gewöhnlich mit einem Schulwechsel verbunden ist, wollte ich nicht auf mich nehmen. Bei allen angestellten Überlegungen ergab sich nur eine Möglichkeit und das war, die Klasse noch ein zweites Mal durchzumachen.

    Da ich nicht zu denjenigen gehöre, denen es eine sichtbare Freude bereitet und die sogar einen gewissen Stolz darin sehen, eine Klasse zwei Jahre mit ihrer Anwesenheit zu erfreuen, war mir die Sache auch nicht ganz einerlei. Und was es heißt, denselben Lehrstoff noch einmal durchkauen zu müsse, und wie weh es tut, ein Jahr kostbarer Zeit opfern zu müssen, das vermag nur der zu ermessen, der selbst unter ähnlichen Verhältnissen ein ganzes Jahr eingebüßt hat. Aber auch der bittere Apfel muss gegessen werden und so blieb es mir denn auch nicht erspart, diese Klasse ein zweites Mal durchzumachen.

    Wie bereits oben erwähnt, war der Verlust dieses Jahres nicht ganz spurlos an mir vorübergegangen und bedeutete für mich nicht nur eine völlige Umstellung in der Art und Weise der Arbeit für die Schule, sondern auch eine gänzliche Umgestaltung meines persönlichen Ich. Denn jetzt kam mir zum ersten Mal zum Bewusstsein, dass es nicht allein damit getan war, seine Pflicht und Schuldigkeit für die Schule zu tun, sondern darüber hinaus, sich durch mehr Ehrgeiz und erhöhten Fleiß die Schulzeit angenehm und leicht zu gestalten und nach dem Grundsatz „non scholae, sed vitae discimus" eine sichere und feste Grundlage für das Leben zu schaffen.

    Sicherlich war das damals leichter gedacht und vorgenommen als getan, denn neben der Schule hatte ich auf der anderen Seite eine starke Zuneigung zum Sport und der Sport verlangte gewisse physische und zeitliche Opfer, sodass ich nicht ausschließlich meine Kräfte in den Dienst der Schule allein zu stellen vermochte. Was gab es da nun für einen Ausweg? Letzten Endes sind doch große und ideale Vorsätze nicht dazu da, dass sie nicht verwirklicht werden. Ja, sollte ich etwa den Sport ganz fallen lassen und mich mehr der Arbeit widmen? Nein, das hätte ich auch unter der größten Selbstüberwindung niemals fertig gebracht.

    Für dieses schwierige Problem musste also eine Lösung gesucht werden, die sich nur auf dem Wege der Überbrückung zwischen Arbeit und Sport herstellen ließ. Der Schlüssel zu dieser Überbrückung fand sich alsbald. Er bestand darin, dass ich die Schule als Hauptsache, den Sport als Nebensache, aber als zur Hauptsache gehörig, ansah. Und schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass diese Lösung eine ganz glänzende war; denn damit war das Äquivalent zwischen Geist und Körper hergestellt. Fand ich in der Arbeit keine volle Befriedigung mehr, so ging ich dem Sport nach, der seinerseits für das harmonische Gleichgewicht zwischen beiden sorgte und die Schule als einen angenehmen Teil des Lebens empfinden ließ.

    Bevor ich nun in den Ereignissen weiter fortfahre, will ich die erste Zeit meiner sportlichen Tätigkeit etwas näher beleuchten."

    Hier enden Kurts „Memoiren".

    Hätte er weiter geschrieben, so hätte er wohl von seinen beachtlichen Erfolgen berichtet, die er als Schüler am Andreanum im Geräteturnen, Schwimmen, Handball, Schlagball, Rudern und in der Leichtathletik errang. Darüber hinaus fuhr er Radrennen, spielte Radball und beteiligte sich am Kunstfahren im R.T.C. „Merkur. Er war ein sicherer und zuverlässiger Tormann der weit über Hildesheim hinaus bekannten Handball-Elf des M.T.V. „Eintracht. Er betrieb Wasserball, Kunstspringen und besonders aktiv das Schwimmen im S.S.K. „Hellas". 1927 trainierte und meldete ihn der Verein sogar als Kandidat für die Olympiade 1928 in Amsterdam.

    Wie seine beiden Brüder widmete er sich mit großer Leidenschaft dem Motorsport. Gustav jun. – genannt „Gustel zur besseren Unterscheidung von seinem Vater – fuhr Autorennen. Hans bestritt die Rennen mit schweren Motorrädern. Kurt als Jüngster – er hatte schon mit 15 Jahren den Führerschein erlangt – lenkte am liebsten seine selbst gebauten leichten Maschinen. Die ersten Rennen versuchten sie rund um den Steinberg in Hildesheim. Dann beteiligten sie sich an den „Eilenriede-Rennen in Hannover, den „Hainberg-Rennen in Göttingen und den „Herkules-Rennen in Kassel. Dort trafen sie auf internationale Konkurrenz und traten gegen die ganz Großen wie Karl Jörns, Hans Stuck, Fritz von Opel, Toni Bauhofer und Bernd Rosemeyer an. Besonders 1927 und in den folgenden Jahren waren sie sehr erfolgreich. Manches Mal errangen alle drei am gleichen Tag Siege in ihren Klassen.

    Die Eltern waren stolz auf ihre Söhne und förderten die Motorsport-Aktivitäten, weil sie auch dem Ansehen des Geschäfts dienten. Vor allem die „Steinberg-Rennen in Hildesheim wurden von vielen Zuschauern begeistert verfolgt und bekamen eine gute Presse. Deshalb stiftete Vater Gustav dafür einen wertvollen Wanderpreis – eine Kopie der „Athena-Schale des Hildesheimer Silberfundes.

    Bei den Auto- und Motorradrennen verband sich ihre Liebe zum Sport mit der Begeisterung für den technischen Fortschritt. Diese Leidenschaften hatten sie offenbar von ihrem Großvater und ihrem Vater geerbt.

    Großvater Wilhelm Schirmer war von Beruf gelernter Schlosser und Maschinenbauer und gründete die Firma am 15.6.1880 in der Braunschweiger Straße. Zunächst stellte er Gasgeneratoren und Eisenteile für die Glasbläser der „Hildesheimer Glasfabrik" her. Er beschäftigte drei Gesellen und drei Lehrlinge.

