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Lavendelhonigkuss: Ein Weg zur Liebe
Lavendelhonigkuss: Ein Weg zur Liebe
Lavendelhonigkuss: Ein Weg zur Liebe
eBook307 Seiten4 Stunden

Lavendelhonigkuss: Ein Weg zur Liebe

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Über dieses E-Book

«Wenn ich deine Geschichte höre und dich hier im Anzug sitzen sehe, grenzt das an ein Wunder. Andere mit deinem Hintergrund liegen verwahrlost in Parks oder Unterführungen», sagte der geistliche Vater von Noah, nachdem dieser ihm erzählt hatte, was ihm alles widerfahren war. Hilfesuchend hatte er sich an die Kirche gewandt; Noah stand am Abgrund seines Lebens.
Noah war noch keine vier Jahre alt, als er von seiner Familie getrennt und in die Obhut einer Pflegemutter gegeben wurde.
Nach bitteren Monaten des Getrenntseins ging die «Reise» dann weiter für Noah. Doch führte sie ihn nicht wieder zu seinen Eltern, sondern in ein Kinderheim. Hier sollte er in den folgenden sechs Jahren die pädagogischen «Sitten und Gebräuche» der 70er-Jahre im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib erfahren.
Als er mit elf wieder zu seiner Mutter zurückdurfte, liess er sich, wie sich selbst geschworen, kaum noch etwas sagen.
Jahre später, verheiratet, wuchs in Noah das Bedürfnis, aufzuräumen; die Seele - gebrochen wie sie war - zu heilen, wieder zusammen zu führen und Achtung vor dem Leben zu bekommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum7. Jan. 2020
ISBN9783740720919
Lavendelhonigkuss: Ein Weg zur Liebe
Autor

Christian Strässle

Christian Strässle unterstützt heute Menschen die sich aktuell in einer Situation sehen, die keine Perspektive bietet. Sie zu festigen, ist für ihn gleichermassen Motivation wie Anspruch. mehr hierzu: www.salzundstein.ch

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    Buchvorschau

    Lavendelhonigkuss - Christian Strässle

    Dieses Buch widme ich Lea, mit der ich meinen Traum von Liebe lebe und jeden Tag in Wirklichkeit erfahre.

    Ich bedanke mich bei Lea für ihre Liebe.

    Meinen Dank gilt Salome und Anais; dafür, dass sie mich in der Lehre zum Papi unterstützen.

    Ich bedanke mich bei Laura, meiner ersten Frau für die gemeinsame, wertvolle und prägende Zeit.

    Einen Herzensdank gilt meinem geistlichen Vater Armin, der nie aufgehört hat, an mich zu glauben und der in Zeiten, in denen ich nicht mehr glauben konnte, dies für mich getan hat.

    Ich bedanke mich bei meinen beiden Lektoren Brigitte und Christoph, ohne die ich aufgeschmissen gewesen wäre und durch die ich wirkliche Unterstützung erfahren durfte.

    Ich bedanke mich bei all meinen Freunden, bei denen ich immer wieder willkommen bin. Mit ihnen habe ich auch genossen und gelacht, als es mir eigentlich nicht so ging, wie ich das gerne gehabt hätte; Freunde, die mir begegnet sind, mich und mein Handeln auch kritisch hinterfragten, wonach ich mich danach weiter entwickeln konnte.

    Dies ist eine wahre Geschichte. Alles, was ich schrieb, ist so geschehen. Einzig, alle Namen in diesem Buch sind geändert.

    noah.simon@bluewin.ch

    www.salzundstein.ch

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Erster Teil

    So ist das Leben

    Kinderheim

    Therapie

    Frauengeschichten

    Neuanfang

    Heilsversprechen

    Trauer

    Familienstellen

    Verwandelt

    Jim Knopf

    Intakte Welt

    Erziehung

    Fragmentiert

    Claudia

    Überforderung

    Bewusstseinserweiterung

    Freunde?

    Wer missbraucht wen?

