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Geschälte Seele
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eBook326 Seiten5 Stunden

Geschälte Seele

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Über dieses E-Book

Anfang der 80er Jahre begegnen sich in Dahme an der Ostsee die Schicksale einer Reihe von Menschen, die sich auf dramatische Weise miteinander verbinden. Die als Saisonkräfte im Restaurant arbeitenden Jugendlichen Martin und Klaus sowie die Auszubildende Julia werden sich nicht nur über ihre Gefühle zueinander, sondern auch über ihre sexuellen Präferenzen klar. Doch was als Romanze oder Coming-Out-Geschichte beginnt, erhält eine schreckliche Wendung. Klaus wird von dem Triebtäter Theo entführt. Von der Polizei ignoriert, versucht Martin seinen Freund zu finden.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Mai 2020
ISBN9783347059559
Geschälte Seele

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    Buchvorschau

    Geschälte Seele - Rupert van Gerven

    „Jetzt nimm endlich den Topf vom Herd, riechst du das denn nicht, der Scheiß brennt uns noch an! Glaubst du vielleicht, dass die Chaoten da draußen scharf auf verkohlten Fraß sind? Alles Idioten, die nur darauf warten, Ärger zu machen! Wenn ich die nur sehe, kriege ich schon das Kotzen."

    Hein hat schlechte Laune. Er schimpft und flucht sich in Rage, macht aus einer Mücke einen Elefanten. Die Kollegen dienen als Prellbock, müssen den Wortschwall über sich ergehen lassen. Je mehr Menschen sich in seiner Gegenwart befinden, umso stärker dreht er auf. Ohne Punkt und Komma kann sich Hein über die Urlaubsgäste auslassen.

    Martin schrickt zusammen, schaut auf und sieht in Heins vor Wut rot angelaufenes Gesicht. Er hatte auf Durchzug geschaltet und war wieder einmal in seine Gedankenwelten versunken. Schwer kann er sich ihnen entziehen, seinen Träumen. Sie sind seine Vertrauten, ein Ort der Geborgenheit. Der Aufenthalt dort ist ohne Angst vor Verletzungen. Nicht nur Sicherheit, auch Wärme und Bestätigung strömen ihm hier entgegen. Martin glaubt, tief in sich spüren zu können, wie Glück sich anfühlen kann, Liebe gar.

    Es ist immer das Gleiche. Sobald er beginnt, die Kartoffeln zu schälen, fühlt er eine Kraft, die alle Gesetze auszuschalten weiß. Sie zieht ihn in einen Traum-Strudel, dabei wird ihm schwindlig. Das ist weniger schlimm als befreiend. Dort ist es ganz leicht, ein Held zu sein, der klug, stark, mächtig, zielstrebig und bewundernswert zugleich ist. Er ist es, der Gefangene befreit und Leben rettet. Antworten fallen ihm zu, ohne dass er darüber nachzudenken hätte. Natürlich ist er genial. Ja, seine Träume sind es, die ihm Halt geben. Sie tragen ihn, sind seine Schuhe aus weichstem Leder. Kein Druck, den seine Füße zu spüren bekommen. Vollkommen sicher ist Martin hier in seiner Unzulänglichkeit. Außerhalb von ihnen fühlt er sich klein und ausgeliefert.

    „Hörst du denn nie zu, wenn man mit dir spricht? Dir muss man wohl erst Beine machen, anders kann man bei dir ja nichts erreichen! Martin ist Heins gern benutztes Opfer, einer, den er schikanieren kann, sein Prellbock, der einfach alles aushält. Hein findet eine seltsame Befriedigung daran, seine Launen an Martin auszulassen: „Was ist jetzt, wartest du auf eine schriftliche Einladung?

