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Blicke hinter die Mauer: Was Männer meist nicht sagen (können)
Blicke hinter die Mauer: Was Männer meist nicht sagen (können)
Blicke hinter die Mauer: Was Männer meist nicht sagen (können)
eBook235 Seiten3 Stunden

Blicke hinter die Mauer: Was Männer meist nicht sagen (können)

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Über dieses E-Book

Der Autor schildert mit selbstkritischer Offenheit, worüber Männer oft nicht reden (können): über die innere Welt ihrer Gefühle. Dank einer Lebenskrise lernt er, sich in den «Dunkelkammern der Seele» zurechtzufinden. Die Reise nach innen entwickelt sich zu einer Odyssee - mit Klippen, Stürmen, Zweifeln und immer wieder überraschenden Wendungen. Eine Männergeschichte über Verlust und Ohnmacht, die anderen Männern Mut machen kann.
Für den Autor ist Schreiben die einzige Therapie. Wörter und Sätze sind seine Werkzeuge, um die Erlebnisse zu fassen, zu sichten und zu reflektieren. Aus diesem Material hat er - 30 Jahre später - exemplarische Episoden ausgewählt und zum vorliegenden Buch gestaltet.
Aus Männersicht
Authentische Berichte über Lebenskrisen und ihre Bewältigung stammen meistens von Frauen. Von Männern gibt es wenig Vergleichbares. Männern fällt es schwerer als Frauen, persönliche Betroffenheit wahrzunehmen und zu äussern. Der Umgang mit Verlust und Ohnmacht gehört nicht zu den männlichen Stärken. Deswegen sind unter Männern Alkohol, «Workaholismus» und verschiedene Ausprägungen von Gewalt immer noch verbreitete Mittel, um Lebenskrisen zu begegnen. Aber es gibt auch Männer, die nach anderen Wegen suchen. Ihnen kann dieses Buch Mut machen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Sept. 2023
ISBN9783756284238
Blicke hinter die Mauer: Was Männer meist nicht sagen (können)
Autor

Christoph A. Müller

Christoph A. Müller, geboren 1939, hat während 20 Jahren als Journalist für schweizerische Zeitungen über politische und gesellschaftliche Themen geschrieben. Während 10 Jahren wirkte er beim Aufbau eines sozialpsychiatrischen Zentrums mit. Danach arbeitete er als Kommunikationsberater und leitete während einiger Jahre ein Bed & Breakfast. Er hat vier erwachsene Kinder und lebt in Basel.

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    Buchvorschau

    Blicke hinter die Mauer - Christoph A. Müller

    für

    Iris

    Myrta

    Sven

    Yves

    Inhalt

    Warum dieses Buch?

    Aperitif

    Schlüssel

    Grenzen

    Liebeserklärung

    Nacht

    Eisregen

    Auflauf

    Freiheitsstatue

    Les Misérables

    Telefon

    Klänge

    Begegnung

    Verschnürte Pakete

    Uhr

    Christophorus

    Mauer

    Kampf

    Sonntag

    Lust

    Unfinished Business

    Geburtstag

    Kälte

    Warten

    Brennen

    Despot

    Tarot

    Schnee

    Ausgesperrt

    Einsam

    Déjà-vu

    Frische

    Trübe Tage

    Keller

    Dauerwelle

    Frühjahrsputz

    Ägyptische Nächte

    San Gimignano

    Magier

    Männersache

    Let’s have fun

    Gegenläufig

    Therapeut

    Entliebt

    Brief

    Martha

    Zuflucht

    Neun Jahre später

    Literatur

    Warum dieses Buch?

    Liebe Leserin, lieber Leser

    Freust du dich, wenn dich jemand fragt: Wie geht es dir? Erzählst du dann gerne, wie du dich fühlst und was dich gerade umtreibt? Oder möchtest du lieber von etwas anderem reden?

