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Zitroneneis: Süß und herb wie das Leben
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Zitroneneis: Süß und herb wie das Leben
eBook305 Seiten4 Stunden

Zitroneneis: Süß und herb wie das Leben

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Über dieses E-Book

Coming of Age in den Sechzigern und Reifeprüfung in den Siebzigern: Der erste Sex, die erste eigene Bude, das erste Auto, die erste Liebe, damit beginnt die Zeitreise in die 1960er und -70er Jahre. Victor Vila nimmt uns mit in eine Zeit voller Träume und Abenteuer, in der Sexualität irgendwie vitaler war und die Arbeitswelt eine, von der heutige Jugendliche nur träumen können!

Der junge Victor ist fasziniert von seiner attraktiven Arbeitskollegin Brigitte. Sie ist jedoch liiert und unerreichbar für ihn. Und doch entwickelt sich eine romantische Affäre, die nicht ohne Folgen bleibt …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. März 2021
ISBN9783347279216
Zitroneneis: Süß und herb wie das Leben

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    Buchvorschau

    Zitroneneis - Victor Vila

    Prolog

    Das weiße Blatt auf dem Bildschirm vor mir ängstigt mich und ich frage mich:

    Will ich das wirklich? Über mein Leben, über mich selbst schreiben?

    Der Rechner steht auf dem Schreibtisch vor dem Fenster. Mein leerer Blick wandert, am weißen Blatt vorbei, aus dem Fenster hinaus in den Garten. Eine Amsel landet auf dem Strauch gegenüber. Und während ich immer noch abwesend beobachte, wie sie mit den typisch ruckartigen Kopfbewegungen ihren Landeplatz und die nähere Umgebung erkundet, wandern meine Gedanken zurück, weit zurück, bis zur unbeschwerten Zeit meiner ersten großen Liebe. Ich spüre Stolz und Wehmut. Und ich frage mich wieder:

    Warum drängt es mich zum Schreiben? Will ich das wirklich tun?

    Zeit meines Lebens habe ich nicht im Traum daran gedacht. Ab und zu sollte man etwas Neues tun, alte Gewohnheiten über Bord werfen, sich verändern. Habe ich mal gelesen. Das mache ich gerade – mich verändern, Neues tun, übrigens nicht zum ersten Mal, aber nach langer Zeit wieder. Und der Impuls zum Schreiben, der kam so: Vor vielen Jahren bat ich meine Mutter, ihre stürmische Lebensgeschichte aufzuschreiben. Nach erheblicher Gegenwehr tat sie es schließlich, in ihrer Muttersprache, in Spanisch. Von der Kraft der Erzählung war ich überrascht, obwohl ich ihre Geschichte kannte. Ich versprach, ihre Erinnerungen zu übersetzen, zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Das hat lange gedauert – zu lange. Sie hat es nicht mehr erlebt. Mein Versprechen aber habe ich gehalten.¹ Und während der Arbeit, vor allem beim Verfassen des Epilogs, passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte:

    Ich fing Feuer. Ein neues Universum tat sich auf. Die Recherchen, die Jagd nach Fakten aus der Zeitgeschichte, das »in Worte fassen« von Anekdoten und Erinnerungen, das Ringen um Formulierungen und Synonyme.

    All das machte unbändig viel Freude!

    Mehr noch, nach der Vollendung wurde ich belohnt wie selten zuvor. Ich spürte Stolz und Erleichterung. Eine schwere Last war von mir abgefallen und an ihrer Stelle erfüllten mich Hochgefühle und tiefe Zufriedenheit.

