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Der helle Wahnsinn geht weiter: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin
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eBook423 Seiten5 Stunden

Der helle Wahnsinn geht weiter: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin

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Über dieses E-Book

Die Psychologin Regina Dotzki kehrt von ihrem einjährigen Forschungsaufenthalt in Südostasien über Sextourismus wieder zurück nach Tübingen und muss feststellen, dass sich während ihrer Abwesenheit Vieles zum Negativen hin verändert hat: Aus ihrer lebensfrohen Freundin Tina ist eine biedere Frau geworden, die ihr Herz an einen Kotzbrocken verloren hat, und aus ihrem erotischen Freitags-Lover Armin ein unglücklicher Fettkloß. Nur der Biobauer Sebastian ist sich mehr oder weniger treu geblieben, steckt aber auch in Schwierigkeiten, weil er die Nachbarsbäuerin geschwängert hat.
Regina richtet sich in ihrem neuen alten Leben wieder ein, beginnt mit dem Schreiben ihres Buches über Sextourismus und stößt tatsächlich auf zwei große Verlage, die Interesse an der Veröffentlichung haben. Nach kurzer Zeit als Sozialhilfeempfängerin bekommt sie vom Sozialamt eine Stelle als Sozialpädagogin in einem Obdachlosenasyl angeboten, macht hier ihre ersten dilettantischen Therapieerfahrungen, erlebt einen Praxisschock mit ihren asozialen Klienten und Gewalterfahrungen. Einen Lieblingsklienten hat sie natürlich auch, der sie ordentlich in Atem hält. Und natürlich verliebt sie sich auch wieder einmal, in ihren Kollegen und Sozialpädagogen Burkhard, zunächst ein wunderschöner, asketisch wirkender Heiliger, der sich jedoch am Ende als Wolf im Schafspelz entpuppt.
Auch in diesem Band wird die psychosoziale Szene von einer Insiderin, die scharf beobachtet, karikiert und Männer unterschiedlichster Art gnadenlos seziert.
Jede Frau, die im psychosozialen Berich arbeitet, wird sich in Regina Dotzki ein Stückchen wiedererkennen. Und falls Sie noch nicht wissen sollten, was ein kosmischer Orgasmus ist, wird dieses Buch Ihre Bildungslücke schließen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. März 2021
ISBN9783347244887
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    Buchvorschau

    Der helle Wahnsinn geht weiter - Regina Dotzki

    Kapitel 1: Die Rückkehr

    Eine ziemlich veränderte Regina blickte mich aus dem Spiegel der Flugzeugtoilette an. Ein Jahr Südostasien war an mir nicht spurlos vorübergegangen. Erstaunt betrachtete ich mein Gesicht. Meine Augen strahlten nicht mehr übermütig, sondern blickten sanfter und ernster. Meine Wangen waren schmaler geworden. Aber nicht nur äußerlich hatte Südostasien mir seinen Stempel aufgedrückt. Auch innerlich war ich sanfter und weicher geworden. Von meinem früheren Temperament war kaum noch etwas übriggeblieben. Ich hatte schnell gelernt, dass der Mensch auch ohne Eile und Hektik leben konnte. Ich hatte begriffen, dass in Südostasien ein lebhaftes Temperament, hitzige Diskussionen, ein chaotischer Lebensstil und unkontrolliertes Gelächter nicht tolerierbare Dinge waren. Und mir war vor allem allmählich gedämmert, dass ich mein Leben bis vor einem Jahr ziemlich oberflächlich und privilegiert verbracht hatte, dass ich nicht in der Lage gewesen war, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, und dass ich meine gesamten Energien in vollkommen unwichtigen Aktionen verpulvert hatte. Ich hatte in Südostasien so viel Elend und so viel Armut gesehen und so viele traurige, hoffnungslose Lebensgeschichten gehört, dass ich mich manchmal schon bei dem Gedanken ertappt hatte: Ich will das alles hier vergessen, ich will wieder nach Hause und mich amüsieren! Ich hatte nachts vor Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts dieses ganzen Elends bittere Tränen vergossen, und ich hatte in blinder Wut auf mein Kopfkissen eingeschlagen. Aber eine südostasiatische Eigenart hatte sich auch in mir festgesetzt, die mir half, dieses ganze Elend besser zu ertragen: Der starke Willen, der hinter der sanften Fassade der Südostasiaten steckte und der oft für andere Kulturen gar nicht wahrnehmbar war. Ich war fest entschlossen, ein Buch über meine dortigen Erlebnisse zu schreiben, um Deutschland über die traurigen Hintergründe des Sextourismus aufzuklären. Dieses Buch war keine nette und schmeichelhafte Idee mehr, sondern eine Notwendigkeit für mich geworden. Ich hatte endlich eine sinnvolle Aufgabe gefunden, die mich ausfüllte und befriedigte. Kurzum: Ich war erwachsener geworden. Ein wenig zumindest!