    Ich kenne beides. Heute freue ich mich über die Frage und erzähle gerne von mir. Aber in jüngeren Jahren hat mich diese harmlose Frage oft in grösste Verlegenheit gebracht. Es waren meistens Frauen, die sie mir stellten. Freundinnen, Partnerinnen, Kolleginnen. Die Frage war nicht böse gemeint, das merkte ich wohl, aber ich empfand sie als Angriff. Entsprechend war meine Reaktion: Ich wehrte ab. Ich brummelte irgendetwas vor mich hin, blickte zur Seite, vielleicht zuckte ich mit den Schultern. Dann begann ich, von etwas anderem zu reden.

    Was in mir vorging, nahm ich damals nicht deutlich wahr. Es war etwas Diffuses, Undefinierbares. Nichts jedenfalls, das ich klar hätte benennen können. Und gerade das machte mich verlegen. Es war mir unangenehm, diese einfache Frage nicht wirklich beantworten zu können. Wahrscheinlich war auch Trotz dabei: Was möchte sie wieder von mir wissen? Was geht sie das an?

    Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht und kaum je versucht zu verstehen, warum es mir so schwerfiel, auf diese simple Frage offen und ehrlich zu antworten. Was wäre denn die Antwort gewesen? Sie hätte gelautet: Ich weiss es nicht. Ganz einfach eigentlich. Aber natürlich völlig unakzeptabel. Wie konnte ich nicht wissen, wie es mir geht? Wer ausser mir hätte es denn wissen können? Natürlich niemand. Mir war schmerzlich bewusst, dass dieselben Frauen keine Mühe hatten, über ihre eigenen Befindlichkeiten ausführlich und unaufgefordert zu berichten; wofür ich sie zwar bewunderte, aber gleichzeitig beschämte es mich.

    Ich bin nicht der Einzige, der dieses Unbehagen kennt. Der Bielefelder Psychologe Björn Süfke schreibt in seinem einfühlsamen Buch «Männerseelen – Ein psychologischer Reiseführer»: «Die Frage, wie es uns geht, wie wir uns fühlen, ist für uns Männer eine besonders schwierige, da uns von Kindheit und Jugend der Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen immer mehr erschwert worden ist.» Und John A. Sanford, ein US-amerikanischer Psychotherapeut, der schon vor vierzig Jahren die seelischen Hintergründe von Gender-Identitäten ausleuchtete, bemerkt in seinem auch heute noch lesenswerten Buch, «Unsere unsichtbaren Partner», lakonisch: «Leider haben viele Männer Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken. Sie ziehen es vor, wenn ihre Beziehungen sanft, leicht und bequem verlaufen. Nur sehr ungern gehen sie auf emotionell gefärbte Diskussionen oder schwierige Themen ein.»

    Viele Menschen (vor allem Frauen) werden dies bestätigen: Männer haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken. Aber ich glaube, das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit haben viele Männer Schwierigkeiten, ihre Gefühle überhaupt erst wahrzunehmen. Und was man(n) nicht wahrnimmt, wird man(n) schwerlich ausdrücken können.

    Woher ich das weiss? Weil ich es selbst erlebt habe. Ich hatte das Glück, mit 46 Jahren von einer Lebenskrise erfasst zu werden, die mich von Grund auf verändert hat. Es fühlte sich damals nicht wie Glück an, aber hinterher bin ich dankbar für das, was ich erlebt habe. Ich habe neue Zugänge gefunden zu mir selbst, ich habe Gegenden in mir kennengelernt, von denen ich nichts wusste. Es fühlte sich manchmal an wie eine Höllenfahrt, manchmal öffnete sich ein paradiesischer Ausblick. Insgesamt war es ein Durchbruch durch eine innere Mauer, die ich zuvor oft gefühlt, aber in ihren Umrissen nie deutlich wahrgenommen hatte.

    Dank meiner Krise gelang es mir, hinter die Mauer zu blicken. Ich weiss heute, wie es dort aussieht und was sich dort verbirgt. Vieles, das schreckenerregend aussah, erwies sich als nützlich und vertraut. Wo Fallgruben zu lauern schienen, zeigten sich später erfrischende Quellen und verwunschene Gefilde.