    Aus diesem Grund reihen sich jetzt Buchstaben auf dem Bildschirm aneinander, deshalb habe ich jetzt begonnen, etwas Eigenes zu schreiben. Dieses Buch soll Ereignisse aus meinem Leben preisgeben, die tief in mir verborgen sind, die niemand kennt und die mir helfen werden, mich selbst zu verstehen – so hoffe ich. Und ich hoffe, erneut belohnt zu werden, belohnt mit den gleichen Empfindungen wie seinerzeit nach der ersten Buchveröffentlichung. Es wird keine reine Autobiografie werden, aber doch überwiegend biografisch sein. Manches werde ich weglassen oder verändern, manches werde ich hinzufügen – und ab und zu auch was erfinden. Weil ich zum Teil Informationen nicht habe und auch nicht mehr einholen kann, und weil manche, die in den Geschichten vorkommen, sich nicht mit Fehlern oder zu ihrem Nachteil beschrieben sehen sollen, ganz gleich, ob sie noch leben oder nicht. Weil zudem veränderte oder erfundene Geschichten das große Ganze besser ausleuchten und sie helfen, die Zeit und die Menschen in ihr besser abzubilden und weil sie das Geschehen entlang der Lebenslinie transparenter machen. Erinnerungen an Ereignisse bleiben ohnehin bei jedem Einzelnen unterschiedlich im Gedächtnis, und daher weiß ein jeder von derselben Begebenheit eine andere Geschichte zu erzählen. Dieses Gedächtnis, das uns Streiche spielt und vieles durcheinanderbringt, je länger Ereignisse zurückliegen und je öfter wir uns daran erinnern! Dann nämlich neigt es dazu, Wunsch und Realität zu mischen, sodass du dir am Ende selber nicht mehr sicher bist, ob es so war oder doch anders.

    Und schließlich ist vieles auch deshalb erfunden, weil ich mir wünsche, es wäre so gewesen, frei nach dem Bonmot von Karl Valentin: »Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!« – weil es nah daran war und weil es sich so zugetragen haben könnte. Weil das, was du erfindest, auf einmal wahrer wird als du selbst. Und doch werde ich versuchen, nah am Geschehen zu bleiben, so wie ich es erlebt habe, und hoffen, dass die, die sich darin erkennen, verstehen, warum es so geschrieben ist, wie es geschrieben ist, und mir verzeihen, wenn sie es nicht mögen.

    Zugegeben, es gibt noch einen weiteren Grund, warum Menschen ihre Memoiren schreiben: die Angst vor Finsternis, vor dem Vergessenwerden. Rationale Menschen mögen wissen, dass nach dem Tod nichts und niemand auf sie wartet. Ich bin kein Phantast – aber auch nicht nur rational. Wenn du am Ende einer langen Wegstrecke spürst, dass keine großartigen Veränderungen mehr folgen werden, und du dir bewusst wirst, dass es nicht selbstverständlich ist, dass dein Herz immer noch schlägt und schlägt, dann möchtest du doch eine Spur von alledem hinterlassen, was dich ausgemacht hat, was du erlebt hast, was dich interessiert hat, was du gefühlt hast. Vielleicht um andere zu inspirieren und um, auch wenn deine Zeit abgelaufen sein wird, doch noch weiterzuleben – in der Fantasie und Vorstellungskraft des Lesers. In ihr wirst du wachgeküsst und nimmst wieder Gestalt an und lebst das Leben, das du so geliebt hast, ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Ein viertes …?

    Ich weiß, du wirst dieses Buch lesen, auch wenn ich nicht mehr bin – und meine Gedanken werden die deinen sein und während du liest, werde ich sein. Und dann werden wir uns gemeinsam an die Magie jener Augenblicke erinnern, die das Leben selbst einmal schrieb. Einmal. Zweimal. Viele Male …

    Na also, die leere erste Seite ist nicht mehr leer, und die Angst vor den ersten Zeilen ist verflogen. Längst vergessene Ereignisse und Figuren tauchen jetzt aus der Vergangenheit auf. Für einen Moment holt mich die Gegenwart zurück, der abwesende Blick wird von der wegfliegenden Amsel eingefangen und ich bin wieder hier. Hier, am Schreibtisch, mit zwei Fingern tippend, und sehe zu, wie sich Geist materialisiert, am Bildschirm Gestalt annimmt und, aus dem Gefängnis der grauen Zellen befreit, zu neuem Leben erwacht. Und dann fliegen mit der Amsel auch die Gedanken wieder davon, davon zur Volksdruckerei, meiner Arbeitsstelle Anfang der Sechzigerjahre, und zur ersten großen Liebe. Die erste – die fast immer rein und unschuldig ist, eben weil sie die erste ist. Die alle anderen überstrahlt, weil sie noch frei ist von Vertrauensbrüchen, von Enttäuschungen, anders als jene, die nachfolgten, und von denen hier noch die Rede sein wird.

    ¹ Emilia Busse, DIE NEBEL DER LIEBE, Books on Demand – später unter dem Titel 5 MONATE MIT DIR bei Amazon.