    Geduld

    The Can(n)abis

    José

    Versöhnung

    Einsicht

    Neue Wege

    Zweiter Teil

    Traum(a)hafte Zeiten

    Neuorientierung

    Schwulenzirkus

    Lena

    Delia

    Chancen

    Angekommen

    Frohe Botschaft

    Familienleben

    Unglück im Glück

    Traumatische Grenzerfahrungen

    Fröhliche Weihnachten

    Yes

    Was für Weihnachten

    Gottes Segen

    Vorwort

    Biographien berühmter und vom Schicksal geprägter Menschen, davon gibt es wohl unzählige, und die Regale in Buchhandlungen (hoffentlich gibt es sie noch ewig) sind voll damit. Nicht zu schweigen der Markt im Internet. Weshalb also eine Biographie schreiben? Berühmt bin ich nicht. Ich bin auch kein Held der Leinwand. Kein Fussballstar. Kein Finanzmogul. Kein berühmter Politiker. Was auch immer ich tat, erfüllte ich mit ganzem Engagement. Wer mich selbständig arbeiten ließ, durfte sich an den Resultaten erfreuen und solche, die von meinem Wissen profitieren wollten, denen habe ich es gerne weitergegeben. Und das, so stellte ich es in den vergangenen Jahren immer mehr fest, gab mir bis heute Erfüllung.

    Zurück zu meiner Biographie: weshalb habe ich meine persönliche Geschichte geschrieben? Wie vieles im Leben ist auch dieses Buch in der Arbeit mit mir selbst entstanden. «Sie sollten Tagebuch führen», wurde mir von einer meiner Therapeutinnen – ich nenne sie in diesem Buch liebevoll Jim Knopf – empfohlen. Was in mir nicht gleich ein berauschendes Gefühl auslöste. Das Gegenteil war der Fall. Ich bin Legastheniker – das Wort Rechtschreibung kenne ich von Wikipedia. Das Umzusetzen, da gibt es noch einiges nachzuholen und ohne die roten Wellenlinien im Word wäre ich aufgeschmissen. Ja, ein Kindheitstrauma könnte erwachen, wenn ich mich daran zurück erinnere, wie meine Diktate zurückkamen; als hätte sie mir ein Metzger mit blutverschmierten Händen ausgehändigt. Überall nur Rot zu sehen und genau so bedrohlich fühlte es sich auch an. Es war in den siebzig und achtziger Jahren und die einzige Massnahme die es gab, war, dass ich im Einzelunterricht gefördert wurde, jedoch ohne dies im Bewertungssystem – meinen Noten, zu berücksichtigen. Also habe ich mich an die schlechten Noten gewöhnt, denn es blieb mir keine andere Wahl. Dies meine Erklärung, weshalb Jim Knopfs Empfehlung nicht gleich berauschende Gefühle auslösten. Doch da war in mir der tiefe Drang aufzuräumen. Und dafür war ich bereit, Schaufel und Besen in die Hand zu nehmen und anzufangen meine Kammern aufzukehren. Aus dem Rat wurde mein Wunsch.

    Eines Abends sass ich in meiner Mansarde am Schreibtisch, blickte auf den PC vor mir und sah mich wenige Augenblicke danach, wie ich meine früheste Erinnerung eintippte. Von Grammatik und Kreativität konnte zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein. Ich schrieb drauf los, wie es mir so in den Sinn kam und fühlte eine weitere Form der Befreiung in mir, mit jeder Zeile die auf dem Bildschirm erschien. Täglich sass ich nun in meiner Mansarde und schrieb, nachdem ich mich zuerst meinem Tagebuch (zum Schluss sind weit über 3500 Seiten zusammen gekommen) anvertraute, weitere zwei Stunden am PC. Als dann die ersten 280 Seiten geschrieben waren, händigte ich diese meiner Homöopathin, die mich fünfzehn Jahren begleitete und zu einem meiner Lebensretter wurde, sowie Jim Knopf, aus. Nicht zuletzt mit dem labilen Traum, der im Verborgen schlummerte, nun den Bestseller meines Lebens geschrieben zu haben. Das Erwachen kam nicht lange Zeit später, als meine Homöopathin Anita mir die Seiten zurück gab und meinte: «Es tut mir leid, aber wenn ich deine Beschreibungen lese, komme ich mir einerseits vor, wie eine Voyeurin und auf der anderen Seite zieht es mich nach unten, weil eine schaudernde Geschichte der nächsten folgt. Es tut mir leid, aber ich kann das nicht lesen». Und Jim Knopf gab mir die Seiten mit dem Kommentar zurück, wie intelligent ich sei, dass es da noch einiges zu überarbeiten geben würde und ich mir auch Gedanken machen müsste, was ich veröffentlichen möchte und was nicht.