    Martin bemerkt endlich, dass er gemeint ist. Aus seiner Versunkenheit auftauchend, nimmt auch er den Geruch in der Küche wahr. Endlich schaut er von seinen Kartoffeln hoch. Seine Augen treffen sich mit denen von Hein, dieser blickt ihn fragend an. Intuitiv springt Martin von seinem Hocker. Langsam dämmert ihm, was Hein von ihm erwartet. Während des Sprunges stößt er versehentlich gegen die Wanne mit den Kartoffeln. Sie kippt um. Er kann nur zuschauen, wie gelähmt. Die Kartoffeln verteilen sich in der Küche, machen sich breit, sind überall. Wie eine Rattenplage. Man kommt nicht umhin, auf sie zu treten, sobald man den angehobenen Fuß wieder auf den gefliesten Boden zurückstellt. Unter Schränke, in Ecken kullern, rollen und springen sie. Wer jetzt die Küche durchqueren will, muss sich auf einen Eiertanz einlassen.

    Martin ist zum Weinen zumute, doch er schluckt die Tränen herunter. Das Letzte, was er will, ist es, sich zu blamieren. Das vertraute Gefühl, ein Trottel zu sein, stellt sich umgehend ein. Wie so oft schon hofft er, dass die anderen es nicht bemerken werden, solange er sich unter Kontrolle hat. Martin löst sich aus seiner Versteinerung. Er will zum Herd, dabei tritt er auf eine Kartoffel. Eine Katastrophe jagt die andere. Wie hätte es auch anders sein können, nichts, aber auch nichts macht er richtig. Noch ehe er ausrutscht und auf den Boden knallt, kann er sich am Schlagbock festhalten. Martin weiß, dass er sich um den Topf kümmern soll, er spürt Heins Erwartung, also will er ihn vom Gasherd heben. Dabei gerät er in Panik und vergisst nach den Topflappen zu greifen. Noch ehe er den Topf mit der angebrannten Suppe von der Flamme nehmen kann, knallt ein Geschirrtuch auf seinen Oberarm. Ein unendlicher Schmerz durchzieht seinen Körper. Martin beißt sich auf die Unterlippe: Nur keine Ohnmacht zeigen. Hein umfasst mit dem Geschirrtuch, das gerade noch Martins Oberarm streifte, den Topf und zieht ihn auf den Tisch neben dem Herd. Er übersieht, dass er ihn zu weit über die Tischkante hinausgezogen hat. Martin befühlt indes seinen Arm, der sich langsam rot verfärbt. Beschämt schaut er zu Boden. „Dass du aber auch gar nichts richtig machen kannst, da kann man schon mal die Beherrschung verlieren, aber das ist auch kein Wunder, kommentiert Hein. „Du musst dich halt mehr ins Zeug legen, wenn du hier nicht untergehen willst. Mach deine Arbeit vernünftig, dann flipp ich auch nicht aus. Jeder Fünfjährige träumt weniger in den Tag hinein als du.

    Hein ist beleidigend. Er weiß es und findet Spaß daran, Martin zu verletzen. So demonstriert er seine Macht. Schon als Martin heute zur Arbeit kam, war die Stimmung mies. Jeder machte seinen Job, keiner sprach ein überflüssiges Wort, und wenn doch etwas gesagt wurde, betraf es ausschließlich die Arbeit. Was sich gerade abgespielt hat, kann man als den Höhepunkt des Tages bezeichnen. Hein steckt sich befriedigt eine Zigarette an. Der Rest des Tages wird ohne Zwischenfälle verlaufen. Doch weit gefehlt: Der Topf samt Inhalt fällt von der Tischkante. Der Absturz scheint sich im Zeitlupentempo zu vollziehen. Alle starren auf den Topf, keiner vermag der Katastrophe Einhalt zu gebieten. Ein lauter Knall holt alle aus ihrer Erstarrung. Der Brei erobert den Boden. Er umhüllt die wie zufällig dort liegenden Kartoffeln.