    In diesem Buch möchte ich dir davon erzählen, was mir hinter der Mauer begegnet ist. Während der intensiven Auseinandersetzung, in die ich von einem Tag zum andern hineingeschleudert wurde und die sich über Monate hinzog, war Schreiben meine einzige Therapie. Ich schrieb Hunderte von Tagebuchseiten, um die Erlebnisse zu fassen, zu sichten und zu reflektieren. Aus diesen Texten habe ich – dreissig Jahre später – wichtige Episoden ausgewählt und zu diesem Buch gestaltet.

    Es erwartet dich keine systematische Übersicht über die Topografie einer Männerseele. Ich entwerfe keinen Reiseführer, wie es Björn Süfke versuchte. Ich präsentiere dir auch keinen Ratgeber, der dich bei der Selbstfindung unterstützen könnte (wenn du ein Mann bist) oder dir dabei helfen würde, das Verhalten eines männlichen Partners besser zu verstehen (wenn du kein Mann bist). Was ich dir hier anbiete, ist ein Reisebericht. Ich erzähle von den Erfahrungen und Erlebnissen, die mir auf einer ungeplanten Reise begegnet sind. Es war eine Reise nach innen. Ich teile mit dir Ereignisse und Begebenheiten aus dieser Odyssee. Sie enthalten Träume, Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Fantasien, Schmerzen und Sehnsüchte.

    Du fragst dich vielleicht, warum ich diese persönliche Geschichte veröffentliche? Während meiner Krise war ich hungrig nach Büchern, die tiefe, persönliche Erfahrungen schilderten; die mir ermöglichten, Krisen und Durchbrüche anderer Menschen mitzuerleben und in aufwühlende, existenzielle Auseinandersetzungen einzutauchen. Solche Schilderungen waren Nahrung für meine Seele. Sie gaben mir Zuversicht und Hoffnung, und ich fühlte mich durch sie verstanden. Was mir dabei auffiel: Die Bücher, die mir damals solches zu vermitteln vermochten, stammten ausschliesslich von Frauen. Von Männern fand ich wenig Vergleichbares. Aufgeschlossene Männer – so kam es mir vor – reden zwar über Gefühle und innere Prozesse, aber sie zeigen selten, was sie dabei wirklich erleben.

    Männern fällt es schwerer als Frauen, eigene Betroffenheit wahrzunehmen und zu äussern. Der Umgang mit Verlust und Ohnmacht gehört nicht zu den männlichen Stärken. Deswegen sind unter Männern Alkohol, «Workaholismus» und verschiedene Ausprägungen von Gewalt immer noch verbreitete Mittel, um Lebenskrisen zu begegnen. Aber es gibt auch Männer, die nach anderen Wegen suchen. Ihnen kann mein Buch vielleicht Mut machen.

    «Das Persönlichste ist das Allgemeinste.» Wie oft habe ich von Anne-Marie Tausch diesen Satz vernommen! Die Hamburger Psychologin war mir Lehrerin und Vorbild, sie hat mir zum Durchbruch verholfen und mir Mut gemacht, mich mitzuteilen. Ähnlich wie Elisabeth Kübler-Ross, die mir bei einem Interview sagte: «Share your personal experience» (teile deine persönliche Erfahrung).

    Dank

    Die meisten Personen, die in diesem Buch vorkommen, tragen in Wirklichkeit andere Namen. Für viele Leute, die mich kennen, sind sie dennoch erkennbar. Ich habe denjenigen, die noch am Leben sind und die ich erreichen konnte, meinen Text zum Lesen gegeben. Sie haben der Publikation zugestimmt, und dafür danke ich ihnen. Allen voran der Frau, die ich hier Sibylla nenne und mit der mich bis heute eine facettenreiche Freundschaft verbindet. Dass sie sich in meinen Schilderungen oftmals nicht wiederfindet, möchte ich hier ausdrücklich erwähnen.