    Alexandra und ich hatten erstaunlich gut zusammenarbeiten können, was mit Sicherheit daran lag, dass wir beide keinerlei Alternativen hatten. Die Tatsache, in einem fremden Land und in einer fremden Kultur einen Menschen an der Seite zu haben, der zumindest den gleichen kulturellen Hintergrund hatte und die gleiche Sprache sprach, ließ uns bald einsehen, dass es für uns beide Vorteile hatte zusammenzubleiben. Freundinnen wurden wir allerdings nicht, dafür waren wir zu unterschiedlich. Alexandra war äußerst diszipliniert und weckte mich stets um 8: 00 Uhr morgens mit einer Liste von Terminen, die an diesem Tage auf uns warteten, und während sie vorlas, gähnte ich und sagte: „Okay, ich komme um 10: 00 Uhr hierhin und um 14: 00 Uhr dorthin, und den Rest schenke ich mir. Dafür werde ich heute Abend wieder Interviews in den Bars machen."

    Ich trieb mich lieber in den Bars herum und redete mit den Touristen und den Prostituierten, statt auf feministischen Sitzungen über sie zu reden, und bei Alexandra war es genau umgekehrt. Ich konnte Alexandra auch nur mit Mühe davon überzeugen, dass es nach sechs Wochen in dem Dreckloch Manila unbedingt notwendig sei, weitere Recherchen an den tropischen Badestränden zu machen, von denen ich bis dahin noch nicht das kleinste Zipfelchen gesehen hatte. Alexandra hielt dies für Zeitverschwendung, da es an den tropischen Badestränden keine einheimischen feministischen Frauengruppen gab, und sie saß dank meiner Überredungskünste eine Woche lang umringt von Fachliteratur missmutig im Schatten einer Palme und sah mir verständnislos zu, wie ich mich vergnügt im warmen türkisblauen Wasser aalte.

    Wir waren in der Tat sehr unterschiedlich. Alexandra vertrat vehement die These, dass wir nur den kapitalistischen Imperialismus unterstützen würden, wenn wir etwas anderes als einheimische Nahrungsmittel zu uns nähmen. Und da in Südostasien kein Getreide wuchs und Mehl importiert werden musste, wurden Brot, Nudeln und Kartoffeln aus dem Speiseplan verbannt. Wir aßen morgens, mittags und abends Reis in verschiedenen Variationen. Gelegentlich schlich ich mich ins Nachtviertel und verdrückte heimlich mit schlechtem Gewissen eine Pizza oder ein Wiener Schnitzel mit Pommes. Insgesamt nahm ich fünf Kilo ab, und da ich vorher schon schlank gewesen war, war ich nun geradezu dünn geworden.

    Alexandra war ein politisch denkender Mensch, und ich war ein psychologisch denkender Mensch, sie argumentierte feministisch und ich interaktionistisch, insofern kamen wir bei unseren Diskussionen oft auf keinen gemeinsamen Nenner. Aber uns verbanden so lebenswichtige Kleinigkeiten wie die allabendliche Jagd auf Kakerlaken im Schlafzimmer mithilfe von Badelatschen und der Ekel vor Ratten in der Küche, über die die Einheimischen nur lachten.

    Von jedem Menschen konnte man etwas lernen, und ich profitierte von Alexandras ungeheurer Selbstdisziplin, von der ich ein wenig übernahm. Es war erstaunlich, wie viel Zeit man hatte und wie viel man arbeiten konnte, wenn man nicht mit irgendwelchen Männergeschichten beschäftigt war. Jeden Tag schrieb ich eifrig Berichte, Szenen und Beobachtungen in mein Tagebuch, wie Inge vom Rotherz-Verlag es mir empfohlen hatte. Und vielleicht profitierte Alexandra auch ein wenig von meiner Heiterkeit und Lebensfreude, die ihr wiederum fehlten. Gelegentlich ertappen wir uns auch dabei, wie wir herzlich zusammen lachten.

    Mit zunehmender Projektdauer wurden wir regelrecht prominent, wir gaben diverse Pressekonferenzen und erschienen mit Foto in etlichen Tageszeitungen. Im Laufe dieser Pressekonferenzen gewann ich zunehmend an Sicherheit. Während ich anfangs noch eingeschüchtert herumsaß und Alexandra reden ließ, hielt ich am Schluss sogar eigene Vorträge über die Psychodynamik und die Motive der Sextouristen. Ich verlor meine Angst und machte dabei die erfreuliche Erfahrung, dass ich so spannend vortragen konnte, dass ein Saal mit 40 Journalisten atemlos und fasziniert an meinen Lippen hing und hinterher an die Schreibmaschinen eilte. Ja, ich hatte viel gelernt in Südostasien.

    Tina und Marianne holten mich vom Flughafen ab. Etwas befremdet standen wir uns in der Ankunftshalle gegenüber. Beide hatten mich erst auf den zweiten Blick erkannt. Marianne hatte sich nicht verändert. Ihr sanftes, schönes Engelsgesicht lächelte immer noch hinter dem unendlich langen Goldhaar, aber Tina sah anders aus als vorher. Sie hatte ihre langen dunkelbraunen Locken auf Kinnlänge abgeschnitten, und sie schien ihre Haare nicht mehr mit Henna zu färben, sie hatten keinen rötlichen Schimmer mehr, sondern waren mausbraun. Sie trug einen braven dunkelblauen Mantel und eine brave dunkelblaue Hose, obwohl Dunkelblau niemals ihre Farbe gewesen war, und in ihren Augen fiel mir sofort etwas sehr Unglückliches auf. Sie war nicht mehr die Frau, die früher jeder Mann fasziniert angestarrt hatte, sondern wirkte wie eine unauffällige, biedere Hausfrau.