    Just in diesem Moment betritt Klaus die Küche, schaut sich um. „Dich hört man ja fast bis zum Strand. Wie konnte das denn passieren?, wendet er sich an Martin und zeigt dabei auf den Schlamassel. Martin zuckt hilflos mit den Schultern, während Klaus ihn aufmunternd anlächelt. Dieses Lächeln gleicht einer Zärtlichkeit. Wie in einem Swimmingpool gleitet Martin durch die plötzlich aufkommende Wärme. Klaus schiebt den Zettel mit der Bestellung auf den dafür vorgesehenen Spieß und sagt sie außerdem an, damit sie sofort zubereitet werden kann: „Zweimal Strammer Max, einmal Pommes Mayo mit Bockwurst. – „Was bieten wir alternativ an?, will er noch wissen, bevor er wieder in das Lokal verschwindet. Hein zuckt mit den Schultern, als ginge es ihn nichts an. „Na ja, wie dem auch sei, der Eintopf muss von der Tageskarte gestrichen werden, fügt Klaus noch an. Martin kniet auf dem Boden. Er hebt die Kartoffeln auf und legt sie ins Becken, um sie abspülen zu können. Natürlich auch jene, die sich nicht in dem grünen Brei befinden. Hein beobachtet Martin und schreit ihn an: „Bist du noch bei Trost? Es reicht, wenn du die abspülst, die im Dreck lagen. Wäre ja noch schöner. Wir sind hier doch kein Sternerestaurant. Setz die Kartoffeln auf und mach die Scheiße weg. Ich glaub, bei dir ist eh Hopfen und Malz verloren. Wo hast du nur dein Gehirn gelassen." Martin macht seine Arbeit und wünscht sich nur noch, unsichtbar zu sein.

    *

    Am Abend spürt Martin kaum noch seine Glieder. Obgleich die Saison erst angefangen hat, war heute der Teufel los. Der Zustrom an Gästen schien kein Ende zu nehmen. Das eine oder andere war zu Boden gefallen, und dies nicht nur in der Küche. Heins Ausraster hatte die Stimmung auf den absoluten Tiefpunkt gebracht. Nun winken die letzten Gäste nach den Kellnerinnen, um die Rechnung zu begleichen. Endlich Ruhe. Das Personal scheint durchzuatmen. Alle sitzen noch im Restaurant am Personaltisch, um den Abend ausklingen zu lassen. Jeder hat ein Glas vor sich.

    Martin hört sie lachen. Feuerzeuge klicken, Witze werden erzählt. Martins Abschlussaufgabe an jedem Abend ist es, die Dunstabzugshaube vom Fettfilm zu reinigen. Der Chef schaut sich die Haube jeden Abend genau an, und wenn es nichts zu beanstanden gibt, dann hat auch Martin Feierabend. Martin scheuert mit einem Schwamm in kleinen Kreisbewegungen über das Metall. Der Fettfilm löst sich nur langsam. Im Silber der Haube sieht er sein Gesicht, betrachtet es. Schnell dreht er sich weg und wirft den Schwamm ins Spülwasser. Etwas von der dreckigen Brühe schwappt über. Martin hört Klaus’ tiefe Stimme. Sie gurgelt, wenn er lacht. Er sieht die Kollegen vor sich, sie alle haben schon Feierabend, während er noch immer schuftet: die Kellnerinnen, die Küchencrew, der Chef, der im Grunde sehr nett ist.

    Doch es schert ihn nicht, was in der Küche vor sich geht. Solange die Gäste zufrieden sind, mischt er sich nicht ein. Anfangs hat Martin ihn gefürchtet. Die buschigen Augenbrauen lassen die Augen fast gänzlich verschwinden, der Mund ist nur eine feine Linie. Doch die Lachfalten, die wie Sonnenstrahlen seine Augen umranden, künden von einem Humor, der sich hinter einer rauen Schale versteckt. Der Chef steht hinter dem Tresen. Für nichts anderes hat er Augen, und nur deshalb besitzt Hein so viel Macht.

    Martin steigt von der Leiter. Endlich ist auch für ihn Feierabend. Unendlich müde ist er, dennoch will er sich zu den anderen setzen. An der Unterhaltung wird er sich nicht beteiligen. Dabei sein und zuhören, das würde ihm schon genügen. Im Lokal werden Stühle geschoben, es klingt nach Aufbruch. Die Überlegung, den anderen noch „Tschüs" zu sagen, lässt er auf sich beruhen. Ohne ein weiteres Wort will er sich auf den Weg machen. Es ist für ihn einfach nicht zu schaffen: Sobald er mit seinen Aufgaben fertig ist, löst sich die muntere Runde auf.