    Die folgenden Jahre wurden geprägt durch das „Veloziped" – das Fahrrad als Beförderungsmittel für die Allgemeinheit. Großvater Wilhelm kümmerte sich zunächst nur um den Verleih, dann auch um den Verkauf von Velozipeds. Das Niederrad löste das traditionelle Hochrad ab und der Luftreifen wurde erfunden. Mit der wachsenden Nachfrage entwickelte sich die Fahrrad-Industrie. Zugleich begannen zaghaft sportliche Aktivitäten rund um das Fahrrad – der Anfang des Radsports!

    Als die Werkstatträumlichkeiten in der Braunschweiger Straße nicht mehr ausreichten, erwarb Großvater Wilhelm das Gebäude der ehemaligen Selterwasserfabrik in der Hannoverschen Straße 9/10. Dort errichtete er ein großzügiges Verkaufsgeschäft und eine moderne Reparaturwerkstatt – die erste Fahrradwerkstatt in Hildesheim. Er übernahm die Fahrrad-Vertretungen von Adler, Diamant, Panther und Wanderer. Zusätzlich entwickelte er eigene Hausmarken und nannte sie „Schwalbe und „Hercynia. Nach wie vor florierte der Fahrrad-Verleih für 40 Pfennig pro Stunde.

    In dem neuen Betrieb wurde eine ganze Anzahl von Fahrrad-Monteuren beschäftigt. Die Lehrlinge wohnten und schliefen über der Werkstatt und wurden von der Frau des Meisters beköstigt und betreut. Sonntags durften sie zu den „Giesener Teichen gehen und bekamen von Großvater Wilhelm 50 Pfennig Taschengeld für den Besuch der Gastwirtschaft „Steuerwald. Davon durfte die Meisterfrau allerdings nichts erfahren.

    1903 trat Gustav Schirmer, ihr Sohn, in die Firma ein. Er setzte sich stark für die Entwicklung und Ausübung des Radsports ein und machte fast alle Werkstattmonteure zu begeisterten Radrennfahrern. Er selbst war der Anführer der „Schirmer-Rennmannschaft". Die Radrennen wurden auf den Landstraßen und auf der Radrennbahn in Hannover ausgetragen. In der Ausstellung befanden sich jetzt auch teure Rennmaschinen.

    Die Fahrräder entwickelten sich zum Volumengeschäft. Das ständige Lager enthielt über 3.000 Räder. Eine Großhandelsabteilung wurde angegliedert. Neue Fabrikatsvertretungen kamen hinzu: Presto, Brennabor und Dürkopp.

    1905, als Hildesheim 50.239 Einwohner verzeichnete und die erste elektrische Straßenbahn fuhr, heiratete Gustav Schirmer Luise Strüber aus Barfelde. Sie war mit drei Brüdern in der väterlichen Mühle aufgewachsen. Für Luise bedeutete es eine große Umstellung, vom ländlichen Barfelde in die Stadt Hildesheim, aus Landwirtschaft und Mühle in einen Handels- und Handwerksbetrieb, aus bäuerlicher Herkunft und Vergangenheit in eine technische Zukunft.

    Die ersten Kraftfahrzeuge kamen auf den Markt. Gustav Schirmer erkannte sofort die Bedeutung dieser Entwicklung und sah im „Automobil" die entscheidende Zukunft für die Firma. Die ersten Kraftfahrzeug-Marken, die sie in das Geschäft aufnahmen und vertrieben, waren Adler und Wanderer.

    Gustav richtete ein Auto-Taxengeschäft ein, zunächst mit fünf Adler-Wagen: Zwei offenen, den sogenannten „Phaetons, und drei überdachten, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit einer Pferdekutsche „Landauer genannt wurden. Alle Automobile befanden sich auf dem neuesten Stand der Technik – mit Schaltungs- und Bremshebel außen an der Seite und Karbidlampen vorn als „Scheinwerfer. Bald standen über ein Dutzend „Automobildroschken mit Taxameter am Hildesheimer Bahnhof für den Stadt- und Landverkehr zur Verfügung – Tag und Nacht. Dazu gab es am Stand auch schon eine Telefonzelle.

    Gustav Schirmer wurde der erste Hildesheimer Fahrschullehrer. Denn zu dieser Zeit erwarb man zuerst das Automobil. Dann lernte man, damit zu fahren.

    Firma Schirmer errang einen guten Ruf als „Pionier der technischen Fortschritte und erarbeitete sich stetiges Wachstum. Opel brachte 1909 den „Patentmotorwagen System Lutzmann als erstes Kraftfahrzeug heraus. Zum 1. Januar 1910 wurde mit dem Opel-Werk der erste Händler-Vertrag für Automobile abgeschlossen. Opel-Nähmaschinen und Opel-Fahrräder gehörten schon länger zum laufenden Geschäft.

    Als Wilhelm Schirmer starb, trat Gustav sein Erbe an. Nun konnte er endlich die Geschäftsausrichtung, um die es vorher teilweise heftige Auseinandersetzungen mit seinem Vater gegeben hatte, allein bestimmen und die Zukunft so gestalten, wie er und Luise es für richtig hielten. Sie hatte inzwischen vier Kindern das Leben geschenkt. Ihr erstes Kind – Tochter „Luise" – hatte nur eine Woche überlebt. Die Zwillinge Gustel und Hans waren jetzt vier, Kurt zwei Jahre alt. Mutter Luise kümmerte sich um ihre Erziehung, erledigte den Haushalt, unterstützte ihren Mann und half im Geschäft. Arbeitseifer und Pflichtbewusstsein waren ihr oberstes Gebot.