    Das Universum

    Sie hieß Brigitte, und sie war umwerfend attraktiv. Nicht wenige Lebensläufe hat sie beeinflusst und manchem Schicksal gab sie die Richtung vor, so wie der Polarstern den Seefahrern. Und wie der Polarstern überstrahlte sie die anderen Gestirne im Universum. Sie hatte alles: Jugend, Charme, Schönheit und Ausstrahlung. Alles, was sie brauchte war in ihr. Mit unwiderstehlicher Anziehungskraft zog sie die Bewunderung, aber auch den Neid vieler auf sich. Durch ihre vibrierend verführerische und zugleich kühl-elegante Erscheinung war sie zur Kultfigur geworden. Nicht nur Ästheten verfielen bei ihrem Anblick in schwärmerische Andacht, es gab niemanden, der sich ihrem Zauber entziehen konnte. Ihre bloße Gegenwart beflügelte unsere Vorstellungskraft und Neugierde, eine qualvolle Neugierde auf sinnliche Freuden, die ihr Äußeres versprach.

    Wie andere Bewunderer auch, spürte ich innere Wärme und erotische Fantasien aus unbestimmten Tiefen aufsteigen, die Körper und Geist fesselten, so wie die fantastischen Dinge, die unerwartet aus dem Zylinder eines Magiers erscheinen. Ich fragte mich, wie die Schöne wohl schmecken würde – und eine Kugel Zitroneneis erschien vor meinem geistigen Auge. Lockend, kühl und süß-herb. Sie hieß Brigitte, und sie würde wie Zitroneneis schmecken.

    Die Welt, in der sie sich bewegte, war die der verschiedenen Abteilungen der Druckvorstufe. Diese lagen in der zweiten und zugleich obersten Etage des Universums, im lang gestreckten Produktionsgebäude der Volksdruckerei. Die Herren Sachbearbeiter, also die »Warmduscher« und »Dauer-Kaffeetrinker« aus den höheren Sphären des angegliederten, hoch aufragenden Verwaltungsgebäudes, scharwenzelten gerne um sie herum. Sie steckten in uniformierten Anzügen und Weißhemden und unterschieden sich durch leichte Abweichungen in Muster und Rottönung der Krawatten. Rot mussten sie sein, wollten die Träger nicht ausgegrenzt werden. Ihr Job war es, Kundenaufträge entgegenzunehmen und sie der Produktion zuzuführen.

    Erste Anlaufstelle dazu war der smarte Herr Dorn, Abteilungsleiter der Lithografie, der mit höflich distanzierten Umgangsformen eine natürliche Souveränität ausstrahlte. Die Warmduscher gaben sich die Klinke in die Hand und kamen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Kein Auftrag war so unbedeutend, dass er nicht hätte aufgeblasen werden können, um bei der Übergabe ganz nebenbei mit Brigitte Berger zu flirten – und die anscheinend an Höhenluft gewöhnten Sachbearbeiter verfügten tatsächlich über große Lungen. Sie schwebten majestätisch mit ihren Luftballons knapp unterhalb der Decke in unsere Abteilung ein, nur um bei Brigitte Berger Eindruck zu schinden. Der lässig elegante Herr Dorn verstand es aber hervorragend, die Luft aus den Ballons zu lassen und die Jungs wieder auf den Boden herunterzuholen. Die Volksdruckerei war ein gewerkschaftseigener Großbetrieb mit nahezu 600 Mitarbeitern, der vorwiegend Nabelschau betrieb. DGB und SPD waren, bis auf Ausnahmen, die exklusiven Auftraggeber. Daher auch die roten Krawatten. Und nein, rote Socken gehörten damals noch nicht zum Dresscode der SPD.