    Martin will gerade zur Personaltür hinaus, da hört er Klaus hinter sich rufen: „Hast du Lust, noch mit nach Lübeck zu fahren? Komm doch einfach mit, wir können dort ein bisschen um die Häuser ziehen. Wie selbstverständlich legt er den Arm auf Martins Schulter. Martin atmet seinen Duft ein, spürt seine Nähe und will verharren. Er schämt sich. „Heute nicht, ich bin zu müde, lehnt er das Angebot ab. Die beiden verlassen gemeinsam den „Nordstern". Klaus hat immer noch seinen Arm auf Martins Schulter. Nach einer Weile nimmt er ihn unvermittelt zurück, bleibt stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.

    Klaus nimmt tiefe Züge aus der Zigarette. Zehn Minuten brauchen sie bis zu ihrer beider Unterkunft. Sie überqueren den Parkplatz. Auf diesem steht Klaus’ Käfer. Die Beifahrertür ziert ein Kleeblatt, die Fahrertür ein Marienkäfer. Klaus schließt seine Zimmertür auf und lädt Martin auf eine Zigarette ein. Martin hat Lust, er setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Klaus lässt sich aufs Bett fallen, kramt die Zigaretten aus der Kellnerhose.

    Martin beobachtet ihn. In der Stille des Zimmers ist ein Knistern zu spüren, das ihn ganz wuschig macht. Um es zu unterbrechen, fragt er: „Wer kam eigentlich auf die Idee mit dem Auto, äh, ich meine, wolltest du das mit den Bildern?"

    „Mein Paps, bekommt er als Antwort. Klaus ist es peinlich, sich „Paps sagen zu hören. Es rutscht ihm Gott sei Dank nicht mehr so oft heraus. „Mein Alter, wollte ich sagen, korrigiert er sich, grinst dabei und fährt fort: „Eltern! Kannst nichts machen, die blamieren einen halt. Na ja, ist wohl normal, oder? Und du willst wirklich nicht mitkommen? Martin schüttelt den Kopf. Klaus erhebt sich aus dem Bett: „Ich mach mich jetzt fertig! Er öffnet sein Hemd. Martin erblickt aus den Augenwinkeln den Oberkörper von Klaus, der nun auch seine Hose achtlos fallen lässt. Bevor Klaus vielleicht noch ganz nackt im Raum steht, verabschiedet sich Martin: „Ich geh dann jetzt wohl besser. Viel Spaß noch in Lübeck. Fast flüchtet er aus Klaus’ Zimmer, das größer und auch schöner als seines ist.

    *

    Wenig später lässt er sich auf sein Bett fallen. Wie froh ist er, einfach für sich zu sein. Rot ist er geworden, das spürt er immer noch in seinem Gesicht. Es war schwer, nicht hinzugucken bei Klaus. Der Tag läuft vor Martins Augen ab, klare Bilder lösen verzerrte ab. Schließlich verschwimmt alles in Tränen. Einige Wochen ist er nun schon hier. Seine Eltern haben ihn nicht zum Bahnhof begleitet. Sie tranken weiter und schenkten ihm keine Aufmerksamkeit, während er seine Siebensachen packte. Er streichelte seinen kleinen Geschwistern über den Kopf, bevor er die Wohnung verließ. „Ich geh jetzt, sprach er in den Raum, der voll blauem Qualm hing und nach alter Asche stank. Biergeruch hatte seine Nase so lange schon belästigt. Martin erwartete keine Antwort. Und es kam auch keine. Dann, als er gerade die Klinke der Wohnungstür hinunterdrückte, drehte sich seine Mutter um und fragte erstaunt: „Du bist noch da? Verpass bloß nicht den Zug. Oder willst du noch länger hier rumhängen?