    Ich wusste aus unseren Briefen, dass Tina wieder eine neue Beziehung mit einem amerikanischen Lehrer namens Jack hatte, und ich hatte mich sehr darüber gefreut. Endlich hatte sie den Mut gefunden, wieder einen Mann zu lieben. Vielleicht schien sie es nun nicht mehr für nötig zu halten, sich abenteuerlich und auffällig zurechtzumachen. Tina hatte mir jeden Monat einen Brief geschrieben und in jeden Brief ein Foto von unserer denkwürdigen Abschiedsfeier gelegt. Und bei jedem Brief hatte ich unendliches Heimweh nach Tübingen bekommen.

    „Du hast dich sehr verändert", sagte Tina leise.

    „Ja. Du aber auch, lächelte ich sanft. Das sanfte Lächeln war mir eine feste Gewohnheit geworden. „Du hast deine Haare abgeschnitten.

    „Jack gefiel es besser so."

    „Und dir?"

    „Ach, ich weiß nicht. Jack meint, ich sehe jetzt seriöser aus. Und so etwas ist ihm wichtig."

    Ich begann zu staunen. Tina schien sich nicht nur äußerlich verändert zu haben.

    „Ich habe dir einen Mantel mitgebracht, sagte sie. „Ich dachte mir, du bist sicher nicht mehr ganz an unsere Temperaturen gewöhnt.

    „Danke, es ist sehr lieb, dass du daran gedacht hast", sagte ich etwas hölzern.

    „Letzten Winter hatten wir zwei Wochen lang minus 20 Grad, lächelte Marianne. „Da haben wir oft an dich gedacht.

    „Ach, ich habe auch so oft an euch gedacht!" Und dann fielen wir uns endlich in die Arme.

    Aber ein Jahr war eine lange Zeit, und die Fremdheit zwischen uns wollte nicht so schnell weichen.

    „Ich habe dein Bett frisch bezogen, grinste Tina, als wir zu ihrem Auto liefen. „Es war in einem unsäglichen Zustand. Ich hatte dir ja geschrieben, dass Sebastian es dort regelmäßig mit seiner neuen Flamme getrieben hat.

    Ja, das hatte sie mir geschrieben. Und ich war darüber so empört gewesen, dass ich Sebastian in einem wütenden Brief die weitere Benutzung meines Bettes strengstens untersagt hatte. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört.

    „Und offensichtlich war es ihnen auch egal gewesen, ob sie ihre Tage hatte oder nicht, regte sich Tina auf, und sie sah nun wieder ein wenig wie die Tina aus, die ich kannte. „Das hättest du wirklich sehen sollen! Die beiden kamen hier an, diese dralle Bäuerin deponierte ihre drei rotznasigen Gören bei uns in der Küche, und dann verschwanden sie in deinem Zimmer und haben es dort stundenlang und lautstark getrieben. Und Marianne und ich durften Babysitter spielen.

    Sebastian hatte eine Affäre mit der Ehefrau des Nachbarhofes angefangen, auf dem auch biodynamisches Gemüse angebaut wurde, und aus Angst, der biodynamische Gatte könne sie erwischen, hatten sie sich ein sicheres Liebesterrain gesucht. Und etwas anderes als mein Bett war Sebastian dabei offensichtlich nicht eingefallen. Wie mich das alles anödete! Ich hatte nicht die geringste Lust mehr, mich über solche Banalitäten aufzuregen. Früher hätte ich es getan, aber nun wusste ich, dass es wichtigere Dinge im Leben gab.

    Unser Haus und unsere Wohnung sahen vollkommen unverändert aus. Wenn man ein Jahr in der Fremde gelebt hatte, sehnte man sich nach vertrauten Dingen. Ich lief in die Küche, ich lief in mein Zimmer, und ich begann zu strahlen. Alles war genauso, wie ich es verlassen hatte.

    „Ich dachte, wir frühstücken jetzt erst einmal, und dann wirst du sicher eine Runde schlafen wollen. Du hast schließlich einen langen Flug hinter dir, schlug Tina vor. „Und heute Abend wollen Winfried und Edgar zum Essen kommen. Wir brennen alle darauf, deine Erlebnisse zu hören!

    „Gute Idee!"

    Ich warf den Inhalt meines Koffers in den Wäschekorb und räumte ihn dann schnell auf den Speicher. Weg mit dem Ding! So schnell wollte ich diesen Koffer nicht wieder anrühren! Ach, war das schön, wieder zuhause zu sein!

    Dann guckten zwei fremde, verschlafene Männergesichter aus Tinas und Mariannes Zimmertüren.

    „Das ist Matthias, kicherte Marianne. Matthias war der Nachfolger von Cäsar, von dem sich Marianne vor einem halben Jahr aus Schuldgefühlen wegen Bernhard getrennt hatte. Nun hatte sie offensichtlich wieder eine neue Liebschaft gefunden. „Wie findest du ihn?