    Die Arbeitsstelle genoss unter Facharbeitern und Angestellten der »Schwarzen Kunst« höchstes Ansehen. Anfang der 60er Jahre hatte der Mangel an Fachkräften Löhne und Gehälter ordentlich steigen lassen. Bei der Gewerkschaft beschäftigt zu sein war noch eine Steigerung. Es bedeutete: Gute Bezahlung und optimale Arbeitsbedingungen. Wir waren so etwas wie die glücklichen Kinder im Arbeitnehmer-Schlaraffenland. Selbst soziale Forderungen, die sich in Tarifverhandlungen nicht durchsetzen ließen, waren in unserem Kosmos, der nichts mit der betriebsamen Arbeitswelt da draußen zu tun haben schien, eingeführt. Ach ja, und arbeiten sollte man, wenn man denn höflich darum gebeten wurde, notfalls auch. Für die Direktion der tiefroten Gewerkschafts-Druckerei in den luftigen Führungsetagen des Verwaltungsgebäudes wäre eine unzufriedene Belegschaft der Ober-Gau gewesen. Daher sollte sich niemand über unerfreuliche Arbeitsbedingungen beschweren können, niemand. Und so hatten sich überdurchschnittlich viele Egozentriker, arbeitsscheue Müßiggänger und anderweitig gestörte Typen im Panoptikum von Absurdistan zusammengefunden.

    Mein Kollege in der Reproduktionsfotografie, Uwe Baum, ein introvertierter, schnodderiger junger Mann von gutem Aussehen, aber zuweilen von furchterregenden cholerischen Anfällen geplagt, war ein Beispiel dafür. Ein Vorgesetzter, Abteilungsleiter der Chemigrafie, war ein aus Sachsen stammender, feinnerviger Nachkomme eines bekannten deutschen Philosophen, extrem gutmütig und mit unermesslicher Langmut ausgestattet. Dennoch gelang es Uwe, ihn aus der Fassung zu bringen. Der Gutmensch mit Weisungsbefugnis sprach leise und einschläfernd eintönig. Seine ermüdenden Reden legten sich nach kurzem Zuhören wie Mehl auf die Ohren. Daher nannten wir ihn »Mehli«. Mehli brachte die brandaktuellen Pressefotos, die von uns für die Gewerkschaftszeitung reproduziert und für den Zeitungsdruck bearbeitet werden mussten. Uwe saß meistens lethargisch vor der Bildzeitung an einem Tisch und pulte in seinen kurz geschnittenen, schwarzen Haaren nach imaginären Läusen, die in Wirklichkeit als Schuppen auf BILD und Frühstückstisch rieselten. Bei dieser Beschäftigung ließ er sich nicht gerne stören. Die Pressefotos, die der Philosophenspross mit den höfischen Manieren brachte, waren oft von minderer Qualität, was die Reproduktion erschwerte. Für Uwe war das stets Anlass, den sächselnden Mehli zu provozieren. Lässig fegte er mit seinem Unterarm die Originale mitsamt den Schuppen über die Tischkante in den nebenstehenden Papierkorb und ließ sich grollend vernehmen:

    »Das kann man ja nicht anfassen, von diesem Dreck bekommt man ja den Tripper.«

    Er meinte die Fotos, nicht die Schuppen. Der Chemigrafie-Leiter pflegte dann die wertvollen Unikate aus dem Papierkorb zu fischen und etwas zu stammeln wie:

    »Aber Herr Baum, das können Sie doch nicht tun.«

    Dieser lauste sich aber bereits wieder und schenkte der Angelegenheit keine weitere Aufmerksamkeit. Der Sanftmütige wartete noch einige Sekunden, ehe er sich entfernte. Er wusste, jede weitere Einlassung hätte die Stimmung des finsteren Uwe verschlimmert. Nicht schlecht staunte unser Mehli eines Tages, als er sich, mit den neuesten Pressefotos bewaffnet, einem Plakat über dem Papierkorb gegenübersah, auf dem mit großen Lettern stand:

    »Original-Ablage: Abteilungsleitung Chemigrafie«.

    Nachsichtiger und sanftmütiger ist mir nie jemand mehr begegnet. Ein distinguierter und feiner Mensch mit durch und durch guten Manieren. Selbst der aus gutem Hause stammende Direktor der Druckerei wirkte neben ihm wie ein Landsknecht. Der Sachse ließ sich nicht provozieren und war auch nicht aus der Ruhe zu bringen, was andererseits auch seltsam emotionslos wirkte.