    Ich danke auch Andrea, Bettina, Karin und Nicolas für ihr ermutigendes Feedback und ihre wertvollen Hinweise, die sie mir aus freundschaftlicher Distanz gegeben haben. Ein herzliches Dankeschön geht an die Designerin Laura Newman, die dem Buch mit Professionalität und Einfühlungsvermögen seine visuelle Gestalt gegeben hat.

    Ich wünsche dir eine anregende Lektüre und freue mich, wenn das eine oder andere in dir widerhallt.

    Christoph A. Müller

    Basel, im Sommer 2023

    «Auch euch, mein junger Mann,

    verbleiben noch immer die Kontinente der

    eigenen Seele, das Abenteuer der Wahrhaftigkeit.

    Nie sah ich andere Räume der Hoffnung.»

    Columbus zu Don Juan,

    in Max Frischs Farce

    «Die Chinesische Mauer»

    Aperitif

    «Kommst du noch mit zu einem Drink?», fragte ich Helen, die ihren Schreibtisch aufräumte. «Wir haben es verdient. Ich lade dich ein.»

    Helen warf mir einen lachenden Blick zu, während sie ihre Schreibmaschine mit einer Stoffhülle zudeckte, die sie selber genäht hatte. «Gute Idee», sagte sie. «Ich muss zwar bald nach Hause, aber für eine halbe Stunde komm ich gern mit.»

    Wir hatten den ganzen Tag hier verbracht. Das Gruppenzentrum, wo wir arbeiteten, befand sich in einem Hinterhaus, das durch eine Häuserreihe von der stark befahrenen Strasse abgeschirmt wurde. Es war eine kleine Oase mitten in diesem lärmigen und dicht bewohnten Stadtteil, der von der chemischen Industrie umzingelt war.

    Der Weg hinaus führte durch den dunklen Gang des Vorderhauses. «Es sieht hier etwas verwahrlost aus», sagte ich zu Helen. «Seit wir das Hinterhaus renoviert haben, fällt es mir besonders auf.»

    «Ich finde es sympathisch», erwiderte Helen. «Muss denn jeder Hausgang wie eine Kunstgalerie aussehen?»

    «Natürlich nicht. Früher fand ich die abgerissenen Tapeten und die Spinnweben auch ganz poetisch. Aber jetzt kann ich es nicht mehr sehen.»

    Ich öffnete die Tür zur Strasse und zögerte einen Moment, bevor ich mich dem Lärm des Feierabendverkehrs aussetzte.

    «Wohin wollen wir gehen?», fragte ich Helen. «Gleich hier um die Ecke ins Restaurant Schwarzwald? Es gibt nichts Besseres in der Nähe.»

    «Spielt doch keine Rolle für ein Momentchen. Komm, lass uns gehn.»

    Es waren zwanzig Schritte bis zum «Schwarzwald», einer jener verrauchten Bierkneipen, die es in diesem Stadtviertel an fast jeder Strassenecke gab. Ich hatte meine Jacke nicht zugeknöpft. Es war nicht kalt für diese Jahreszeit. In drei Tagen war Weihnachten, und es hatte noch keinen Schnee in den Bergen. Pech für die Skifahrer, dachte ich. Aber das war nicht meine Sorge.

    Die Wirtschaft war fast leer. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch gleich beim Eingang. Ich bestellte mir einen Pernod. «Das mach ich zwei- oder dreimal im Jahr», sagte ich lachend zu Helen. «Ich trinke fast nie Aperitifs. Nur manchmal in den Ferien oder wenn ich etwas feiern möchte.»

    «Was feierst du denn heute?», fragte Helen, die für sich einen Pfefferminztee bestellt hatte. «Oder fühlst du dich bereits in den Ferien?»

    «Ich freue mich über unsere Zusammenarbeit. Es ist viel passiert in diesem halben Jahr, seit du bei uns bist. Du hast Ordnung gebracht in unsere Papierwirtschaft, Ordner angelegt und angeschrieben, die Buchhaltung neu eingerichtet. Ich bin zufrieden mit dem, was wir erreicht haben. Und ich arbeite gern mit dir zusammen.»