    Vater Gustav trieb die Entwicklung voran und konzentrierte sich dabei noch stärker auf das Automobil. Für den Ausbau dieses Geschäftszweiges brauchten sie allerdings zusätzliches Kapital. Sie überlegten gemeinsam, ob sie dafür Kredite aufnehmen sollten. Lieber wollten sie das Wachstum mit Eigenkapital bestreiten. Vater Gustav dachte an den Erbteil von Luises Vater, der bereits kurz nach ihrer Hochzeit verstorben war. Mutter Luise hatte dieses Geld bisher eisern zurückgehalten. Schließlich konnte Vater Gustav seine Frau dazu bewegen, ihren Erbteil in die Firma einzubringen, nicht als eigene Einlage und nicht als Darlehen, sondern einfach als Aufstockung von Vater Gustavs vorhandenem Firmenkapital.

    Die Firma entwickelte sich zum ersten Spezial-Fahrrad-Haus mit der größten Reparaturwerkstatt am Ort. Überdies hatten sie richtig investiert: Das Geschäft mit Automobilen begann zu blühen. Und sie hatten sich offensichtlich auch für das richtige Fabrikat entschieden: Opel wurde 1914 mit 3.519 hergestellten Fahrzeugen zum größten Automobilproduzenten in Deutschland. Ihre Gefolgschaft in der Firma war inzwischen auf 50 Mitglieder angewachsen.

    Nach der Unterbrechung durch den ersten Weltkrieg ging es mit der Wirtschaft allgemein und mit ihrem Geschäft rasch wieder aufwärts. Das Fahrradgeschäft erreichte schnell das Vorkriegsniveau. Doch nun rückte das Kraftfahrzeug immer stärker in den Vordergrund. Die Motorisierung der Fahrzeuge war nicht mehr aufzuhalten. Die „goldenen zwanziger Jahre begannen. Das Automobil spielte darin eine Hauptrolle. Opel begann 1924 mit dem „Laubfrosch die Serienfabrikation am Fließband.

    Die Firma hielt Schritt mit der rasanten Entwicklung. Sie erwarb in der Bismarckstraße 6/7 ein Wohnhaus mit Autogarage. In der Brandisstraße, einer betriebseigenen Stichstraße von der Steuerwalder Straße wurde ein großes Spezialreparaturwerk errichtet. In der Hannoverschen Straße 24/Ecke Bahnhofsplatz entstand eine Großgarage mit Großtankstelle. Hinzu kam in der Almsstraße 32 ein Wohn- und Geschäftshaus. Der Stammsitz blieb in der Hannoverschen Straße 9/10. Das Kontor befand sich in der ersten Etage. Von hier aus wurde Regie geführt. Die Privaträume lagen darüber in der zweiten Etage. Firma Schirmer war nun die älteste Fachfirma am Platz. Sie hatte den fortschrittlichsten, leistungsfähigsten und größten Betrieb der Branche in der Provinz Hannover und beschäftigte mehr als 200 Angestellte und Arbeiter.

    Gustel und Hans hatten drei Jahre lang die Städtische Knaben-Mittelschule am Hindenburg-Platz besucht und danach zum Gymnasium Andreanum gewechselt. Kurt war ihnen mit einem Abstand von zwei Jahren gefolgt. Dann hatten sich ihre Laufbahnen getrennt und waren in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Gustel und Hans waren nach der Obertertia anderthalb Jahre auf die Handelsschule gegangen und absolvierten anschließend eine dreijährige Lehre im eigenen väterlichen Betrieb.

    Nach der Lehre sollten sie im Geschäft bleiben, Vater Gustav unterstützen und später den Betrieb übernehmen. So war es geplant.

    Kurt war weiterhin zur Schule gegangen, sollte auf dem Andreanum das Abitur machen und anschließend studieren. Das war der Wunsch von Mutter Luise. Dafür wollte sie arbeiten.

    Bei seinen schulischen Bemühungen, seinen vielfältigen Interessen neben der Schule und seinen Zukunftsplänen beschäftigte ihn das Geschehen in der Firma nur am Rande.

    In seinem Zeugnis der Reife stand fast überall die Note „genügend, nur in Deutsch, Physik und Zeichnen „gut und natürlich in Leibesübungen „sehr gut. Das war keine Glanzleistung, aber sie berechtigte immerhin zum Studium und das Abschlusszeugnis enthielt den Hinweis: „Schirmer will Rechtswissenschaft studieren.

    Mutter Luise wollte Kurts Abschied von der Schulzeit, von seinem Zuhause und von der Familie vor dem Studium ganz besonders schön gestalten. Sie lud zu einem feierlichen Hausball ein. Seine Freunde und Schulkameraden trugen zu ihren festlichen Anzügen jetzt schon die Bänder der Studentenverbindung, in der sie an ihrem Studienort aktiv werden wollten. Kurt hatte sich für das Corps Teutonia in Göttingen entschieden.

    Kurt studierte Jura und Volkswirtschaft, zunächst in Göttingen, dann in Bonn. Er wollte später Anwalt werden oder in den Staatsdienst treten. Neben dem Studium kostete er nicht nur das Leben in der schlagenden Verbindung aus, er betätigte sich auch nationalsozialistisch und besuchte regelmäßig die Versammlungen der NSDAP. Er fand großen Gefallen an diesem Gedankengut und folgte leidenschaftlich der neuen Bewegung.

    Mutter Luise arbeitete unermüdlich mit und half, wo sie konnte. Sie kannte jeden Kunden, wusste, wer wann welches Automobil bekam. Wenn Vater Gustav in Rüsselsheim oder auf Reisen war, hielt sie in Hildesheim die Stellung. Inzwischen hatte Mutter Luise auch Prokura erhalten. Damit sah sie ihren Einsatz und ihre Arbeit an Vater Gustavs Seite und für die Firma gewürdigt und offiziell bestätigt.