    Als er erneut Arbeit gebracht und damit die Ruhe gestört hatte, äffte ihn die sonst gemütliche Gerda Kunzenbacher hinter seinem Rücken nach. Die Kolleginnen und Kollegen in der Nähe amüsierten sich prächtig, und die eher schüchterne Gerda war sichtlich stolz, dass auch sie sich getraut hatte, sich über den friedfertigen Abteilungsleiter lustig zu machen. Der aber drehte sich unerwartet um und bekam die volle Ladung der Parodie mit. Gerda errötete und versuchte sich ganz klein zu machen, was ihr angesichts ihrer Leibesfülle schwerfiel. Ihre wasserstoffblonden Haare umrahmten die angenehm hübschen Züge im rosigen Gesicht, die ihr in diesem Moment völlig entglitten waren. Die Verlegenheit und der um Hilfe flehenden Blick standen ihr außergewöhnlich gut. Ich war versucht, sie tröstend in den Arm zu nehmen, wenn nicht vollumfänglich, so doch teilweise. Der gutmütige Philosophenurenkel jedoch kam kurz darauf zurück und überreichte der verblüfften Gerda eine Tafel Schokolade, mit den Worten: »Für Sie, Frau Kunzenbacher, ich weiß, dass ich nervig sein kann.«

    Gegenüber dem Schreibtisch des stets elegant gekleideten Abteilungsleiters der Lithografie, Stefan Dorn, mit der lässig gebundenen dunkelroten Krawatte über dem weißen Hemd, waren wie in der Schule reihenweise Tische aufgestellt, Leuchttische. Diese Arbeitsplätze, an denen ca. zwei Dutzend Lithografen ihrer Tätigkeit nachgingen oder in Untätigkeit »abhingen«, waren mit Arbeitsmitteln wie diversen Stiften, Pinseln, Watte, Deckfarbe, kleinen Gefäßen, Schalen mit Chemikalien und größeren Glasbehältern mit Wasser ausgestattet. Berühmt-berüchtigt waren die Wattebausch-Schlachten, die dann stattfanden, wenn Herr Dorn nicht auf seinem Kommandostuhl saß, was nicht selten vorkam. Dann flogen zu Beginn der Auseinandersetzungen aus den hinteren Reihen klatschnasse Wattebäusche auf die Hinterköpfe der davor Sitzenden. Wohl wissend, was sich da zusammenbraute, räumten die meisten Damen und einige Weicheier fluchtartig das Feld. Alsbald entwickelten sich die schönsten Gefechte, wobei die nassen Watteklumpen zwischen den Reihen hin und her flogen. Nicht selten landeten sie auf den mit frischer Deckfarbe aufwendig bemalten Filmblättern zur Herstellung von Druckplatten, die unschuldig auf den leuchtenden Arbeitstischen lagen; die stundenlange Mühsal war für die Katz gewesen. Sowie sich die rote Krawatte von König Dorn seinem Thron näherte, hörte der ganze Zauber schlagartig auf und alle beugten sich über ihre Arbeit und pinselten erneut auf ihren Farbauszügen herum. Dumm nur, dass manche Wattebatzen, die als Blindgänger an der Decke kleben geblieben waren, im ungünstigsten Augenblick herunterplumpsten. Der 34-jährige Stefan Dorn bewies bei diesen Gelegenheiten sein ausgeprägtes Feingefühl und übersah die Klumpen, wenn sie nicht direkt vor seiner Nase landeten.

    Die Gefechte erinnerten mich an Schulstreiche aus Kindertagen. Wären damals die Tintenfässer nicht fest in den Schulbänken eingelassen gewesen, hätten sie Flügel bekommen. So aber zischten in Abwesenheit des Lehrers die mithilfe von Gummiringen abgefeuerten, fest zusammengefalteten kleinen Papierschnipsel durch das Klassenzimmer. Kennt jeder noch aus der eigenen Schulzeit. Mit gnadenloser Strenge und dem häufigen Einsatz eines Holzlineals, das immer zum Tanz bereit auf seinem Pult lag, versuchte unser leidgeprüfter Pauker unentwegt, aber erfolglos, sich bei den vierzig Plagegeistern Respekt zu verschaffen. Mit dem zweckentfremdeten Messinstrument schlug er, den Sündern zur Strafe, entweder auf die flache Innenhand oder auf die getürmten Fingerspitzen. Groß war das Gelächter, als er das Lineal wieder einmal, schon voller sadistischer Vorfreude, missbrauchen wollte, aber vergeblich daran zerrte, weil es auf dem Pult festgenagelt war.