    Er verließ die Wohnung und fühlte sich allein im Treppenhaus. Ein Ausgestoßener war er, gehörte schon nicht mehr dazu. Dabei hatte er noch nicht einmal das Haus verlassen. Er fuhr zum Hauptbahnhof. Ein alter Militärrucksack seines Vaters hing ihm über die Schulter, nur wenig befand sich darin. Man hätte glauben können, er wolle nur ein Wochenende an der See verbringen. Martin bestieg den Zug, natürlich hatte ihn keiner zum Abschied in den Arm genommen. Er setzte sich ins Raucherabteil. Eigentlich wollte er überhaupt nicht rauchen. Doch mit dem Geruch fühlte er noch ein Stück Zuhause bei sich. Ganz schön doof, dachte er. Wie würde es wohl sein, dort an der See? Das erste Mal wäre er von zu Hause weg. Angst beschlich ihn. Er lauschte dem anfahrenden Zug, lehnte seinen Kopf an die vibrierende Scheibe und schloss die Augen. Nicht nachdenken.

    Martin starrt zur Zimmerdecke. Die Tränen trocknen langsam. Seine Lider schließen sich, Klaus ist bei ihm, warm lächelnd. Martin fühlt Verwirrung in sich, doch er ist zu müde, um darüber nachzudenken.

    *

    Klaus steigt aus der Dusche, schnappt sich ein Badelaken. Vor dem großen Spiegel in der Kleiderschranktür trocknet er sich ab. Beim Betrachten seines Spiegelbildes steigt Zufriedenheit in ihm auf. Langsam gleitet das Badelaken über seinen Körper, sein Tun ist pure Zärtlichkeit. Es erregt ihn, sich nackt zu betrachten. Das Laken liegt zu seinen Füßen, sein Penis ist ein wenig erigiert. Lübeck ist natürlich Quatsch, seit der Trennung von Jörn hat er keine Lust mehr, sich in der Szene blicken zu lassen. Alles nervt ihn. Er ist so unendlich traurig gewesen. Seine kleine glückliche Welt war in Einsamkeit versunken. Freunde, die ihn anriefen, um ihn aufzuheitern, wollte er nicht sehen. Irgendwann fühlte er sich sogar gut in seinem Schneckenhaus: Allein konnte er dort weinen, bis keine Tränen mehr kamen.

    Seine Erregung ist verflogen, nein, einen runterholen will er sich jetzt nicht. Es käme ihm wie eine Verschwendung vor. Hamburg ist das richtige Ziel. Er will tanzen, will trinken, flirten und wer weiß, vielleicht ergibt sich ja noch etwas und er lernt jemanden kennen, mit dem er schlafen möchte. Klaus fühlt eine unbändige Lust in sich, und die will raus. Seit er sich der Szene wieder zugewandt hat, hatte er kein so großes Verlangen mehr verspürt wie heute. Ein guter Fick ist genau das, was ihm Spaß machen würde.

    Klaus ist schnell angezogen, die Haare werden sorgfältig gefönt. Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel, und schon ist er auf dem Treppenabsatz. Er steigt in seinen Wagen, startet ihn und summt vor sich hin. Die beiden Farbtupfer sind schon ziemlich schräg, denkt er, da kann man das Postgelb noch als dezent bezeichnen. Eine Zigarette noch, und dann kann es losgehen. Doch sie lassen sich nicht finden. Nach erfolglosem Kramen in den Hosentaschen und der Bestätigung, dass auch keine mehr im Handschuhfach liegen, stellt Klaus den Wagen noch einmal ab, flitzt die Stufen zu seinem Zimmer hoch und schnappt sie sich vom Schreibtisch. Wieder im Auto, mit brennender Zigarette im Mund, huscht ein Lächeln über seine Lippen.

    Wie sehr seine Eltern sich darüber gefreut hatten, ihm das Auto zu schenken! Sie waren ganz aus dem Häuschen. Der Käfer parkte eine Ecke entfernt. Nichts ahnend war er auf dem Weg nach Hause daran vorbeigelaufen. Das Gefährt sprang ihm ins Gesicht, und es gab für ihn keinen Zweifel: Dieser Wagen würde ihm heute zum Geschenk gemacht – besaß sein Vater doch das Talent, begrenzt Schönes so zu verunstalten, dass einem die Augen vom Betrachten schmerzen konnten. Die Darstellungen auf den Türen wirkten wie Abziehbilder.