    Die Weltwirtschaftskrise brach aus und erreichte bald Deutschland. Auslöser war der „schwarze Freitag, in Wirklichkeit Donnerstag der 24. Oktober 1929, an dem in New York die Börse zusammenbrach. Die „Goldenen Zwanziger waren durch Kredite finanziert worden. Nun forderten die Vereinigten Staaten und US-Banken die Kredite zurück, weil sie selbst das Geld benötigten. Sowohl der Außenhandel als auch die Industrieproduktion in Deutschland gingen rapide zurück und führten zu zahlreichen Firmenzusammenbrüchen. Hinzu kamen enorme Kriegsschulden, die Deutschland noch zu zahlen hatte. Reichskanzler Brüning versuchte gegenzusteuern, indem er ein massives Sparprogramm erließ, öffentliche Ausgaben, Gehälter, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe radikal kürzte. Damit bewirkte er das Gegenteil von dem, was er eigentlich beabsichtigt hatte. Massenarbeitslosigkeit entstand, Armut und Kriminalität breiteten sich aus. Das war der Nährboden für den Aufschwung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Die NSDAP und ihr Führer Adolf Hitler waren diejenigen, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versprachen. Mit diesem Programm gewannen sie nicht nur die Herzen der verzweifelten Menschen, sondern auch die nächsten Wahlen.

    Die Wirtschaftskrise wirkte sich unmittelbar auf das Geschäft aus. Die hohe Belastung mit der Kraftfahrzeugsteuer hielt Interessenten vom Kauf eines neuen Fahrzeugs ab. Viele, die bereits einen Wagen besaßen, setzten ihn über Winter außer Betrieb, um die hohen Steuern und Unkosten einzusparen. Daraus folgte eine mangelhafte Auslastung der Reparatur-Werkstätten und das wiederum führte zu weiteren Entlassungen oder zu einem abwechselnden Aussetzen der Beschäftigten, damit die Betriebe überhaupt aufrecht erhalten werden konnten und nicht ganz schließen mussten. Hinzu kam ein erbitterter Konkurrenzkampf um die wenigen noch verbliebenen Käufer. Der Niedergang der Automobil-Branche war nicht aufzuhalten. Liefen 1928 noch 781 Kraftfahrzeuge im Stadtgebiet Hildesheim, so waren es 1932 nur noch 569.

    Die guten Erträge früherer Jahre schwanden dahin, es entstanden zunehmend Verluste, die Betriebsmittel wurden aufgebraucht, Unternehmer mussten für sich und ihre Familien erstmals nach längerer Zeit wieder Entbehrungen hinnehmen. So entstand allgemein der Eindruck oder wurde erweckt: Auf der einen Seite überall Entlassungen, Stilllegungen, Zahlungseinstellungen, Vergleiche, Konkurse, chaotische Zusammenbrüche – auf der anderen Seite Unternehmen, denen es immer noch gut ging und die offenbar durch jüdische, marxistische oder anderweitige Unterstützung und Manipulation die Wirtschaftskrise unbeschadet überstanden.

    Der Firma wurde ebenfalls eine derartige Unterstützung angetragen. Das marxistisch orientierte „Volksblatt" wollte Aufträge für Automobile und Reparaturen an die Firma vergeben und zusätzlich vermitteln. Doch dann erfuhr die SPD durch Parteifunktionäre die nationalsozialistischen Umtriebe von Kurt in Göttingen. Diese Meldung wurde schnell in den einschlägigen Kreisen verbreitet. Daraufhin zog das Volksblatt seine angebotene Unterstützung wieder zurück.

    Schon Anfang 1931 konnten sie die laufenden Gas-, Wasser- und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen. Die Stadt verlangte für die zukünftigen Lieferungen Sicherheiten. Vater Gustav bot die Verpfändung von 4 gebrauchten Automobilen und 50 Fahrrädern an. Die Stadt zweifelte zwar seine Wertangaben an, erklärte sich aber trotzdem einverstanden, um eine Stilllegung des Betriebes und ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosenziffern zu vermeiden.

    Die Umsätze gingen drastisch zurück. Die Verluste durch die Wirtschaftskrise waren durch das laufende Geschäft nicht mehr zu verkraften. Dafür mussten Hypotheken aufgenommen, Grundstücke belastet und zusätzliche Kredite in Anspruch genommen werden. Hausbank war die Commerz- und Privat-Bank. Einmal bestand die Gelegenheit, durch einen Verkauf des Geschäftshauses in der Almsstraße 32 den größten Teil der Schulden abzutragen. Der Verkauf an die Commerzbank, die das Haus selbst nutzen wollte, war praktisch schon abgeschlossen und musste nur noch notariell beglaubigt werden. Aber dann kam der Kaufvertrag doch nicht zustande, weil die Commerzbank infolge einer Bankentransfusion von der Bernwardstraße in das Gebäude am Almstor zog. Nun drohten die Schulden die Firma zu erdrücken. Wie viele andere geriet sie in Zahlungsschwierigkeiten.

    Deshalb ersuchte Vater Gustav im Februar 1932 die Hausbank um eine Erweiterung des Kreditrahmens. Die Bank erklärte sich grundsätzlich bereit, allerdings nur unter der Bedingung, dass weitere Sicherheiten eingeräumt würden. Grundstücke und Gebäude waren bereits bis zur Obergrenze belastet. Je nach Wertschätzung waren zwar die Belastungen höher als die Grundstückswerte, aber die eingeräumten Kredite waren weit niedriger als die eingetragenen Hypotheken. Außerdem waren bereits vor einem Jahr zusätzlich drei Lebensversicherungen im Wert von insgesamt 70.000 RMk an die Bank abgetreten worden. Für sie bestand also überhaupt kein Sicherheitsrisiko. Nun verlangte die Commerzbank auch noch die Verpfändung des Warenlagers. Sie behauptete, dass sie dazu von ihrer Zentrale in Berlin angewiesen würde. In seiner Not ließ sich Vater Gustav darauf ein und verpfändete das Warenlager in Höhe von 25.000,-- RMk. Ihnen gehörte jetzt praktisch nichts mehr.

    Mutter Luise litt sehr unter dieser Situation. Sie liebte das Geld und die Sicherheit, es zu besitzen. Ihr Bestreben ging immer dahin, eine eiserne Reserve zu bilden, auch in der Not genügend zur Verfügung zu haben. Und nun musste sie mitansehen, wie alles dahinschwand, auch ihre persönlichen Geldeinlagen in der Firma. Sie konnte das nicht ändern, schon gar nicht verhindern. Sie war machtlos, selbst ihr Einfluss auf Vater Gustav war deutlich eingeschränkt. Er war ohnehin sehr reizbar geworden, regte sich über alles auf und ließ seine Wut an der Familie und anderen aus. Vater Gustav konnte von Mutter Luise nicht mehr gelenkt werden. Die Geschicke wurden jetzt von anderer Seite bestimmt.