    «Oh, das freut mich», sagte Helen. «Auch ich arbeite gern mit dir. Ich fühle mich von dir ernst genommen als Kollegin, auch wenn ich nur Sekretärin bin.»

    «Warum sagst du nur Sekretärin?»

    «Weil es so ist. Ich habe keine soziale Ausbildung wie ihr alle.»

    «Ich habe auch keine soziale Ausbildung», widersprach ich. «Jedenfalls keine mit einem Diplom. Ich bin ursprünglich Journalist, aber auch dafür hab ich kein Diplom. Alles, was ich kann, hab ich in der Praxis gelernt. Learning by doing. Ich bin fast zu hundert Prozent Autodidakt.»

    «Ich weiss schon, dass du nicht so denkst, und von dir fühle ich mich auch nicht herabgesetzt. Aber Gertrud und Martha geben mir oft zu spüren, dass sie sich überlegen fühlen. Sie sind Psychologinnen, sie machen die wichtige Arbeit im Zentrum – Gruppen leiten, Beratung, Krisengespräche. Ich bin die Telefonistin und die Tippmamsell.»

    «Es tut mir leid, wenn Martha und Gertrud dich von oben herab behandeln. Aber warum machst du dich selber so klein? Eigentlich sagst du dasselbe wie sie: Der Bürokram ist nicht wichtig.»

    «Ist er ja auch nicht.»

    «Quatsch», fuhr ich Helen an. «Wir brauchen viel Kreativität für unsere Büroarbeit, weil wir wenig Geld haben und unkonventionell arbeiten.»

    «Kreativität?» Helen schaute mich verwundert an.

    «Ja, Kreativität. Es ist eine Kunst, Geld aufzutreiben für ein Zentrum, das keine Therapie und keine Ausbildung anbietet, sondern nur ein Ort sein will, wo ganz unterschiedliche Leute sich wohl fühlen – Kranke, Behinderte, Obdachlose, Arbeitslose, Spinner und Stadtoriginale. Du kennst ja unsere Stammkundschaft.»

    «Ja, zum Teil. Ich wundere mich immer wieder, wie offen und herzlich die Leute sind, auch mit mir, obwohl sie mich ja kaum kennen.»

    «Sie fühlen sich hier zu Hause, manchmal mehr als in ihrer eigenen Wohnung. Genau das soll das Zentrum ja sein – ein geschützter Ort, wo sie Kontakte und Anregungen finden, wo sie lachen und streiten können, ohne ausgelacht zu werden, wo sie ihre Traurigkeit nicht verstecken müssen.»

    «Und was hat das mit mir zu tun?»

    «Wir müssen unser Programm verständlich machen. Es ist nicht egal, was in unseren Briefen steht und was du am Telefon erzählst. Wir müssen im Büro genauso erfinderisch sein wie bei der Arbeit mit den Leuten. Sonst ruinieren wir unser Programm.»

    «Schon möglich, dass ich das unterschätze.»

    «Warts ab. Ich arbeite seit vier Jahren hier. Am Anfang bestand unser Büro aus einem Schreibmaschinentisch mit einer Schublade und drei oder vier Ordnern. Das war die Pionierzeit: idyllisch und chaotisch. Es war phantastisch, solange es ging, aber natürlich ging es nicht sehr lange. Ich glaube, Martha und Gertrud trauern dieser Anfangszeit manchmal nach. Aber für mich war es schwierig. Ich kann gut improvisieren, aber ich brauche auch Ordnung und Klarheit. Und damit habe ich mich oft allein gefühlt. Deshalb bin ich froh, dass du da bist. Zusammen werden wir es schaffen.»

    Helen zündete sich eine Zigarette an und musterte mich mit einem schelmischen Lächeln. «Dir geht es gut», sagte sie schliesslich, «nicht wahr?»