    Als er die Wohnungstür aufschloss, warteten sie schon im Korridor auf ihn. Sie nahmen ihn in den Arm, waren aufgeregt wie Kinder, die etwas ausgefressen hatten und sich insgeheim über ihren gelungenen Streich freuten. Er wurde ins Wohnzimmer geschoben. Zunächst wollten sie die Ergebnisse seiner Klausuren erfahren, damit das bestandene Abi endlich gefeiert werden konnte. Einen Zweifel daran, dass er es geschafft hatte, gab es für seine Eltern nicht. Kaffee und ein mit Erdbeeren belegter Tortenboden warteten auf dem Wohnzimmertisch. Sein Vater drückte ihn auf das Sofa, seine Mutter schenkte Kaffee ein. Er saß nun zwischen seinen Eltern. Die Sahne wurde verteilt, in den Kaffee, auf den Kuchen. Sie befanden sich in einem Rückfall in seine Kindertage: Ihre Liebe klebte, manchmal war es zu viel. Sein Vater kniff ihn in die Wange. Hatte Klaus ihm das nicht schon lange abgewöhnt? Mutter strich ihm übers Haar.

    Als sein Vater sich auch noch erhob, um eine Rede zu halten, die mindestens eine Viertelstunde anzudauern drohte – angefangen von seiner Geburt, über die ersten Schritte bis hin zu seiner Konfirmation und so weiter –, platzte Klaus der Kragen: „Paps, wenn du jetzt Graf Koks raushängen lässt, ergreife ich die Flucht und ihr müsst euren Kuchen allein aufessen."

    Da stand Mutter schnell auf, zog ihn hinter sich her, sagte: „Komm, wir haben noch ein Geschenk für dich. Die drei verließen das Wohnzimmer. Klaus machte sich einen Spaß, er steuerte sein Zimmer an. „Da doch nicht, rief sein Vater, „es ist draußen, nun komm schon." Unten auf dem Bürgersteig angekommen, gaben die Eltern die Richtung vor.

    „Na, willst du gar nicht wissen, was es ist?, wurde er gefragt. „Ach, der Paps hat sicher wieder mal mein Fahrrad mit einer tollen Farbe neu angemalt, aber wozu wir dafür rausmüssen, versteh ich nicht. Klaus gab sich ahnungslos, ging voran. Die beiden prusteten, lachten, hatten ihren Spaß und glaubten, ihren Sohn ins Bockshorn jagen zu können.

    „Klaus, nun bleib doch stehen, hier ist es doch, dein Geschenk, nun guck doch mal." Ihnen strahlte das Glück aus den Augen, die Überraschung war gelungen. Mit Stolz bekam er den Autoschlüssel von seinem Vater überreicht. Die Kruse aus der Vierten wollte sich dazugesellen, schnell sprangen sie in den Wagen. Die erste Fahrt zu dritt war ein Muss. Die drei fühlten sich in dem Gebrauchten ziemlich wohl. Kommentare, wie Klaus den Wagen zu fahren hat, folgten. Klaus betrachtete seinen Vater durch den Rückspiegel, ihre Blicke trafen sich.

    Sie passierten die Geschwister-Scholl-Straße. Hier kennt noch fast jeder jeden. Kleine Geschäfte, mehr oder weniger gut gehend, reihen sich aneinander. Seine Mutter grüßte jedes Mal, wenn sie jemanden sah, den sie kannte. Sie war stolz und wollte, dass die Leute Notiz von ihrer gemeinsamen Ausfahrt nahmen.

    Klaus kommt mit den beiden eigentlich gut klar, doch manchmal sind sie ihm schon peinlich. Wieder in der Wohnung, am Tisch sitzend, suchte er nach den richtigen Worten: „Mami, Paps, also das ist … Er brach ab, weiterzusprechen, fiel ihm schwer. „Was ist los?, wollte der Vater wissen, nun ungeduldig geworden. „Bist du in Schwierigkeiten? Rede doch mit uns, wir sind schließlich eine Familie!"

    „Nun gut, stammelte Klaus, „ich dachte, so nach dem Abi, also …

    „Jetzt mache es nicht so spannend, schob seine Mutter nach. „Also gut, ich geh für ein halbes Jahr an die Ostsee, zum Jobben, mal raus hier, das versteht ihr doch?