    Daraufhin schrieb ich mich bei der Akademie für Fernstudien in Hamburg ein, um mir das Schreibhandwerk anzueignen, damit meine Botschaft, die ich in diesem Buch vermitteln wollte, so gelesen werden konnte, dass es trotz Dramatik auch Freude und Weisheit vermittelt; was es meiner und der Ansicht meiner Lektoren auch tut.

    Und welche Botschaft soll dieses Werk nun in die Welt hinaus tragen? Ich bin in meinem Leben vielen Menschen begegnet, die wie ich, eine niederdrückende Last auf ihrem Buckel mittragen. Die einen würdevoll, andere rücksichtslos und eigennützig. Eine Person sehe ich immer wieder einmal in den Gassen der Stadt, in der ich wohne. Er war mit mir im selben Kinderheim aufgewachsen. Auch er wurde zuvor von einem Ort zum anderen geschoben. Sein Zuhause ist die Strasse. Würde ich auf ihn zugehen und ihm Hallo sagen, ich glaube er würde mich nicht wieder erkennen, weil die Drogen sein Hirn durchfressen und dermaßen vernebelt haben, dass es gerade dazu reicht, zu wissen, wo er sich den nächsten Schuss besorgen kann.

    Anders lernte ich Menschen kennen, die von ihrem Leben erzählten und ich beim Zuhören dachte: «Mein Gott, was hindert es dich Hilfe anzunehmen? Wussten sie nicht, dass das Leben mit jeder Sitzung beim richtigen Therapeuten leichter werden kann? Herausforderungen können dadurch verständlich angenommen werden, weil die Last nicht mehr so drückend ist. Und und und … Es tut einfach nur gut, das ist meine Erfahrung. Doch ich verstehe auch die Ungewissheit vor dem Hinsehen. Nicht zu wissen, was da auf einen zukommt. Was da alles im Verborgenen schlummert. Also doch lieber verdrängen?

    In meiner Ausbildung zum systemischen Coach las ich hierfür die passenden Zeilen:

    Jede Erfahrung bleibt unvollständig, bis man mit ihr fertig ist. Die meisten Menschen verfügen über eine grosse Belastbarkeit hinsichtlich unerledigter Situationen… Obwohl man eine beachtliche Menge unerledigter Erfahrungen vertragen kann, so suchen doch diese unvollständigen Entwicklungen ihre Vervollständigung: und wenn sie stark genug werden, wird der Betreffende von Zerstreutheit, zwanghaftem Verhalten, übermässiger Vorsicht, bedrückender Energie und einer sinnlosen Geschäftigkeit befallen.» (Polster 1983, S. 46)

    So sah es einst auch in mir aus. Ja, diese von Polster beschriebene Person war ich einmal. Und diese Person stelle ich in meinem Buch vor. Seitdem ich beschlossen habe, meine Lebensgeschichte nieder zu schreiben, bin ich voller Hoffnung, meinen Leserinnen und Lesern Mut zu machen, mit den Aufräumarbeiten in den eigenen Kammern zu beginnen und aufzuhören, sich mit Nebenschauplätzen zu beschäftigen. Selbst wenn hie und da Geschirr zerschlägt - so wie es bei mir der Fall war - ist das neben meinem Auftreten und den liebevollen Begegnungen, die ich täglich habe, mein Beitrag an einen Weltfrieden. Wenn wir wirklich etwas nachhaltig verändern wollen, dann gibt es nur die eine und einzige Möglichkeit. Wir müssen bei uns selbst beginnen. Wie sagte es Nicolas Chamfort:

    Es ist schwer, das Glück in uns zu finden, und es ist ganz unmöglich, es anderswo zu finden.

