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Ciara
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eBook355 Seiten4 Stunden

Ciara

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Über dieses E-Book

Mit ihrer Mutter verbindet Ciara ein enges und freundschaftliches Verhältnis. Sie leben zurückgezogen und allein. Doch dann stirbt Ciaras Mutter unerwartet. Kurz darauf wird Ciara überfallen und schwer verletzt. Als sie im Krankenhaus erwacht, scheint ihr Leben sinnlos. Noch ahnt sie nicht, das der Überfall gezielt ausgeführt wurde, um ein mystisches Vermächtnis in ihr zu wecken. Ciaras Tod würde das Ende einer Ära bedeuten, das ihre Beschützer zu bewahren versuchen. Doch es gibt auch eine dunkle Macht, die Ciara für immer auslöschen will.

Nicole Rensmann verknüpft in "Ciara" historische Fakten des Vampirismus mit der keltischen Mythologie und setzt den modernen Blutsaugern neue Maßstäbe.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum15. Apr. 2018
ISBN9783864025976
Ciara

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    Buchvorschau

    Ciara - Nicole Rensmann

    Wicca-Rede)

    Vorwort

    Für die Erstausgabe, die 2005 erschien, schrieb ich ein Nachwort, das der damalige Verlag aus Platzgründen strich. Mit der Neuausgabe, die nun dreizehn Jahre später – in einem anderen Verlag – erscheint, hole ich das einst gestrichene Nachwort nach vorne und erinnere mich an die Entstehung von »Ciara«.

    2003 fragte mich der Verleger des Festa-Verlags, ob ich Lust hätte, einen Vampir-Roman zu schreiben. Meine Begeisterung war groß, mein Entsetzen nicht weniger.

    Vampire!

    Es gibt kaum ein Wesen im phantastischen Genre, das eine größere Hauptrolle in Buch und Film gespielt hat (und noch spielt).

    Schon 2003 fand ich, das Thema sei im wahrsten Sinne ausgeblutet. Dem klassischen Vampir wollte ich keinen Platz in einem meiner Bücher einräumen. Darum verknüpfte ich meine Vampire mit dem Hexentum, der keltischen Mythologie, dem alten Vampirglauben und einer wissenschaftlichen Theorie.

    Einen dicken Leitz-Ordner voll mit Recherchematerial sammelte ich zusammen. Ich las Bücher über Mythologie, Hexen und Vampire und lernte Neues. Vieles habe ich heute wieder vergessen. Nur an die wichtigen Details erinnere ich mich, wenn es darauf ankommt. Bei einem Quiz sind alte Rechercheerinnerungen hilfreich und – hier muss der Zufall zugeschlagen haben – aktuell arbeite ich an einem Roman, in dem eine Hexe vorkommt. Hierfür konnte ich aus meinem – zugegeben – löchrigen Gedächtnis nach Informationen fischen. Denn den Ordner habe ich erst vor Kurzem entsorgt. Einige Wochen bevor mich Guido Latz vom Atlantis Verlag fragte, ob ich mir vorstellen könnte, »Ciara« als Taschenbuch neu auflegen zu lassen.

    Zufall?

    Vielleicht. In der Geschichte habe ich nichts dem Zufall überlassen.

    Vom Flughafen in Trenton bist Du vielleicht schon mal abgeflogen. Und auch wenn Alleys Island vielleicht kein Ort für einen Kurzurlaub ist – auf der Landkarte ist diese Insel verzeichnet. Auch die erwähnten Krankheiten sind nicht erfunden. Muttermale galten im Mittelalter als Zeichen einer Hexe und Anämie unterstützte den Vampirglauben. Der keltischen Mythologie habe ich Details entnommen und eine eigene Geschichte darum gestrickt.

    Viel mehr möchte ich nun aber gar nicht verraten. Nur noch ein kleiner Tipp zur Aussprache der keltischen Worte: Vor oder nach dem Buchstaben »w« ein »e« setzen. Dann liest es sich leichter.

    Fear [F’ar] steht übrigens nicht für das englische »fear«, obwohl dies auch durchaus passend gewesen wäre. Der Ausdruck »Fear« stammt aus dem Gälischen und bedeutet »Mann«.