    Später in der Nacht hörte er sie miteinander flüstern. Nach einiger Zeit bemerkte er am rhythmischen Quietschen ihres alten Ehebettes, dass sie sicher waren, er würde bereits schlafen.

    Klaus wirft einen Blick in den Rückspiegel. Er ist noch immer zufrieden mit seinem Äußeren. Doch auf einmal wird seine Aufmerksamkeit von etwas Merkwürdigem gefesselt: Dort, hinter dem Baum, da bewegt sich doch ein Schatten! Als hätte sich jemand ruckartig versteckt! „Nein, sagt er zu sich, „manchmal fantasiere ich mir was zusammen. Wenn jemand nicht gesehen werden will, dann führt er doch etwas im Schilde. Und das kann nicht sein, hier, mitten in der Nacht. „Oh Klaus, beruhigt er sich, „du weißt schon, warum du Theaterwissenschaften studieren willst. Die Fantasie geht halt manchmal mit dir durch. Er legt den Gang ein, langsam rollt der Wagen vom Parkplatz, er freut sich auf Hamburg.

    Seine Eltern hatten versucht, ihm den Job auszureden. Sie wollten ihm zwei Wochen USA schenken, dort sollte er ein Praktikum in einem Theaterworkshop machen. Doch Klaus war nicht interessiert. Er fuhr stattdessen mit ein paar Freunden nach Südfrankreich. Die Eltern eines Freundes besaßen dort ein Haus, das die Jungen nutzen konnten. Der ganze Abistress fiel von ihm ab, er entspannte sich, hatte viel Spaß mit den Jungs. So vertrödelte er die Zeit, bis er den Job antrat.

    In Hamburg angekommen, parkt Klaus den Wagen in der Nähe des „Pit, einer Disco, in der er schon oft mit Freunden ganze Nächte durchgetanzt hat. Die Autotür fällt ins Schloss, er atmet die frische Luft ein. Auf dem Weg zum Eingang kickt er eine Coladose vor sich her. Ein Kerl kommt ihm entgegen, die beiden grinsen sich an. Klaus geht weiter, ohne sich umzudrehen. Er drückt den Klingelknopf vom „Pit, die Tür wird von innen geöffnet.

    *

    Julia kommt von einem langen Spaziergang entlang der Ostsee zurück. Sie hat ihrem geliebten Leuchtturm einen Besuch abgestattet. In seiner Nähe fühlt sie sich geborgen, wie in einer schützenden Burg. Sie liebt Gebäude, die sie als „gute Orte" empfindet. Um herauszufinden, ob ein Gebäude eine solche Ausstrahlung besitzt, muss sie diese nicht betreten. Julia glaubt, eine Fähigkeit zu besitzen, die den meisten fremd ist. Sie erkennt die Charaktere der Gebäude, egal, ob diese gut oder böse sind oder waren.

    Die alte Garage ihrer Großeltern hat zwei Holzflügeltüren. Quietschende Scharniere verleihen den Türen eine Art Leben, sie begrüßen Julia, wenn sie sie öffnet. Seit Julia denken kann, hat nie ein Auto in der Garage gestanden. Vielmehr war sie vollgestopft mit altem Trödel, wie ihre Mutter zu sagen pflegte. Julia sah das anders, sie konnte nur Schönheit erkennen: die alte Truhe, gefüllt mit Kleidern, all die ausrangierten Möbel, von denen jedes eine Geschichte zu erzählen hatte, der Schaukelstuhl, in den sie sich manchmal in ihrer Kindheit gesetzt hatte, um dort „Hanni und Nanni" zu lesen. Die Garage war auch ein Versteck vor ihren Brüdern, wenn diese sie zu ärgern versuchten.

    Dann gab es noch das alte Haus im nahe gelegenen Wald, das sie in seinen Bann zog. Es war seit Jahren nicht bewohnt. Nicht etwa, weil der Stromanschluss fehlte oder weil es nur Öfen zum Heizen gab. Nein, das war nicht der Grund. Vor vielen Jahren war hier eine Familie von jemandem überfallen und getötet worden. Die Gerüchte um dieses schreckliche Geschehen trieben bunte Blüten: Mal hatte der Mörder ein Beil benutzt, dann wieder einen Vorschlaghammer. Doch man konnte dem Haus diese Gräueltat nicht anlasten, entschied Julia. In ihrer Wahrnehmung hatte es einen guten Charakter. Zuweilen streifte Julia in Gedanken durch die Zimmer. Noch immer war es für sie von Interesse, in welchem Raum „es" wohl geschehen sein mochte.