    Der Platz von Otto Feldmann in der Lithografie befand sich in der zweiten Reihe. Beim gefürchteten Wattebausch-Krieg war er immer das erste Opfer. Es war zu verlockend, ihm einen Nacken-Treffer zu verpassen, weil er sich am meisten darüber aufregte. Lustig, wie er sich, mit seinem Sprachfehler laut losstotternd, beschwerte. Otto litt unter psychischen Störungen und belegte einen der Pflichtarbeitsplätze für behinderte Menschen. Dabei war Otto außerordentlich begabt. Seine Geduld und sein Hang zum Detail befähigten ihn, auch die anspruchsvollsten Arbeiten zu erledigen. Er konnte aber heftig reagieren, wenn man ihn reizte. Und das taten einige Kollegen gerne. Einmal bearbeitete er ein großformatiges Gruppenfoto, auf dem einige bekannte Gewerkschaftsfunktionäre zu sehen waren, als der Kollege Hermann, über seine Schulter blickend, kommentierte: »Na, Otto, da hast du dich aber geschickt in die Gruppe einkopiert, man merkt es ja kaum.«

    »Das ist mein Bruder, du Arschloch!«, gab Otto empört zur Antwort. Er hatte einen nicht behinderten Bruder, von dem bis dahin niemand gewusst hatte. Die Überraschung war perfekt und diesmal lachten alle über Hermann. Leise vor sich hin feixend freute sich Otto, über die absichtslos gelungene Bloßstellung des Kollegen, wie ein Schneekönig auf dem Eisthron.

    Hermann, mit stramm über dem Bauch gespanntem Kittel, war durch seine Statur mit omnipotenter Präsenz ausgestattet, zudem gefiel er sich in der Rolle des Moderators. Nicht, dass er sich von den beliebten Wattebausch-Schlachten ferngehalten hätte, ganz im Gegenteil, da mischte er kräftig mit, aber auch bei Diskussionen oder Unterhaltungen aller Art war Hermann stets dabei. Gefragt oder ungefragt mischte er sich ein und tat zu jedem Thema seine Ansicht kund. Und er hatte immer eine dezidierte Meinung – zu jedem und allem. Sein lautes Organ und seine dominante Art waren einschüchternd, sodass er nicht mit Widerspruch zu rechnen brauchte. Es sei denn, sein Vorgesetzter vertrat einen anderen Standpunkt. Dann gab sich Hermann ein- und nachsichtig. Seinem hierarchischen Weltbild folgend, ordnete er sich der Obrigkeit unter. Bei deren Abwesenheit aber war er, als offizieller Stellvertreter, Platzhirsch in der Lithografie. Der jungen Nachkriegsgeneration angehörend, sprach und dachte der latent antisemitische und zum Rassismus neigende Kommisskopf wie ein alter Nazi. Gefürchtet waren seine Einlassungen zum Dritten Reich und zur Wehrmacht, über die er schwadronierte, als wäre er dabei gewesen. In Anwesenheit von Hermann bemühten wir uns, diese Themen nicht anzuschneiden. Gerne machte er sich lustig über Südländer, Farbige und Andersartige ganz allgemein. Und bereitwillig erzählte er bei geeigneten Anlässen Judenwitze aus einem schier unerschöpflichen Fundus. Ins Wanken kam seine Gesinnung allerdings, als Jahre später die Israelis im Sechstagekrieg über die vermeintlich übermächtige Araber-Allianz triumphierten. Da hob er sie aufs Schild und huldigte ihnen. Unmittelbar danach begann er, für sich und sein Weltbild, zu unterscheiden zwischen Juden und Israelis. Seine Interessengebiete waren das Dritte Reich, die Wehrmacht und Waffen aller Art. Vielleicht war er in einem früheren Leben Krieger gewesen, wahrscheinlicher aber entstammte er einem der vielen Elternhäuser, die noch den großdeutschen Ideologien anhingen und die es eigentlich nicht mehr gab, weil es sie, nach dem Untergang des »Tausendjährigen Reiches« nicht mehr geben durfte.