    „Na, das, was ich bis jetzt von ihm gesehen habe, sah doch ganz flott aus!, lächelte ich. „Vor allem diese knackigen Boxershorts!

    „Und das ist Jack!", strahlte Tina.

    „Offensichtlich hat sich hier nichts verändert. Nur zwei neue Männer, die morgens verschlafen aus euren Zimmern torkeln", grinste ich.

    Und dann sah ich Jack am Frühstückstisch in die Augen, und mein Blut erstarrte zu Eis.

    Jack hatte an einer amerikanischen Schule die Kinder stationierter US-Soldaten in Mathematik und Englisch unterrichtet. Vor einem Monat war er fristlos entlassen worden, warum wusste keiner, und seitdem hing er in Tinas Zimmer herum und überlegte sich, was er nun mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte. Obwohl er sieben Jahre lang in Deutschland gelebt hatte, beschränkten sich seine Deutschkenntnisse auf den Satz: Ein Bier bitte!

    Jack bestand darauf, dass in seiner Gegenwart nur Englisch gesprochen wurde, damit er mitreden konnte. Und er hatte die unangenehme Eigenschaft, jeden nach spätestens drei Worten zu unterbrechen und auf grammatikalische Fehler oder falsche Aussprache hinzuweisen. Er war ein typischer Pauker der grässlichsten Sorte: blass, farblos, mit beginnender Glatzenbildung und einer großen, geschmacklosen Brille. Das Einzige, was ihm im Leben Freude zu bereiten schien, war, andere zu kritisieren und zu korrigieren. Die Unzufriedenheit mit allem und jedem und vor allem mit sich selbst war ihm in die Züge gemeißelt.

    Tina schmierte ihm ein Brötchen, und er legte es angewidert wieder zur Seite mit der Feststellung, die Butter habe genau einen Millimeter die Brötchenhälfte zu bedecken, und Tina sei wieder einmal zu ungeschickt gewesen. Tina sagte nicht etwa: ‚Dann schmiere es doch selbst, du Idiot!‘, sondern sie schmierte mit leicht zitternden Fingern und unglücklichen Augen die Unterseite des misslungenen Brötchens, und Jack meinte dazu nachsichtig lächelnd, sie wisse doch genau, dass er lieber die Oberseite esse. Und beim dritten Versuch wurde ihm endlich eine gelungene mit einem Millimeter Butter beschmierte Oberseite eines Brötchens serviert, in das er nach gründlicher Inspektion freudlos hineinbiss. Mit den Eiern verhielt es sich nicht anders. Jack liebte seine Eier exakt fünf Minuten lang gekocht, mit zwei Eiern war er unzufrieden, und erst beim dritten Ei kommentierte er selbstgefällig, Tina werde allmählich doch noch eine gute Hausfrau, er habe schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, und ein leichtes, gequältes Lächeln zuckte über seine Züge. Und Tina strahlte nach diesem erschütternden Kompliment.

    In dieser Frühstücksatmosphäre war es mir vollkommen unmöglich, etwas über Südostasien zu erzählen. Und ich hatte so viel zu erzählen! Nach einigen Anläufen gab ich es auf, und wir beendeten das Frühstück schweigend. Keiner hatte mehr Lust, von Jack auf seine falsche Aussprache oder auf seine falsche Grammatik hingewiesen zu werden. Und wie herrlich waren unsere früheren Frühstücke gewesen, vor allem an den Wochenenden! Wir hatten stundenlang am Küchentisch gesessen und geredet, gelacht, diskutiert, getratscht, geraucht, bis wir Hunger bekamen und erneut etwas auf den Tisch stellten. Die Zeiten hatten sich offensichtlich dank Jack geändert. Sehr erstaunt und nachdenklich ging ich nach diesem Frühstück in mein Zimmer. Tina folgte mir.

    „Na, wie findest du ihn?", fragte sie mich strahlend.

    Mir fiel beim besten Willen nichts Positives sein, was ich über Jack von mir geben konnte, ohne zu lügen. Aber ich wollte sie auch nicht kränken. Allem Anschein nach hatte Tina noch die rosarote Brille der ersten Verliebtheit auf. Ich konnte einfach nicht begreifen, was Tina nur an diesem unerfreulichen Menschen fand. Kein Wunder, dass sie so unglückliche Augen bekommen hatte und keinen Spaß mehr daran hatte, sich attraktiv zurechtzumachen.

    „Etwas nörgelig, dein Süßer", meinte ich vorsichtig.

    Tina blitzte mich wütend an. „Das hätte ich mir denken können, dass du mir diese Beziehung nicht gönnst! Aber ich sage dir eines: Ich lasse mich nicht mehr von dir manipulieren! Nie mehr!"

    „Tina, ich kenne den Mann doch noch gar nicht!, lenkte ich ein, überrascht von diesem Ausbruch. „Ich gönne dir wirklich alles Glück der Welt. Und ich bin mir sicher, dass dein Jack irgendwelche Vorzüge hat, die ich noch nicht erkannt habe, denn sonst hättest du dich ja wohl nicht in ihn verliebt.