    Ich möchte das vermitteln, was ich in der Arbeit mit verschiedenen fachlichen Therapeuten an mir selbst erfahren habe. Und ich möchte es mit aller Deutlichkeit sagen. Das Loch, in das man hineinfällt und wovon geglaubt wird, daraus nie wieder heraus kommen zu können, gibt es nicht. Punkt. Und je mehr wir lernen, uns an uns selbst heran zu tasten, wir Tränen einordnen können, die schon so lange hätten geweint werden sollen, umso befreiender ist es, wenn sie ihren Platz mit Achtung und Würde bekommen. Noch nie erlebte ich etwas Erlösenderes als jenen Zeitpunkt, in dem ich genau das erlebte. Kein Joint den ich rauchte (es waren unzählige) keine Linie Cooks (es waren einige Meter) die ich reinzog, haben mir jemals diese Glücksgefühl gegeben, als ich endlich nach Jahren wieder weinen konnte. Also wovor Angst haben? Kraft entsteht durch das Bewusstwerden, was einmal wirklich war. Damit ich es einordnen kann. Dann gibt es auch nichts mehr, was im Verborgenen schlummert. Dieser ganze Druck, der im Geheimen lag, platzt wie die Luftblase am Horizont.

    Ich wünsche mir beim Lesen meiner Biographie, dass die Leser Mut bekommen, ihre eigene Biographie zu erforschen, ablegen und deponieren können, was zuvor zu erdrücken schien. Es sollen hernach noch unzählige Bücher meiner Leserschaft geschrieben werden können, die mit dieser Freiheit enden, wie ich sie in unzähligen Momenten erfahren und hier beschrieben habe.

    Denn der Kern des Friedens ist in jedem von uns. Was hindert uns also, diese Kraft gedeihen zu lassen?

    Mut wird deshalb benötigt, weil nur dann aufrichtige Versöhnung stattfinden kann, nachdem wir die Verletzung als solche erkannt und auch wahrgenommen haben. War es die unverständliche Ohrfeige, die uns einst im Spiel verpasst wurde? Oder gar andere schwerwiegende, missbräuchliche und traumatisierende Handlungen, vor denen wir uns seither mit falschen Glaubenssätzen versuchen zu schützen und die wir uns deshalb immer wieder selbst einreden? Es braucht Mut, sich „Lügen" zu stellen und uns von hausgemachten Einwänden zu lösen. Nachdem wir unsere falschen Glaubenssätze, die uns einst schützen sollten, erkannt haben, werden wir wahrnehmen, welche misslichen Handlungen wir im Glauben, das Richtige aus Liebe getan zu haben, in falscher Form weiter gaben. Genau deshalb wird es Mut brauchen, auf Menschen zuzugehen, um sie um Verzeihung zu bitten. Manchmal wird das viel Zeit brauchen und ist durch nichts zu beeinflussen. Dies liegt im Ermessen meines Gegenübers und gibt genügend Zeit, uns weiter um uns selbst zu kümmern, um die gewonnene Befreiung in unserem Tun und Handeln weiterzugeben.

    Erster Teil

    Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen; Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, indem ihr den Herrn, euren Gott, liebt und seiner Stimme gehorcht und ihm anhangt.

    5. Mose 30, 19.20

    1

    Kinderheim

    Ahnungslos, die Hände in den Hosentaschen meiner Latzhose vergraben, den Kopf leicht Richtung Boden geneigt, stand ich in einem hohen Flur, an einem mir unbekannten Ort. Hinter mir eine grosse Pendeltüre aus Rauchglas, durch die ich soeben dieses grosse Haus betreten hatte. Im Hintergrund nahm ich ein immer leiser werdendes «Buoab buoab buoab», der sich einschwenkenden Türhälften wahr. Wie in einer schlechten Momentaufnahme eines Familienporträts stand ich in einem Gang zwischen meinen Schwestern und meinen Eltern. Ich hatte sie alle schon lange nicht mehr gesehen. Bei meiner Mutter und meinem Vater stand ein mir fremder Mann.