    Die Verpfändung des Warenlagers regelte ein komplizierter Sicherungs-Übereignungsvertrag, der für die Bank nur Vorteile, für die Firma nur Nachteile hatte. Die Commerzbank ernannte Hans zum Treuhänder für das Warenlager.

    Sie fügten sich und nahmen alles hin, um erst einmal die ganz akuten Zahlungsprobleme zu bewältigen. Sie setzten ihre ganze Hoffnung auf die Zukunft. Sie glaubten fest daran, dass sich die Zeiten bessern würden und sie dann die Schulden Stück für Stück wieder abtragen könnten.

    Zur kurzfristigen Überbrückung, das heißt zur Bezahlung der unmittelbar fälligen Rechnungen gab Vater Gustav der Bank noch einen Wechsel über 6.000,-- RMk zur Gutschrift auf dem Firmenkonto. Nun – so glaubte er – müsste alles gut gehen.

    Unmittelbar danach ließ die Commerz- und Privat-Bank ohne ihr Wissen und ohne vorherige Verständigung einen Wechsel in Höhe von 402,35 RMk zu Protest gehen. Sie verweigerte die Einlösung und gab den Wechsel zurück. Das bedeutete, dass nun alle Zahlungen eingestellt werden mussten.

    Sie waren fassungslos. Trotz der übermäßigen Sicherheiten, trotz des gerade noch verpfändeten Warenlagers, trotz der eingereichten Wechsel ließ die Bank sie wegen eines so kleinen Betrages hängen und stürzte damit die gesamte Firma in den Abgrund.

    Kurt stand unmittelbar vor dem Staatsexamen. Er unterbrach sein Studium und kam nach Haus, um die Firma retten.

    Sie hatten ihn über die jüngste Entwicklung ständig auf dem Laufenden gehalten und ihm auch sofort von dem geplatzten Wechsel berichtet. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass er deshalb sein Studium abbrechen würde. Vor allem Mutter Luise verstand es nicht. Ihr schöner Traum schien zu zerplatzen, ihr größter Wunsch zu misslingen.

    Wollte Kurt wirklich die Firma retten? Oder hatte er jetzt nur einen willkommenen Anlass gefunden, sein Studium abzubrechen? Hatte er Angst vor dem Examen? Er war ja in der Schule schon keine große Leuchte gewesen, war einmal hängen geblieben und sein Zeugnis der Reife war auch nicht gerade Ausdruck großen Könnens und Wissens gewesen. Würde er nun abermals scheitern?

    Sie hielten sein Eingreifen nicht für zwingend notwendig und unbedingt erforderlich. Gegen den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen waren sie machtlos. Das waren externe Ursachen und Entwicklungen, gegen die sie nichts ausrichten konnten und die sie deshalb so hinnehmen mussten, wie sie kamen. Nur der unmittelbare Auslöser, das Verhalten der Commerzbank, war für sie unfassbar und machte sie ratlos.

    Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Kurt jetzt alles auf Anhieb besser machen könnte als sie oder der Prokurist Richard Rübig. Kurt war zwar seit 1928 während der jeweiligen Semester-Ferien in der kaufmännischen Abteilung tätig gewesen. Dabei hatte er sich Kenntnisse in Buchführung, Kassenhaltung und Bankwesen angeeignet und sich auch über Betriebs- und Organisationsfragen informiert. Aber genügte das in dieser Situation? Konnte er sich vor allen Dingen gegenüber seinem Vater durchsetzen? Oder war gerade er jetzt der richtige Mann? Wäre er sogar in der Lage, ihr Geld zu retten? Vielleicht hatte er sich im Studium so viel Kenntnis angeeignet, dass er wusste, wie er helfen konnte. Mutter Luise war sich nicht sicher.

    Kurt wollte es unbedingt und er ließ sich durch nichts davon abbringen. Er hielt sich als einziger dazu befähigt, die Probleme zu lösen und zwar alle auf einmal und ganz schnell. Er entkräftete bestehende Zweifel und versicherte Mutter Luise, dass es rasch ginge und dass er anschließend, nach erfolgreichem Abschluss seiner Mission, sein Studium noch beenden könnte. An der Universität hatte er hinterlassen: Unterbrechung des Studiums aus „internen geschäftlichen Gründen".

    Kurt sorgte jetzt mit Nachdruck für eine veränderte Blickrichtung: Das Juristische trat in den Vordergrund und die wirtschaftlichen Aspekte wurden zweitrangig.

    Sofort wurde Opel von der Zahlungseinstellung benachrichtigt. Umgehend kam ein Beauftragter des Werkes von Rüsselsheim nach Hildesheim, um die Situation zu klären. Er hatte von seiner Direktion den Auftrag und die Vollmacht, nichts unversucht zu lassen, um den Wechsel-Protest und die Zahlungseinstellung wieder rückgängig zu machen. In Begleitung von Vater Gustav nahm er die Verhandlungen mit der Commerzbank auf. Er erklärte, dass Opel voll und ganz hinter der Firma stände und forderte die Bank auf, sie nicht fallen zu lassen. Er machte darauf aufmerksam, dass allein der Opel-Vertrag einen Aktiv-Posten im Wert von 100.000,--RMk. ausmachte. Bei Zahlungsunfähigkeit wäre Opel jedoch gezwungen, den Vertrag fristlos zu kündigen. Damit wäre dann auch dieser Aktiv-Posten hinfällig.

    Es nutzte nichts. Die Bank war unerbittlich und verhielt sich ablehnend. Er bat inständig, die ganze Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Als er am nächsten Tag vorsprach und erneut die Auswirkungen ihrer Haltung ausmalte und zu bedenken gab, blieb die Commerzbank dennoch bei ihrer Einstellung. Es war hoffnungslos. Er musste unverrichteter Dinge wieder zurück nach Rüsselsheim fahren.