    „Er ist die Liebe meines Lebens!", behauptete Tina, und ihre unglücklichen Augen straften ihre Worte Lügen.

    „Bist du wirklich glücklich mit ihm?" Ich sah sie aufmerksam an.

    „Ja!", sagte sie trotzig.

    „Du siehst aber nicht so aus."

    „Ich bin glücklich mit ihm, verdammt noch mal!, schrie sie. An solche Wutausbrüche war ich seit Südostasien in keiner Weise mehr gewohnt. „Und ich sage dir jetzt zum letzten Mal: Ich lasse mich mit dir auf keine Diskussionen mehr über Jack ein. Wenn ich noch ein einziges missgünstiges Wort von dir höre, dann kannst du unsere Freundschaft vergessen!

    Die Löwenmama verteidigte ihr Löwenbaby. Ob Jack tatsächlich so viel Loyalität und Engagement verdient hatte?

    Zutiefst erschüttert sagte ich nichts mehr. Ich hielt Tina für klug genug, dass sie mit der Zeit selbst erkennen würde, welch eine merkwürdige Gestalt sie sich da an Land gezogen hatte. Und am Ende würden wir über die Irrungen, Wirrungen und Geschmacksverirrungen, die die Liebe gelegentlich mit sich brachte, herzlich lachen können. Das hoffte ich zumindest.

    Edgar und Winfried saßen beim Abendessen in froher Erwartung vor mir, wie zwei Kinder vor dem Weihnachtsmann, der gleich seinen Sack aufmachen und wunderschöne Geschenke hervorholen wird. Natürlich erwarteten sie von mir das, was sie von mir gewohnt waren: spannende und unterhaltsame Geschichten aus Südostasien, eine angeregte halbstündige Diskussion über dieses Thema, und dann würden wir zu anderen spannenden Themen übergehen. Ich konnte ihren Erwartungen nicht mehr entsprechen. Meine Erlebnisse in Südostasien hatten mich zu tief berührt, um sie einfach nur auf ein paar amüsante Anekdoten zu reduzieren. Ich versuchte das Elend, das ich gesehen hatte, und meine Fassungslosigkeit darüber in Worten auszudrücken, ich sprach nicht lebhaft und heiter wie sonst, sondern langsam und ernst. Und das alles in Englisch, stets unterbrochen von einem korrigierenden Englischlehrer. Allerdings erfüllte es mich mit Genugtuung, dass Jack auch Winfried und Edgar sichtlich an den Nerven zerrte.

    Tina holte einen lecker duftenden Kartoffelauflauf aus dem Backofen, den sie mit zitternden Händen auf den Tisch stellte. Ich war ihr unendlich dankbar, dass sie keinen Reis gekocht hatte. Als erstes legte sie Jack ein Mittelstück davon auf.

    „Der Käse ist verbrannt!", stellte Jack nach gründlicher Inspektion angewidert fest und schob den Teller von sich. Tina kämpfte mit den Tränen.

    „Du darfst uns morgen gerne davon überzeugen, dass du es besser kannst, Junge!", eröffnete ich mit einem freundlichen Lächeln den Kampf. Allmählich reichte es mir mit Jack.

    Jack sprang auf und wurde vor Erregung puterrot. „Wie sprichst du denn mit mir? Ich bin doch kein kleiner Junge!"

    „So benimmst du dich aber! Wie ein kleiner, verzogener Junge! Und solange du dich so benimmst, so lange werde ich dich auch ‚boy‘ nennen." Ich lächelte sanft. Südostasiatisches Kampfmittel! Bei verzogenen Kindern half nur konsequentes Verhalten.

    Edgar und Winfried grinsten. Tina sah mich entgeistert an. Sie zitterte am ganzen Körper.

    „Ich bin kein kleiner Junge!" Jack war außer sich. Seine geschmacklose Brille hüpfte auf und ab vor Erregung.

    „Und ich bin keine Schülerin im Englischunterricht. Merkst du nicht, dass du jede Unterhaltung kaputt machst? Wir wollen uns hier einfach nur unterhalten, und zwar auf Deutsch und ohne Englischlehrer!"

    Jack verschwand türenknallend in Tinas Zimmer. Tina folgte ihm besorgt. „Das verzeihe ich dir nie!", zischte sie mir vorher noch zu.

    „Du hast dich sehr verändert, Regina," sagte Winfried am Ende dieses denkwürdigen Abends, nachdem wir uns endlich ungestört auf Deutsch hatten unterhalten dürfen.

    „Ja, sie hat sich verändert, unsere Regina, stimmte Edgar zu. „Ich schiebe es auf den Kulturschock. Hoffentlich bist du bald wieder die Alte.

    „Du wirst dich daran gewöhnen müssen, Edgar," entgegnete ich trotzig. Stabile Freundschaften hatten es auszuhalten, dass Menschen sich weiterentwickelten.

    „Also ich finde ihre Veränderung gar nicht so schlecht, widersprach Winfried. „Regina ist eben reifer geworden. Und das wurde auch wirklich langsam Zeit.

    „Ja, reifer vielleicht schon, aber leider hatte ihre Unreife den einen entscheidenden Vorteil: Sie war wirklich unterhaltsam," seufzte Edgar wehmütig in Erinnerung an die früheren chaotischen Zeiten.

