Tagebuch
Von Gottfried Keller
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Über dieses E-Book
Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehört dieses Meisterwerk eines Ausnahmekünstlers mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".
Gottfried Keller
Gottfried Keller (1819-1890) war ein Schweizer Schriftsteller, der auch politisch tätig war. Kleider machen Leute ist sein bekanntestes Werk.
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Buchvorschau
Tagebuch - Gottfried Keller
Gottfried Keller
Tagebuch
Inhaltsverzeichnis
Tagebuch
Eröffnet den 8. Juli 1843 in Zürich
Traumbuch 1846
Eröffnet den 8. Juli 1843 in Zürich
»Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein Weib ohne Spiegel. Dieses hört auf Weib zu sein, wenn es nicht mehr zu gefallen strebt und seine Anmut vernachlässigt; es wird seiner Bestimmung gegenüber dem Manne untreu. Jener hört auf, ein Mann zu sein, wenn er sich selbst nicht mehr beobachtet und Erholung und Nahrung immer außer sich sucht. Er verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter, und wenn er seine geistige Selbständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf. Diese Selbständigkeit kann aber nur bewahrt werden durch stetes Nachdenken über sich selbst, und geschieht am besten durch ein Tagebuch. Auch gewährt die Unterhaltung desselben die genußvollsten Stunden.«
Diese Worte habe ich vor fünf Jahren, im Heumonat 1838, in meinem neunzehnten Jahre, niedergeschrieben, ohne daß ich bis jetzt irgend einmal ein Tagebuch angefangen hätte. Ich denke aber, es geht mir nicht allein so, und ich habe schon oft geahnt und an mir selbst erfahren (ich müßte denn eine tüchtige Abnormität sein), ich habe schon oft bemerkt, sage ich, daß in der Welt sehr viel Schönes, Wahres, sehr gründlich und solid Scheinendes, dem, der es sagt, zur Ehre Gereichendes gesprochen, geschrieben und behauptet wird, ohne daß es dem Autor im mindesten in den Sinn käme, das mit so viel Energie Geäußerte auf sich selbst anzuwenden oder auszuüben.
So ist es mir nun auch mit meinem Tagebuch gegangen, und ich habe die so lehrreiche Zeit meines ersten Ausfluges in die Welt, die drei Jahre, welche ich in München zubrachte, samt allen Eindrücken, die ich dort empfangen, das heitere, schöne Künstlerleben, die bangen sorgenvollen Tage, die ich erlebt, und sonst noch so vieles, was mein Gemüt lebhaft ergriffen; die Rückkehr und Flucht ins mütterliche Haus: das alles habe ich handelnd und leidend an mir vorbeiziehen lassen, ohne eine Silbe darüber niederzuschreiben.
Ich habe mir zwar das ganze Bild in seinen Umrissen und mit seinen Lokalfarben ziemlich treu bewahrt, und wenn ich einst aus mir selbst heraustreten und, als ein zweites Ich, mein ursprüngliches eignes Ich in seinem Herzkämmerlein aufstören und betrachten, wenn ich meine Jugendgeschichte schreiben wollte, so würde mir dies, ungeachtet ich bis jetzt nie ein Tagebuch führte, und nur früher, vor bereits sechs Jahren, dann und wann, aber sehr selten, einzelne abgerissene Vorgänge der Außen- und Innenwelt aufzeichnete, dennoch ziemlich gelingen. Aber wie viele, viele Gedanken und Ideen, wie sie Sonne und Mond uns bringen, gingen mir nicht verloren? Wie viele Erfahrungen und Erlebnisse hatten keinen oder nur wenigen Nutzen für mich, weil ich sie mir nicht genugsam einprägte?
Wie viele poetische Motive und künstlerische Erscheinungen gingen wie Traumbilder, auf die man sich beim Erwachen nicht mehr besinnen kann, an mir vorüber? Und wie viel reizende und bedeutungsvolle Geschichten, Vorfälle und Anekdoten verweben sich dem sinnigen Menschen in sein tägliches Leben, aus denen er oft die schönsten Geistesblumen ziehen könnte, und die meistens spurlos verloren gehen, wenn er nicht einen gehaltvollen Briefwechsel oder ein Tagebuch führt!
Der Hauptgrund aber, der mich zur Führung eines solchen trieb, liegt in der Beschäftigung an sich selber, die sie mir verleiht. Das Tagebuch wird mir ein Asyl sein für jene grauen, hoffnungslosen Tage, die mir oft in stumpfem Nichtstun vorübergehen und spurlos in die dämmernde Vergangenheit verschwinden. Es sind dies die Tage, welche man, gehemmt durch äußere, widerliche, oft miserabel kleinliche Umstände, oder durch innere Erschöpftheit, Rat- und Mutlosigkeit dahinbrütet, ohne einen frischen Entschluß zur Arbeit fassen zu können. Ich weiß wohl, es gibt Leute, welche diese Tage nicht kennen; sondern jahraus jahrein, vom Morgen bis Abend, arbeiten können; ich meine hier nicht die Handarbeiter, sondern die Geisteshandlanger, die glücklichen Wesen, welchen materiell kein Augenblick verloren geht, den sie nicht benutzen können, wie man Nadel und Zwirn, Waschwasser u. dgl. benutzt, welche mit der unerträglichsten, selbstzufriedenen Emsigkeit die Werkel- und Schmutztage hindurch fuseln und schlampen und am Sonntage mit fetter Behaglichkeit nichts tun, nichts denken, nichts sehen; sondern ihren Gänsebraten verzehren und mit Weib und Kind hinausschlendern, nicht um Wald und Au zu sehen, vielmehr um Basen und Gevattern anzutreffen, und den feinen, wohl konservierten Sonntagsrock zu lüften; welche nur sprechen: Heute ist Feiertag! und sich dann vor allem Denken so wohl verwahren können, wie man sich vor dem Sonnenscheine schützt, indem man nur in den