    Auf Veranlassung der Bank wurde ein Zwangsverwalter für die Grundstücke und Gebäude eingesetzt. Die Bank hielt an der Abtretung sämtlicher Mieten fest, um damit die anfallenden Zinsen zu decken. Sie beauftragte den Zwangsverwalter mit der Festsetzung und Eintreibung der Mieten. Zusätzlich ließ sie für die selbst genutzten Räumlichkeiten ebenfalls Mieten festlegen und setzte sie rigoros durch Zahlungsbefehle und Pfändungen vom Zwangsverwalter durch.

    Am 29. März 1932 wurde beim Amtsgericht in Hildesheim der Antrag auf ein gerichtliches Vergleichsverfahren gestellt. Der vom Gericht bestellte Verwalter schrieb insgesamt 129 Gläubiger an. Die Quote sollte 30 Prozent betragen, das heißt die Gläubiger sollten auf 70 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Die Gutachten und Prognosen besagten, dass bei entsprechender Zustimmung eine echte Überlebenschance für die Firma gegeben wäre.

    Die Adam Opel A.G. musste handeln. Konsequent kündigte sie den Großhändler-Vertrag fristlos.

    Der Vergleich wurde angenommen. Die Gläubiger verzichteten auf 70 Prozent ihrer Forderungen. Aber nicht alle. Diejenigen, die dinglich durch Hypotheken im Grundbuch abgesichert waren, erließen die Schulden noch nicht. Das waren die Stadt Hildesheim mit den Haussteuern, Opel mit einer durch Hypothek abgesicherten Waren-Schuld, die Braunschweigische Staatsbank mit Hypothekenschulden und die Commerz- und Privat-Bank mit einem zur Verfügung gestellten Kontokorrentkredit, der im grundbuchlich abgesichert war. Zwischen Vergleichsverwalter, Opel und der Commerzbank war zwar vereinbart, dass auch für sie grundsätzlich die Vergleichsquote gelten sollte. Aber durch die grundbuchliche Absicherung hatten sie die Möglichkeit, das Grundvermögen zu verwerten und sich daraus zu befriedigen. Deshalb wurde festgelegt, dass sie zunächst bis zum 31. Dezember 1933 auf die Geltendmachung verzichteten. Die Stadt und Opel stundeten ihre Forderungen und beanspruchten auch keine Verzinsung. Die Banken dagegen verlangten ihre Zinsen, die Commerz- und Privat-Bank darüber hinaus noch Tilgungsraten. Dies alles sollte durch die gepfändeten Mieten erbracht werden.

    Damit war das gerichtliche Vergleichsverfahren beendet. Schon im Juni wurde es wieder aufgehoben und der Abschluss offiziell im Handelsregister eingetragen.

    Der Betrieb konnte fortgeführt werden. Der wirtschaftliche Erfolg würde über die Zukunft entscheiden. Der Umsatz musste ausreichen, um die Kosten zu decken und es kam nun darauf an, alles entsprechend anzupassen und darauf auszurichten.

    Richard Rübig wurde entlassen, seine Prokura erlosch. Kurt übernahm seine Stelle. Er führte den Schriftverkehr und formulierte die Schreiben für Vater Gustav in allen wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten. Sie klangen sehr formal-juristisch und trugen in dieser gestelzten Ausdrucksweise eindeutig seine Handschrift. Vater Gustav zögerte manchmal mit seiner Unterschrift, weil er gar nicht richtig verstand, was Kurt ihm vorlegte.

    Der Vergleichsverwalter stellte Kurt ein gutes Zeugnis aus. Er bescheinigte, dass sich Kurt als willensstarker und zielbewußter junger Kaufmann erwiesen hätte, der zu seinem Teil am Wiederaufbau des väterlichen Geschäftes wesentlich beigetragen hätte und mit Erfolg auch weiterhin tätig sein könnte.

    Anscheinend gelang es Kurt tatsächlich, alles schnell zu bewältigen. Lieferanten-Gläubiger und gerichtliches Vergleichsverfahren waren erledigt. Der Magistrat der Stadt Hildesheim hatte die Niederschlagung der rückständigen Steuern genehmigt. Nun musste er nur noch die Banken in den Griff bekommen und den Opel-Vertrag zurückerobern.

    Kurt drängte und hatte es eilig. Wollte er schon bald sein Studium wieder aufnehmen und beenden? Auch der Vergleichsverwalter hatte in seinem Zeugnis geschrieben, Kurt hätte sein juristischvolkswirtschaftliches Studium „unterbrochen" … Mutter Luise verließ sich auf sein Versprechen.

    Die Banken hielten jedoch an ihren dinglich abgesicherten Forderungen fest. Damit war das Vergleichsverfahren noch nicht endgültig erledigt und der größte Teil der Schulden blieb nach wie vor bestehen. Vor allem die Commerz- und Privat-Bank zeigte sich besonders hartnäckig und unnachgiebig. Sie fand immer neue Gelegenheiten zu schikanieren, das Geschäft zu erschweren und die wirtschaftliche Erholung zu hemmen.

    Maschinen, die schon länger außer Betrieb gesetzt waren, konnten günstig verkauft werden. Doch die Verkaufserlöse durften nicht in das Geschäft gesteckt werden, sondern die Commerzbank beanspruchte sie für sich und ließ sie durch den Zwangsverwalter beschlagnahmen.

    Der Zwangsverwalter verkaufte ein kleines Grundstück in der Steuerwalder Straße 83 und erzwang ihre Zustimmung.

    Ende 1933 musste sogar das große Reparaturwerk in der Brandisstraße, das eigentlich für die Fortführung des Betriebes lebensnotwendig war, geräumt werden. Auf Betreiben der Bank vermietete der Zwangsverwalter den Betrieb ausgerechnet an den größten Konkurrenten in Hildesheim, die Firma Jahns, zum Betrieb einer Automobilhandlung, verbunden mit einer Autoreparaturwerkstatt für die Fabrikate Ford und Auto-Union. Jahns war ebenfalls Kunde der Commerzbank. Der Direktor drohte Vater Gustav: „Wenn Sie nicht so wollen, wie wir wollen, sitzen Sie binnen drei Tagen auf der Strasse."