    „Dann wirst du wohl in Zukunft öfter mal ins Kino gehen müssen," lächelte ich.

    „Warten wir‘s ab!", meinte Edgar, der angehende Psychoanalytiker, der der unumstößlichen Meinung war, dass der endgültige Charakter eines Menschen schon nach den ersten drei Lebensjahren feststand.

    Jeder Mensch, der lange Zeit in einer anderen Kultur gelebt hat, erleidet bei seiner Rückkehr ein mehr oder weniger starkes Gefühl der Heimatlosigkeit. In den folgenden Wochen musste ich feststellen, dass sich sehr Vieles in Tübingen verändert hatte. Ich hatte exakte Bilder der Erinnerungen nach Südostasien mitgenommen, und das Heimweh, das ich dort sehr oft empfunden hatte, klammerte sich an diese Erinnerungen, die ich nun tagtäglich zu korrigieren gezwungen war. Nichts, so schien es mir zumindest, war so, wie es vorher gewesen war. Es fing an mit so lapidaren Dingen, dass das Postamt an der Ecke geschlossen war. Stattdessen befand sich in den alten Posträumen ein neuer Fahrradladen. Ich wusste nicht einmal, wo ich Briefmarken kaufen konnte. Und es fiel mir auf, wie hektisch und eilig die Menschen durch die Straßen hasteten und wie unfreundlich sie dabei aussahen. Die Zeiten hatten sich verändert: In diesem einen Jahr hatten die Yuppies die Hippies verdrängt. Die Männer trugen nicht mehr lange Haare und Bärte, sie hingen nicht mehr in verräucherten Kneipen auf Plüschsofas herum und diskutierten nicht mehr über sozialpolitische Themen, sondern man sah nur noch kurze Haare, mit Gel in Form gebracht, und glattrasierte Gesichter, und man hörte nur noch Gespräche, die sich um Erfolg, Geld und Karriere drehten. Die Frauen zeigten nicht mehr in lila Latzhosen oder Indienkleidern ihr kritisches Bewusstsein, sondern teure Designerkleidung war modern geworden. Sie schminkten sich und stylten ihre Körper in diversen Fitnessstudios, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Die Gesichter der Menschen waren emotionsloser, blasser und leerer geworden. Die Kneipen waren im neuen, nüchternen Stil mit Edelstahl, Granitböden und schwarzen Lederstühlen umgestaltet worden. Und die Tübinger Innenstadt war von der neuen Schickeria entdeckt worden, es wurde hemmungslos modernisiert und restauriert. Den alten, morbiden Schmuddelcharme fand man nur noch in seltenen Ecken. Tagelang wankte ich wie im Traum durch dieses hübsche Städtchen, das ich geliebt hatte, und ich begriff allmählich, dass ich Heimweh nach Menschen und Dingen gehabt hatte, die es gar nicht mehr gab.

    Auch unser Haus war von der allgemeinen Modernisierungswelle ergriffen worden. Roswitha, Susanne, Franz, Markus und das frisch geborene Baby waren ausgezogen, und unter uns wohnte stattdessen ein Architekt mit seiner halb so jungen, hübschen zweiten Gattin, und sie hatten die alte Schmuddelwohnung von Roswitha und Co. dermaßen umgestaltet, dass sie nun aussah wie ein Schöner-Wohnen-Prospekt. Es entwickelte sich zwischen uns ein durchaus üblicher nachbarschaftlicher Kontakt, man grüßte sich im Treppenhaus und ging wieder seiner Wege, bloß war eine solche Art von Kontakt niemals in diesem Hause Usus gewesen. Einsam und fremd fühlte ich mich in dieser neuen Welt.

    Aber der Mensch besitzt glücklicherweise nicht nur die Fähigkeit, nostalgischen Erinnerungen nachzutrauern, sondern auch die der Anpassung. Nach einem Monat stellte ich fest, dass ich schon wieder genauso schnell wie vorher durch die Straßen eilte, und nach einem weiteren Monat hatte ich mit leiser Wehmut sämtliche Indienkleider und Rüschenblusen in den Altkleidersack gepackt und trug nur noch nüchterne weiße Sweatshirts und sachliche schwarze Hosen dazu.

    Ich fing wieder an, bei Hauberg zu arbeiten, der sich sichtlich darüber freute, mich wiederzusehen, sich gleich hocherfreut einen Metaxa einschenkte und das neueste Sortiment an Witzen zum Besten gab, das sich in einem Jahr in seiner Seele angesammelt hatte. Wenigstens Hauberg war der Alte geblieben.

    „Die Zeiten haben sich geändert, Herr Hauberg, was?", sagte ich zu ihm wie ein verspäteter Rückkehrer nach dem Krieg, der sich nun gar nicht mehr auskannte.

    „Ja, Frau Dotzki, die Zeiten haben sich wirklich geändert. Aber Schmuck kaufen die Leute immer noch wie doll! Allerdings nicht mehr so einen Firlefanz wie früher, sondern richtig edle Sachen, Platin und Diamanten. Na, Sie werden es selbst erleben!"