    «Wie kommst du darauf?»

    «Einfach so. Man sieht es dir an. Seit einiger Zeit machst du auf mich den Eindruck, dass du richtig zufrieden bist.»

    Helen hat recht, dachte ich, nachdem ich in den Bus gestiegen war. Es geht mir gut. Ich habe alles, was ich mir immer gewünscht habe – eine tolle Arbeit, Menschen, mit denen ich gern zusammen bin, eine glückliche Liebe, die schon sechs Jahre dauert.

    Ich bin 46 Jahre alt. Aber was heisst das schon? Ich kam mir alt vor, als ich 25 war. Ich fühlte mich jung mit 35. Und jetzt, mit 46? Ich bin mittendrin. Mitten in einem spannenden Leben, das zu mir gehört. Ja, ich bin zufrieden und ich fühle mich reich beschenkt. Nicht wunschlos, aber glücklich.

    Schlüssel

    Das neue Jahr hatte unauffällig begonnen. Die Festtage waren vorbei, der Kalender war auf null gestellt, aber sonst ging alles weiter wie im letzten Jahr. Warum hätte sich ausgerechnet mit dem Jahreswechsel in meinem Leben etwas ändern sollen?

    «Ich geh noch ein Stündchen ins Büro», sagte ich zu Sibylla und stand vom Tisch auf.

    «Geh nur», sagte sie, «du kannst alles stehen lassen, ich mach den Abwasch. Es macht mir nichts aus. Ich muss in mir ein paar Dinge klären und dazu mach ich gern etwas Haushalt.»

    Sibylla und ich hatten zwei Wohnungen im gleichen Haus, ein Stockwerk auseinander. Ich nannte es unsere Treppengemeinschaft. Abends assen wir oft zusammen und wechselten uns im Kochen ab. Manchmal bei Sibylla, manchmal bei mir.

    Am Nachmittag hatte ich zwei Tragtaschen mit Büchern gefüllt, um sie ins Büro zu bringen, wo ich die Sachbücher untergebracht hatte. Zuoberst lag ein weisses Taschenbuch mit dem Titel: «Ich bin ich». Soll ich das Buch nicht hier behalten, um es endlich mal zu lesen?, fragte ich mich. Ich hatte es vor zwei Jahren gekauft, weil ein Freund davon geschwärmt hatte. «Das musst du unbedingt lesen», sagte er, «dieses Buch sollte jeder lesen.»

    Ach was, dachte ich, das Buch hat lange genug hier herumgelegen und ich habe nie reingeschaut. Weg damit. Wenn ich es wirklich lesen will, hab ich es im Büro schnell wieder zur Hand.

    Ich packte die beiden Taschen und machte mich auf den Weg. Das Büro war in einer kleinen Strasse gleich um die Ecke, in den Räumen einer früheren Glasbläserei. Sibylla und ich hatten hier zwei Stockwerke gemietet und eine journalistische Arbeitsgemeinschaft aufgebaut. Neben der Teilzeitstelle im Gruppenzentrum hatte ich hier meinen zweiten Arbeitsplatz.

    Um zu unseren Büros zu gelangen, musste man eine Durchgangstür passieren, die von den Hausbewohnern jeden Abend mit doppelter Drehung verschlossen wurde. Ich hatte mich schon oft darüber geärgert. Aber die alten Leute, die hier wohnten, hatten Angst, dass eingebrochen würde.

    Ich stand vor der schweren Eichentür, stellte die zwei Einkaufstaschen mit den Büchern auf den Boden, zog den Schlüsselbund aus meiner Tasche und steckte den grossen, altertümlichen Schlüssel ins Schlüsselloch. Ich drehte, aber der Schlüssel blieb nach einer Vierteldrehung stecken. Dieses verdammte Schloss, dachte ich, es müsste endlich ausgewechselt werden. Seit wir hier sind, spukt es alle paar Monate. Aber ich weiss zum Glück, wie man es aufkriegt. Es braucht nur

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