    Was mache ich hier? Und wer ist dieser Dicke mit Bart?.

    Sie sprachen einige Sätze mit dem Mann in den sandfarbenen Hosen, über die sein, in ein Holzfällerhemd eingepackter Bauch hing.

    Über was die wohl sprechen?

    Ich blickte zur grossen Schwester, der anscheinend gerade dieselben Gedanken durch den Kopf schossen. Sie schaute mich an. Und die Art, wie sie ihre Augen verdrehte, sagte mir, dass auch sie nicht wusste, um was es da gerade ging.

    Im Gang roch es nach Erbrochenem, nach Tee, Kakao und Kaffee. Die Luft war stickig und die Atmosphäre bedrückend.

    Wo bin ich hier? Das ist nichts Gutes.

    Meine Blicke schweiften von Mama zu Papa, vom Bärtigen zum Wandschrank und durch die Fenster nach draussen, erreichten dann meine grosse Schwester und schliesslich wieder ihren Ausgangspunkt: Mami. Dabei wurde mir bang und banger. Mich «drückte» es von allen Seiten und die Enge drohte, mir den Atem zu nehmen. Ich fühlte mich als hätte mich irgendein Riese in eine Schuhschachtel gezwängt, aus der ich ohne fremde Hilfe nie mehr hinauskommen würde.

    Das Klimpern von aufeinanderschlagenden Tellern, aber auch das Kratzen und das raue Gemurmel, welches ich von der anderen Seite der Wandschränke her wahrnahm, trugen das Ihrige dazu bei. Auch Manuela und Sybille schauten fragend um sich; ihnen war es anzusehen, wie unwohl sie sich fühlten. Uns drei erfasste eine immer gedrücktere Stimmung.

    «Ihr müsst hier bleiben», sagte Papi plötzlich.

    Was??? Hierbleiben??? Hilfe!!!

    Ein dicker Kloss setzte sich mir im Hals fest. Ich fühlte mich, als würde man mich in die Mangel nehmen.

    Ich will wieder nach Hause zurück!

    Mami sah, mit rotem Gesicht und Tränen in den Augen, zu uns Kindern herab. Sie wischte sich darauf mit der Hand die Augen klar und nahm mich und meine beiden Schwestern in ihre Arme.

    «Macht’s gut und passt auf euch auf. Mami liebt euch und ich komme wieder und besuche euch», erklärte sie schluchzend.

    «Es muss so sein», sagte Papi, während er uns kurz in die Arme schloss und uns fast regungslos an sich drückte.

    Danach verliessen beide das Haus durch dieselbe Tür, durch die wir erst vor wenigen Minuten hereingekommen waren. Die Pendeltüre schwang sich leicht klappernd ein, und wir folgten dem unbekannten Dicken.

    «Kommt mit», sagte er mit fast tonloser Stimme.

    «Wir bringen jetzt zuerst einmal das Gepäck auf eure Zimmer; dann könnt ihr zum Abendessen gehen».

    Eure Zimmer?

    Wir folgten ihm mit kleinen, leisen Schritten. An den Wandschränken vorbeigehend, sahen wir das erste Mal in den Saal, aus dem die Geräusche kamen, die mich zuvor so geängstigt hatten. Da sassen Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters zusammen mit Erwachsenen an Tischen beim Essen und unterhielten sich.

    Als wir in Sichtweite kamen, verstummte der ganze Saal. Blicke fixierten und taxierten uns drei Neuankömmlinge. In jenem Augenblick schien alles still zu stehen. Das Kratzen auf den Tellern hatte aufgehört. Kein Gemurmel war mehr zu hören. Niemand regte sich. Absolut niemand.

    Nur das Summen der Fliegen, die ungeachtet dieses «ungeheuerlichen Moments» im Saal herumschwirrten, war zu vernehmen. Alle Blicke schienen stumme Fragen an uns zu richten. Als wir mit dem Bärtigen in einem weiteren langen Gang verschwanden, löste sich die Starre im Saal auf und wechselte wieder in die vorherige Stimmung über. Der grosse Mann ging voran. Seine Schritte wirkten schwer, der Boden knirschte und knackte unter seinem Gewicht.