    Allmählich richtete ich mich in meinem neuen alten Leben wieder ein.

    Zwei Freitage stand ich durch, ohne Armin anzurufen, aber am dritten Freitag wagte ich es. Ob er überhaupt noch hier lebte? Ob er überhaupt noch hier arbeitete? Ob er überhaupt noch mit Maria zusammen war? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte vor, es herauszufinden.

    In Südostasien war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Armin gedacht hatte. Die Wahrsagerin hatte Recht behalten: Ich hatte ihn in meinem Herzen mitgenommen. Tagsüber konnte ich mich noch gut ablenken und auf meine Arbeit konzentrieren, die mich faszinierte und gefangen nahm. Aber nachts, wenn ich schlaflos und glühend in der Tropenhitze unter südostasiatischen Leintüchern lag und das Moskitonetz über mir anstarrte, dann drangen die Erinnerungen an Armin wie Feuerblitze in mich ein, und ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass es schon fast körperlich weh tat. Ich hatte meinen brennenden und glühenden Körper gestreichelt, ohne ihn jemals beruhigen zu können. Er verlangte nach Armin, er dürstete nach Armin, er schrie nach Armin. Bei nüchternem Tageslicht hatte ich mich manches Mal gefragt, wie ein solches Phänomen der Fixierung auf eine einzige Person unter Millionen von Männern nur möglich sein konnte. Aber es war so, und ich musste damit leben. Ein Jahr lang hatte ich mit keinem Mann mehr geschlafen, was mir nicht leichtgefallen war, da ich während meiner Arbeit tagtäglich mit Sex in allen Variationen konfrontiert worden war. Die sexuelle Abstinenz hatte mir jedoch gutgetan. Ich hatte gelernt, meine Energien und meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu konzentrieren. Aber nun wollte ich diese Abstinenz beenden. Und ich wollte sie mit Armin beenden.

    „Regina, du?, fragte Armin überrascht am Telefon. „Ist denn tatsächlich schon ein Jahr vorbei? Oder von wo rufst du an?

    „Ja, es ist tatsächlich schon ein Jahr vorbei. Ich bin wieder hier, und ich lebe noch."

    Armin sagte eine Weile nichts mehr. Diese Neuigkeit musste er erst einmal verdauen.

    „Und du?, fragte ich. „Du lebst offensichtlich auch noch. Und auch noch in der gleichen Wohnung, wie man hört.

    „Ja, wir leben immer noch hier auf dem Lande. Aber wir sehen uns derzeit nach einer anderen Wohnung um. Wir wollen in die Innenstadt Tübingens ziehen."

    Daraus schloss ich, dass Armin immer noch mit Maria zusammenlebte. Und wahrscheinlich hatte er auch immer noch die gleiche Arbeit. Nun ja. Ich hatte vergessen, dass Armin ein Zwangscharakter war. Von einem Zwangscharakter konnte man nicht erwarten, dass sich sein Leben innerhalb von einem Jahr großartig veränderte. In gewisser Weise war das sogar beruhigend.

    „Warum wollt ihr denn umziehen?"

    „Ach, weißt du, hier auf dem Lande ist es doch ein bisschen öde. Keiner besucht einen, man sitzt abends immer nur zu zweit herum, langweilt sich und streitet sich. Wir hoffen, dass es in der Stadt wieder besser wird." Er seufzte.

    So war die Sache also. Armin und Maria langweilten sich zu zweit, sie stritten sich zu zweit, und sie waren noch in einer Phase der Beziehung, in der sie hofften, ihre Differenzen durch einen Ortswechsel wieder in den Griff zu bekommen. Und ich war ein Jahr lang nicht vor Ort gewesen, um Armin immer wieder aufzubauen und fit für seinen frustrierenden Beziehungsalltag zu machen. Affären hatten einen stabilisierenden Einfluss auf bestehende Beziehungen, so viel wusste ich inzwischen. Und dieser stabilisierende Einfluss war weggefallen. Streit und Langeweile hatten sich breitgemacht. Vielleicht hätte ich noch ein weiteres Jahr wegbleiben sollen? Dann hätten Armin und Maria die Gelegenheit gehabt herauszufinden, dass auch ein Umzug nach Tübingen ihre Beziehung nicht mehr kitten konnte.

    „Möchtest du mich denn wiedersehen?", fragte Armin etwas unsicher.

    „Selbstverständlich möchte ich dich wiedersehen."

    „Und wann?"

    „Wenn du willst, sofort."

    Und Armin kam. Er kam sofort. Bis er in mein Zimmer trat, raste mein Herz wie verrückt. Und als er eintrat, sank es schlagartig auf den Gefrierpunkt. Entsetzt sank ich auf mein Sofa und japste nach Luft. Nein, das war nicht mehr der alte Armin, den ich gekannt und geliebt hatte, es war nur noch der Schatten des Mannes, den ich gekannt und geliebt hatte. Vor mir stand ein frustrierter, unglücklicher und stark übergewichtiger Mensch, der mich mit hängenden Schultern und einer tiefen Verzweiflung in den Augen ansah.