    Frank Rist, einer der am besten bezahlten Lithografen, bekam von den Watte-Scharmützeln nicht viel mit. Als der Existentialist, für den er sich hielt – was er durch einen kurz geschnittenen, schwarzen Vollbart zu dokumentieren suchte – sah er Arbeit nur als notwendiges Übel, um seine Träume finanzieren zu können. Durch seinen asketischen Lebensstil war er in der Lage, sich teure, individuelle Erlebnisreisen in exotische Länder zu leisten. Die Vor- und Nachbereitung dieser interessanten Kultur- und Abenteuerreisen forderten, neben dem aufwendigen Ausbau einer großen Scheune zum Hauptwohnsitz, seine ganze Energie. Infolgedessen war er bei der Arbeit immer müde, was niemanden verwunderte. Unter den an der Wand nebeneinander aufgereihten Wasserbecken zur chemischen Behandlung der lithografischen Arbeiten befanden sich die mit Schiebetüren versehenen Unterschränke für die Aufbewahrung von Chemikalien, Handtüchern und anderen Utensilien. Dort schlief Frank Rist – wie Diogenes in der Tonne.

    Und da waren noch all die anderen Irrsinnigen, mich eingeschlossen, die an diesem Ort einen großen Teil ihres Daseins verschwendeten und die die typische Folklore der Volksdruckerei komplett machten. Haarspalter Dieter, der pedantische Kopierer; Rolf, der servile Hans-Dampf in allen Gassen; die heiße Walli, Polizistin und Bildzeitung in einem; das unsichtbare Fräulein König, kurzsichtig und farblos; Ernst, der kleinkarierte Erbsenzähler mit der behaarten Nasenspitze; »Zwockel«, der geschwätzige Österreicher mit Geltungsdrang, pockennarbigem Gesicht und krausem Haar, Spezialist für endlose Monologe, mit denen er seine Opfer folterte, es sei denn, es handelte sich um Hermann. Dann allerdings entbrannte ein höchst unterhaltsamer Disput, ein »Krieg der Worte«, der stets in gegenseitigen Beleidigungen endete; der dicke Franz, der, einem Chamäleon gleich, seine Hautfarbe blitzschnell von kreidebleich bis puterrot zu wechseln vermochte; Viola, die hagere, hoch gewachsene, rothaarige Finnin, geheimnisvoll und unergründlich wie ein tiefer See; der stylische »Giacomo«, stets nach der aktuellsten Herrenmode dandyhaft angezogen, der sich durch seine Frisur mit dem ungewöhnlichen Mittelscheitel und den auffälligen Accessoires wie ein Pfau auf dem Laufsteg der Eitelkeit in Szene zu setzen wusste.

    Den bunten Strauß aus Figuren und Charakteren vervollständigten zwei Fotolaborantinnen, das gertenschlanke und sensible »Blümchen« und die schüchterne Inge, die für ihren unglaublich großen und spitz zulaufenden »Vorbau« unter ihrem weißen Kittel, mit dessen Hilfe sie ihre Gesprächspartner immer auf respektvolle Distanz zu halten wusste, einen Waffenschein gebraucht hätte; des Weiteren die beiden Lehrlinge: der zum Leichtsinn neigende, sommersprossige Volker und Werner, einäugiger Spaßvogel mit ausgeprägtem englischem Humor, der mit seinem Glasauge schaurige Scherze trieb. Schließlich war da noch unser pausbäckiger Quotenalkoholiker Jürgen mit seiner dicken Hornbrille auf der roten Nase, der, wie die Amerikaner, seine hochprozentigen Flaschen in braunen Papiertüten fremden Blicken zu entziehen suchte, sowie der überspannte Kiffer Emil, welcher sich nach Kräften mühte, die Hippie-Ära bei uns einzuläuten. Stets war er auf der Suche nach neuen bewusstseinserweiternden Erfahrungen und unkonventionellen Lebensformen in Wohngemeinschaften. Zudem vertrat er eigenwillige Ansichten über freie Liebe und kompromisslosen Pazifismus. Im Widerspruch zu seinem zurückhaltenden und eher schüchternen Naturell war er vom Äußeren her eine der auffälligsten Erscheinungen bei uns. Seine halblangen, seidig schwarzen Haare, die er ständig mit der dafür typischen und ruckartigen Bewegung aus seinem Sichtfeld zu schnicken suchte, passten ausgezeichnet zur schwarzen Kleidung, die er ausschließlich trug. Sein morbides Outfit wollte er keineswegs durch den üblichen weißen Kittel verderben, den alle

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