    Wo sind wir? Wohin gehen wir? Warum sind wir hier? Was habe ich nur angestellt?

    Da sass ich nun. Gegenüber Gesichtern, die kommentarlos ihr Essen in sich hineinschaufelten und mir fragende Blicke zuwarfen. Am oberen Tischende sass eine Frau, die mir als Irene vorgestellt worden war. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit Pickeln an Kinn und Stirn, sowie lockiges, zerzaustes Haar. Ihr oblag die Aufsicht am Tisch.

    Irgendwann einmal würde ich erfahren müssen, dass es nur das zu essen gibt, was auf dem Tisch steht. Und dass auch alles gegessen wird, was auf den Teller kommt – ob es einem nun schmeckt oder nicht! Am ersten Abend gab es Apfelkuchen. Die Äpfel waren geraffelt und mit viel zu viel geriebenen Nüssen im Aufguss bedeckt. Der Kuchen war es denn auch, welcher den Speiseraum mit dem Geruch nach Erbrochenem ausfüllte. An diesem ersten Abendessen lächelte Irene, die Tischaufseherin, mich an und fragte mich nach meinem Namen. Ich war viereinhalb Jahre alt.

    2

    Therapie

    «So als würde mir mit Wucht ein Dolch in den Rücken gerammt, fühle ich ein Stechen in meiner Brust», erklärte ich mein Anliegen beim ersten Praxisbesuch.

    Wenige Augenblicke zuvor hatte mir eine Frau die Tür geöffnet und mich freundlich hereingebeten. Die leicht korpulente Frau ging mit mir durch einen kurzen Gang voraus in ihr Behandlungszimmer. Der Raum glich mehr der Bibliothek eines Adligen, denn einer Praxis. Links neben der Türe, hinter einem mächtigen Schreibtisch, wo sie sich hinsetzte, thronte ein altes mit Schnitzereien verziertes Büchergestell. Nur die Liege hinter mir, der Wandschirm und ein Glaskästchen, gefüllt mit diversen Globuli-Hülsen, erinnerten mich daran, dass ich mich bei einer Homöopathin befand.

    Laura meine Frau hatte sie ebenfalls schon konsultiert und schwärmte von den Erfahrungen, die sie bei ihr gemacht hatte. Und so sass ich nun da. Gegenüber einer Frau, die ansteckend Sicherheit, Grazie und Lebensfreude ausstrahlte.

    «Was ist dein Anliegen?» fragte sie, nachdem wir uns einander vorgestellt und die Formalitäten erledigt hatten.

    «Ich leide seit einiger Zeit an wiederkehrendem Sodbrennen. Ich war auch im Spital, wo man eine Magenspiegelung durchführte. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, nicht wirklich weiter zu kommen.»

    «Was machst du beruflich?»

    «Ich bin im Aussendienst tätig und nebenher führe ich die neuen Mitarbeiter in die Praxis ein.

    Seit vier Jahren klappere ich nun schon die Hausfrauen in meinem, Verkaufsgebiet ab. Gehe von Tür zu Tür und versuche Termine abzumachen, um «das» Reinigungssystem präsentieren zu dürfen. Ich bin Staubsaugervertreter.»

    «Das ist ein anstrengender Job.»

    «Ja, ich gehe morgens um halb acht zur Arbeit und komme gegen zehn Uhr abends wieder nach Hause.»

    Zwei Stunden lang befragte sie mich; und ich antwortete ihr, so gut ich konnte. So erzählte ich ihr von den Schulden, in die ich geraten war.

    «In meinem neuen Job als Berater verdiente ich auf einmal das Doppelte und dachte nicht eine Sekunde daran, dass kein Weg am Fiskus vorbeiführt. Abseits der Arbeit lebte ich ein Leben wie ein kleiner Millionär. Ich parkte den Wagen wo und wie lange ich wollte – und wurde so zu einem sicheren Stützpfeiler für das Budget der lokalen Polizei.» erzählte ich mit den dazu passenden Bildern im Kopf und auch etwas stolz mit einem Schmunzeln im Gesicht. «Ich kaufte Kleider wie mir danach war. Natürlich nicht bei «H&M»; Ich habe einen Freund der eine Boutique besitzt und bei dem ich gerne regelmässig vorbei schaute. Nie ohne mit einem der exklusiven Teile in der Hand aus dem Laden zu gehen. Und in Restaurants bestellte ich mir immer das, worauf ich gerade Lust hatte.