    Julia ging mit ihrem Wissen über Häuser und Orte nicht hausieren. Wusste sie doch, dass alle sie für verrückt halten würden. Ihre beste Freundin Anja hatte sie jedoch ins Vertrauen gezogen. Noch immer sind Julia und Anja befreundet, doch ein wenig Distanz ist zwischen ihnen entstanden. Vielleicht, weil Julia sich schon eine ganze Weile hier an der Ostsee befindet, wo sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau macht. Sie hat die Ostsee gewählt, die ihr schon aus der Kindheit von den jährlichen Familienferien vertraut ist. Die Ostsee ist ihr zweites Zuhause. Schon immer wollte sie dort leben. Nur in der klaren Seeluft glaubt sie, richtig durchatmen zu können. Ihr Asthma ist hier kein Thema mehr. Natürlich vermisst Julia die Familie manchmal. Doch Bochum spielt nur noch eine Rolle, wenn sie ihre Leute besucht.

    Julia befindet sich jetzt im zweiten Lehrjahr. In der ersten Zeit fühlte sie sich sehr allein, doch nach und nach hatte sie Freundschaften geschlossen und sich in einen Jungen verliebt. Eine ganze Saison lang knutschte sie mit ihm herum. Als er dann zurück nach Goslar musste, war sie furchtbar traurig. Die Nacht vor seiner Abreise verbrachten sie zusammen. Für Julia war es das erste Mal. Die beiden versprachen, einander zu schreiben, doch schon nach einigen Wochen ließen sie es bleiben.

    Die Arbeit macht Julia Spaß. Das Einzige, was nervt: Immer muss sie zu den Gästen freundlich sein. Das ist schon ein ziemlich harter Brocken. Es fällt ihr halt schwer, zum Beispiel die füllige Dame nicht darauf hinzuweisen, dass ein Badeanzug vielleicht angebrachter wäre als der ins Fleisch schneidende Bikini. Natürlich versucht sie sich im Zaum zu halten – zumindest wenn der Chef in der Nähe ist.

    Auf dem Rückweg vom Leuchtturm begegnet Julia Klaus und Martin. Sofort gleitet ihr Blick zu Martin, dem hübschen Jungen, den sie schon seit geraumer Zeit anschauen muss und den sie so gern kennenlernen würde. Mit eingezogenem Kopf bewegt er sich vorwärts. Für Sekunden sieht Julia seine braunen tiefen Augen: Sie blicken so traurig. Für Julia ist es wichtig, in die Augen zu schauen, sie sieht immer zuerst dorthin. So viel steht darin geschrieben. Aus Martins Augen schimmert ihr Traurigkeit entgegen.

    Ein kurzes „Hallo, Julia hebt andeutungsweise die Hand. Martin wird rot. Julia fühlt ihren Bauch hin und her springen. Wie süß er doch ist. „Wie könnte ich es nur anstellen, ihn kennenzulernen, denkt sie, „aber vielleicht will er das ja gar nicht. Er geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zurück in ihrem Zimmer, lässt sie sich aufs Bett fallen. Sie nimmt ihr Tagebuch und notiert oben rechts das Datum. Julia dreht den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Schließlich schreibt sie nur einen Satz: „Er hat schöne große braune traurige Augen.

    Danach legt sie das Tagebuch zur Seite, blickt zur Wand, wo sie all die Ansichtskarten angebracht hat: Karten von ihren Eltern, von den Großeltern und natürlich auch von Anja. Anja wählt immer Karten, auf denen sich Gebäude befinden: Kirchen, alte Mühlen, Fachwerkhäuser. Natürlich hat Anja kein Gefühl für die Schwingung von Gebäuden. Und Julia traut sich nicht, sie wissen zu

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