    Der Zwangsverwalter forderte sie auf, den Betrieb sofort zu räumen und für den Nachfolger freizugeben. Aber wo sollten sie hin? Ihnen blieb nichts anderes übrig als in die kleine und beengte Fahrradwerkstatt auf dem Hinterhof der Hannoverschen Straße 9/10 umzuziehen. Dafür musste aber dort zunächst umgebaut und alles entsprechend hergerichtet werden, was wiederum einen Aufwand von mehreren tausend Reichsmark zusätzlich erforderte. Die Städtische Sparkasse stellte ein Darlehen zur Verfügung, für das der Handwerksmeister, der die Überdachung des Hofs ausführte, die Bürgschaft übernahm. Darüber hinaus leisteten die drei Söhne nach Feierabend bis in die Nächte viel Eigenarbeit.

    Der Umzug im Dezember, in einem sehr kalten Winter, mit dem Abbau aller Maschinen und Geräte, dem Transport auf vereisten Straßen und der Unterbringung in wesentlich kleineren Räumlichkeiten war für alle eine Strapaze. Die Gefolgschaft ertrug jedoch alle Anstrengungen, Mehrbelastungen und gesundheitlichen Schäden, hauptsächlich Erfrierungen, mit großer Treue und Anhänglichkeit, immer in der Hoffnung auf eine gemeinsame bessere Zukunft.

    Vor dem Wiederaufbau der Maschinen überprüfte und entschied die Bank, welche noch für den Betrieb notwendig und welche entbehrlich waren. Diese wurden verkauft und der Erlös an die Bank abgeführt.

    Der Mietvertrag mit Jahns galt zunächst für 10 Jahre. Er enthielt zum Teil untragbare Bedingungen. Als monatliche Miete wurde nur die Hälfte von dem angesetzt, was tatsächlich möglich und erforderlich war, nämlich 500 RMk statt 1.000 RMk. An eine zusätzliche Tilgung, wie sie die Bank jetzt immer dringlicher forderte, war überhaupt nicht zu denken. Ganz im Gegenteil: Jahns verlangte ständig Reparaturen, die zu ihren Lasten gingen und die sie zu bezahlen hatten.

    Von den abgetretenen Mieteinnahmen bezahlte die Bank ihre eigenen Zinsen, Hauszinssteuer, Grundvermögenssteuer, laufende Versicherungsbeiträge, sonstige öffentliche Lasten und notwendige Reparaturen. Wenn ein Mieter in Not geriet und seine Miete nicht mehr entrichten konnte, forderte die Commerzbank sie auf, die Mietausfälle beizutreiben oder selbst auszugleichen. Ihre eigenen Mieten, inzwischen auch für die Werkstatt in der Hannoverschen Straße, wurden ebenfalls an die Bank abgeführt. Dafür sorgte der Zwangsverwalter.

    Bei unangenehmen oder peinlichen Aktionen versteckte sich die Commerzbank in Hildesheim hinter ihrer Zentrale in Berlin und gab an, von dort höchste Weisung für ihr Verhalten bekommen zu haben. Wenn sie sich dann in Berlin beschwerten, wurde sofort auf die alleinige Zuständigkeit der Zweigstelle in Hildesheim verwiesen. Diese wiederum war äußerst ungehalten, dass sie gewagt hatten, sich an Berlin zu wenden und überlegte umgehend neue „Maßnahmen" zur Bestrafung, reine Schikanen.

    Versuche, mit einer anderen Bank ins Geschäft zu kommen, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Commerzbank deutete zwar großzügig sofortige Bereitschaft dazu an. Aber sie erwartete natürlich im Gegenzug die komplette Ablösung ihrer Konten.

    Die Bank hatte sie in der Hand und fest im Griff. Ihre vielfältigen Bemühungen, eine Lösung oder Einigung zu erreichen, schlugen fehl. Grundstücke und Gebäude wurden von der Bank nicht verwertet oder zwangsversteigert. Es war ein raffiniertes und perfides, aber sehr lukratives System, zum Nutzen der Bank und zum Schaden der Firma. Ein endgültiger Abschluss des Vergleichs rückte weiter in die Ferne.

    Vater Gustav war 1934 anlässlich einer Geschäftsreise nach Berlin bei der Zentrale der Commerz- und Privat-Bank vorstellig geworden und hatte einen neuen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Die Bank sollte Almsstraße und Brandisstraße zur Ablösung der Hypothekenschulden in ihr Eigentum übernehmen und ihm dafür die Hannoversche Straße unbelastet überlassen. Die Besprechung dauerte keine 5 Minuten, der Vorschlag wurde als indiskutabel abgelehnt.

    Offenbar wogen sich die Banken in totaler Sicherheit. So lange sie ihre Forderungen ohne weiteres erfüllt bekamen, bestand für sie auch keine Notwendigkeit, irgendwelche Vergleichsvorschläge anzunehmen. Die Wiedereinsetzung als Opel-Großhändler in Hildesheim hing jedoch von dem Abschluss des Vergleichsverfahrens ab. Nur dann konnte und wollte Opel ihnen einen neuen Großhändler-Vertrag geben.

    Dieser Teufelskreis war trotz aller Bemühungen nicht zu durchbrechen. Es vergingen weitere Jahre, ohne dass sie mit dem Vergleich, den Banken und Opel weiterkamen.

    Kurt lief die Zeit davon. An eine Fortsetzung seines Studiums dachte er nicht mehr.

    Der Nationalsozialismus wurde allgegenwärtig. Gustel und Kurt waren bereits Anfang 1933, noch vor Hitlers Machtergreifung, Mitglieder der NSDAP geworden. Außerdem leisteten sie aktiv Dienst im Sturm einer SS-Motorstandarte.

    Gustel wurde zunächst seine Rösner-Affäre zum Verhängnis. Er wurde vom Sturm ausgeschlossen, später aber wieder in Gnaden aufgenommen. Er machte in der SS keine Karriere und brachte es lediglich zum Rottenführer.