    Eine gewisse Zeit lang ging das Ganze gut. Aber es kam der Moment, von dem an mir Lohnschwankungen im wahrsten Sinne des Wortes einen Strich durch die Rechnung machten. Denn nachrechnen, dieses Wort gab es in meinem Wortschatz nicht wirklich. Rechnungen der Boutique flatterten rein. Dazu die Bussen und obendrauf die Steuern. So geriet ich immer tiefer in die Schuldenfalle, die mir zusehends grössere Sorgen bereitete.» Erzählte ich frei heraus weiter und fühlte mich geborgen dabei, eine Frau vis-à-vis zu erleben, die unvoreingenommen da sass, aufmerksam zuhörte und mir das Gefühl gab, wie ein Vogel im Himmel kreisen zu dürfen.

    Egal was ich erzählte, da war kein Einspruch wie; «wie konntest Du nur,» oder «bist nicht ganz bei Trost?» Nein, sie sass einfach nur da, und fragte nach, wenn sie etwas nicht verstand oder Genaueres wissen musste.

    Ich erzählte ihr auch, wie ich aus meiner alten Heimat an meinen neuen Wohnort umzog, und wie ich Laura meine erste Frau kennenlernte.

    «Wie läuft’s in der Ehe?»

    «Na ja», gestand ich nach kurzem Zögern, «wir geraten immer wieder aneinander. Sie ist so anders als ich. Sie telefoniert jeden Tag mit ihrer Mutter; manchmal auch zwei oder drei Mal. Und sogar nach Feierabend geht sie noch bei ihr vorbei, um zu plaudern. Laura ging kaum aus; weder mit mir, noch mit einer ihrer Freundinnen. Sie schaute sich lieber einen Film an, lass in einem Buch oder blätterte Zeitschriften durch. Sich sportlich zu betätigen oder ein anderes Hobby ausserhalb der vier Wände zu pflegen – so etwas gab es bei ihr lange Zeit nicht. Eines Tages jedoch kam Laura mit der Idee einer Arbeitskollegin nach Hause.»

    «Jazzercise verbindet tänzerische Elemente mit modernsten Klängen.» So Laura, als sie nach der ersten Übungsstunde nach Hause kam. «Dabei wird die Ausdauer und die Koordination trainiert, die Muskulatur gestärkt und das Gleichgewicht verbessert».

    «Hinzukam, dass sie Nordic Walking für sich entdeckte. Zu meiner grossen Überraschung stand sie hierfür um fünf Uhr in der Früh auf. Und nachdem sie einen Grundkurs besucht hatte, interessierte auch ich mich für diesen Sport, und so lernte ich von ihr, auf was es beim Nordic Walking so alles ankam.

    Bei jedem Wetter greife ich seither zu meinen Nordic Walking-Stöcken und marschiere durch die Kornfelder, über die Hügel und staune dabei immer wieder über das Schauspiel, das die Natur mir bietet.»

    Die ganze Zeit folgte Anita die Therapeutin meinen Erzählungen und schien so, als würde sie mit mir in meine Bilder eintauchen, die in mir aufkeimten. Die Wellenbewegungen der Ähren, die im Wind wogten und mit den letzten Sonnenstrahlen tanzten. Oder den Tag, an welchem es nur einmal geregnet hatte und es sich ergab, dass sich die Wolken just in dem Moment von Westen her verzogen, als die Sonne genau am Horizont stand. Kein van Gogh der Welt wäre fähig gewesen, solch einen magischen Moment einzufangen, war ich doch genau in diesem Augenblick ein fester Bestandteil des «Gemäldes». Die dunklen Wolken fingen zu brennen an - glutrot wie

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