    Nahmen diese Albträume in der alten Heimat denn niemals mehr ein Ende? Alles, was ich geliebt hatte, alles, an dem mein Herz gehangen hatte, hatte sich gründlich verändert. Aus Tübingen mit dem morbiden Charme war eine steril sanierte Kleinstadt geworden, aus Menschen waren Yuppies worden, aus Tina war ein biederes, ängstliches Häschen geworden, das sein Herz an einen Kotzbrocken verloren hatte, und aus meinem strahlenden und erotischen Armin, dem schönsten Mann unter der Sonne, war ein unglücklicher Fettkloß geworden. Und wie hatte ich mich nach diesem Mann gesehnt! Wie hatte ich mich auf diesen Mann gefreut! Ich hatte mich nach einem Mann gesehnt und auf einen Mann gefreut, den es gar nicht mehr gab.

    Trotz aller Unhöflichkeit, der ich mir durchaus bewusst war, war ich zunächst weder in der Lage, ihm etwas zu trinken anzubieten, noch mit ihm freundliche Konversation zu betreiben. Der Schock saß zu tief. Ich starrte ihn nur fassungslos aus meinem Sofa heraus an, und die Tränen traten mir in die Augen.

    „Mein Gott, Armin, was ist nur in diesem einen Jahr mit dir passiert?", fragte ich mit tonloser Stimme.

    Armin sank nach diesen unhöflichen Begrüßungsworten noch mehr in sich zusammen. Auch er hatte seine schönen dunklen Locken dem Friseur geopfert und trug nun einen nichtssagenden gegelten Kurzhaarschnitt, der sich etwas zu lichten begann.

    „Dünn bist du geworden", stellte er fest.

    „Was man von dir nicht gerade behaupten kann. Ich lächelte leicht, und das Mitleid mit dieser unglücklichen Gestalt krampfte mein Herz zusammen. Allmählich besann ich mich wieder auf meine gute Kinderstube. „Komm, setz dich aufs Sofa! Kann ich dir einen Tee anbieten?

    „Danke, gerne", sagte Armin mit unsicherer Stimme und setzte sich brav auf mein Sofa. Auch wir waren uns fremd geworden.

    Während der Teevorbereitung in der Küche konnte ich mich in Ruhe von meinem Schrecken erholen. So also sah Armin nach einem Jahr ohne mich aus! Er hatte keine neue Affäre begonnen, das sah ich sofort. Er hatte seine ungestillte Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung mit Fressanfällen bekämpft.

    Wie Fremde plauderten wir auf dem Sofa, während wir unseren Tee tranken. Ich erzählte ein wenig von Südostasien, und ich erzählte ein wenig von meinem Buch, er erzählte ein wenig von seiner Wohnungssuche, und er erzählte ein wenig von seiner Arbeit. Irgendwann wussten wir nicht mehr, was wir uns noch erzählen sollten. Wir schwiegen uns an wie zwei Personen, die sich nichts mehr zu sagen hatten.

    „Ach, Regina," sagte Armin traurig.

    „Ach, Armin," sagte ich traurig.

    War das etwa das Ende meiner großen Liebe? Und war diese Liebe wirklich so oberflächlich gewesen, dass sie durch etliche Kilo Übergewicht und durch einen Kurzhaarschnitt zerstört werden konnte? Aber es war nicht das allein.

    Armin nahm meine Hand und küsste sie sanft. Er küsste sich behutsam bis zum Ellenbogen vor. Es passierte nichts. Gar nichts. Keine elektrischen Wellen, die durch meinen Körper pulsierten, keine Blutströme, die gen Unterleib rasten. Es passierte nichts. Absolut nichts. Armin war sensibel genug, um auch das zu merken. Meine nonverbale Sprache hatte er immer schon verstanden. In einem Anfall von Verzweiflung nahm er mich in die Arme. Und ich spürte nichts. Ich spürte nichts, außer einem Fettkloß, dessen Körper meinen Körper auf dem Sofa plattdrückte. Aber noch wollte ich es einfach nicht wahrhaben.

    „Komm, lass uns rübergehen!, bat ich leise. „Hier auf dem Sofa ist es zu eng.

    Wir gingen zu meinem Bett, er zog mich aus, ich zog ihn aus, und er war dankbar, als er vor meinen prüfenden Blicken endlich unter die Bettdecke fliehen durfte. Es entwickelte sich ein stummer, verzweifelter Kampf mit dem Ziel, die Vergangenheit wiederzubeleben. Aber es gelang uns nicht, uns beiden nicht. Wir konnten nicht mehr an dem Punkt anknüpfen, an dem wir aufgehört hatten. Armin hatte früher stets instinktiv genau das gemacht, was ich wollte, und nun machte er mit wachsender Verbissenheit genau das, was ich nicht wollte. Er berührte mich an den falschen Stellen zur falschen Zeit, seine Berührungen wurden immer intensiver und immer verzweifelter und fühlten sich immer falscher an. Es ging einfach nicht. Wir konnten unsere unvergleichliche Leidenschaft nicht mehr reaktivieren. Ich war darüber genauso enttäuscht wie Armin. Alles hätte ich für möglich gehalten, alles, nur das nicht.

    „Armin, bitte lass es! Es hat

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