    Kurt kam in der SS ebenfalls nicht voran. Er blieb SS-Sturmmann, im niedrigsten Rang, noch unter dem Rottenführer. Ende 1934 wurde er für einige Monate beurlaubt. Es wurde ihm verboten, während dieser Zeit Uniform zu tragen. Kurz vor Weihnachten musste er sich auf der Dienststelle des Sturms zur Vernehmung melden. Ende Februar 1935 erhielt er vom Führer der Staffel I/4. SS-Motor-Standarte das offizielle Ergebnis:

    „Ich bestrafe Sie mit einem strengen Verweis, weil Sie am 14. Dezember 1934 sich gegenüber Kameraden in abfälliger Weise über die Art der Beförderung im Sturm ausgesprochen haben, ferner durch Ihre Eingabe vom 20. Dezember 1934 an den 3. Sturm, in dem Sie die Worte „Urlaub und „Beurlaubung in abfälliger Weise kritisiert und ein Ersuchen an den Sturm richteten, die Manneszucht außer acht gelassen haben."

    Kurt wandte sich dem Militär zu. Er absolvierte von Oktober bis Dezember 1935 seine erste militärische Ausbildung als Freiwilliger im Ergänzungs-Bataillon 56 zu Braunschweig. Ihm wurde gute Führung bescheinigt und er wurde zum Gefreiten der Reserve und zum Reserve-Offiziers-Anwärter befördert.

    Worauf wollte Kurt jetzt hinaus? Das war Mutter Luise nicht ganz klar. Ihren Traum mit dem Jura-Studium hatte sie schon aufgeben müssen. Wollte er nun im Geschäft bleiben und die in Not geratene Firma retten? Dafür hielt er sich doch für unentbehrlich. Und dann ging er einfach für Monate fort und überließ ihnen die Arbeit? Oder strebte er jetzt eine Karriere im Militär an? Wollte er als Offizier in den Krieg ziehen?

    Im April 1936 erhielten Gustel, Hans und Kurt Gesamtprokura. Sie durften jetzt die Firma offiziell nach außen vertreten und sollten zunehmend die Geschäftsführung übernehmen, auch im Hinblick auf Vater Gustavs Gesundheitszustand, der sich ständig verschlechterte. Für Kurt waren die kaufmännische Leitung, Verwaltung und Organisation sowie die Gesamtbetriebsleitung, für Hans der Automobilverkauf und die technische Leitung der Reparaturwerkstatt, für Gustel das gesamte Fahrradgeschäft vorgesehen.

    Von August bis Oktober erbrachte Kurt den nächsten Wehrdienst.

    Wieder wurde ihm eine „gute" Führung bescheinigt.

    Nach diesen beiden Lehrgängen in Braunschweig stellte Kurt den Antrag, die nächste Übung in der 14. Kompanie des Infanterie-Regiments in Hildesheim ableisten zu können. Er begründete es damit: „Das Geschäft und die mir obliegende Tätigkeit verlangt wiederholt meine Anwesenheit, so dass mir ein Verbleib am Standort sehr dienlich wäre."

    Im Dezember erteilte der Führer des SS-Abschnitts IV aus Hannover Kurt den offiziellen Bescheid:

    „1. Sie werden mit Wirkung vom 1.Dezember 1936 aus der Schutzstaffel entlassen.

    2. Ihre Entlassung erfolgt auf eigenen Antrag wegen beruflicher Überlastung."

    Einige Tage später, genau an seinem 28. Geburtstag, erhielt Kurt die Zuteilung zum Infanterie-Regiment 59 in Hildesheim. Er war glücklich, das war für ihn das schönste Geburtstagsgeschenk.

    Wirtschaftlich kamen sie ein wenig voran. Die Verhältnisse und Umstände besserten sich zwar nicht wesentlich, aber sie gewöhnten sich mit der Zeit daran und versuchten, das Beste daraus zu machen. Es gelang sogar, alte Rückstände abzutragen.

    Der Geschäftsabschluss für 1936 fiel so gut aus, dass die Stadt Hildesheim wieder auf Zahlung der Grundvermögenssteuer bestand. Die Commerz- und Privat-Bank versuchte daraufhin, eine höhere Tilgung der Schulden zu erreichen. Sie drohte mit einer Zinserhöhung und mit einer genauen Überprüfung der Rentabilität durch ihre Treuhand-Gesellschaft. Sie mahnte dringend die Abstoßung der entbehrlichen Grundstücke an. Und sie fragte kritisch nach, ob die Söhne noch im Geschäft mitarbeiteten und welches Gehalt sie im Einzelnen bezögen.

    Die folgenden mündlichen Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Eine Lösung, die für beide Seiten, ihre und die der Bank, angemessen und tragbar war, schien wieder von vornherein unmöglich und ausgeschlossen zu sein. In der letzten Verhandlung war der Direktor so wütend, dass er Vater Gustav drohte: „Wenn Sie unsere Forderung nicht erfüllen, werden wir Sie in die Luft sprengen!" Vater Gustav hatte sich den genauen Wortlaut notiert. Das hatte die Herren offenbar verunsichert. Sie schrieben noch am gleichen Tag:

    „... Leider müssen wir feststellen, dass die mündlichen Verhandlungen mit Ihnen zu keinem Ergebnis gekommen sind und dass Sie in den mündlichen Verhandlungen einen Ausdruck unseres Herrn Direktor … sich notierten, um diesen Ausdruck, der vielleicht etwas krass gewählt war, in irgendeiner Form auszuwerten. ..."

    Sie setzten nunmehr eine Frist für ihre Vorschläge und eine schriftliche Stellungnahme bis „morgen, nachmittags 3 Uhr".

    Kurt formulierte und Vater Gustav antwortete pünktlich. Er zitierte auch die früheren persönlichen Drohungen und brachte zum Ausdruck, dass solche Einstellungen eigentlich seit 1933 nicht mehr vertretbar wären. Sonst müsste dieses Verhalten der Bank einmal von einer maßgeblichen Stelle überprüft werden. Er warf der Bank vor, damals Schuld am Vergleichsverfahren und am Verlust der Opel-General-Vertretung gehabt und damit überhaupt erst ihre wirtschaftliche Misere bewirkt zu haben.

    Dieses Schreiben wurde, wie bereits angedroht, sofort an die Zentrale in Berlin weitergeleitet – wegen „Form und

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