    Ciara Duchas, Paul Philis und Mike Burghardt stellten mich vor fünfzehn Jahren jeden Tag vor eine schwierige Aufgabe und setzten mich massiv unter Spannung. Ich musste zwischendurch eine kleine Schreibpause einlegen. Später, als die Geschichte geschrieben war und das Manuskript beim Verlag lag, vermisste ich die drei wie gute Freunde, die auf eine Weltreise gegangen waren – ohne mich. Als ich die Geschichte für die neue Ausgabe noch einmal überarbeitete, fühlte ich mich den dreien sofort wieder nah und mein Ehrgeiz wurde geweckt. Denn die neue Ausgabe sollte – schon aus nostalgischen Gründen – nicht komplett überarbeitet und an meinen heutigen Schreibstil angepasst werden, aber ein bisschen straff ziehen wollte ich den einen oder anderen Satz doch. Und schon steckte ich wieder mittendrin im Geschehen von Ciara, Paul und Mike. Jetzt vermisse ich Sie wieder, die drei.

    In wenigen Minuten lasse ich den Darstellern die Bühne, nur noch einen Moment. Denn an diese Stelle gehört die Danksagung. Für diese Ausgabe straffe ich sie um ein paar Worte.

    Danke an Moon, der ich Ciaras Geburtsdatum verdanke. Wir waren beide erstaunt darüber, dass mein erdachtes Geburtsdatum und die sich darum drehende mystische Handlung den Berechnungen exakt glichen. Ich sagte ja, es gibt keine Zufälle.

    Tausend Dank an Uschi Freund, die ihre ärztlichen Kollegen löcherte, wenn ich Krankheitssymptome und Informationen zur Blutübertragung benötigte.

    Mein Dank geht an Werner Placho für seine Biker-Insidertipps und die Gespräche über Schmerzmittel, die gezeigt haben, dass in Deutschland und Österreich die Therapien nicht unterschiedlicher sein könnten.

    Danke an Michael Gillen von Harley Davidson für seine Freundlichkeit und die vielen Informationen. Gleiches gilt für Lars Kabel, der mir nicht nur mit seinem Büchlein »Irisch–Gälisch« weiterhalf, sondern auch per E-Mail bei spezifischen Fragen.

    Danke, Hannes Windisch, für das Lektorat (der Erstausgabe). Auch wenn wir uns nicht immer einig waren, seine Tipps und Anregungen haben mir in vielfacher Weise für dieses Buch und nachfolgende Romane geholfen.

    Vielen Dank an Guido Latz, der mal wieder meine Bücher aus der Schublade holt. Und einen besonderen Dank an Timo Kümmel. Seine Cover machen meine Bücher erst salonfähig.

    Danke an alle, die mich viele Jahre begleiten oder mir erst seit ein paar Jahren ihre Freundschaft und Aufmerksamkeit schenken. Ich bin froh, dass es Euch gibt.

    Danke, liebe Leser, Ihr seid großartig!

    Ich verneige mich vor jedem Einzelnen von Euch!

    Nicole Rensmann

    Remscheid, im Dezember 2004/Februar 2018

    1. Tag, 7. Januar 2004

    Auf der Stirn bildeten sich Schweißperlen, die sie fortzuwischen ersehnte, aber Panik lähmte ihren Körper. Sie versuchte, der Beschleunigung ihres Herzschlages entgegenzuwirken. Zu spät. Lauter werdende Piepstöne brachten der Person, deren Flüstern sie geweckt hatte, Bestätigung darüber, dass sie aufgewacht war. »Haben Sie keine Angst. Sie sind hier in Sicherheit.«

    Tränen quollen unter Ciaras geschlossenen Augenlidern hervor. Sie lebte?

    Die männliche Stimme, die sie noch vor einem Tag als angenehm bezeichnet hätte, redete sachte auf sie ein: »Mein Name ist Paul Philis, ich bin Arzt. Sie sind im städtischen Klinikum. Ein Taxifahrer brachte Sie zu uns. Wie geht es Ihnen? Können Sie sprechen?« Er schien auf eine Antwort zu warten, doch Ciara gab sie ihm nicht.

    »Die Polizei wartet draußen und will mit Ihnen reden.«

    Ciara schüttelte den Kopf. Sie wollte mit niemandem sprechen.

    »Ich verstehe.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin sicher, die Polizei möchte Ihnen helfen.«

    Sie schluckte, ihr Hals fühlte sich trocken an. »Zu spät!«, krächzte sie.

    »Ich weiß.«

    Ciara deutete sein anschließendes Schweigen als Zeichen der Betroffenheit, aber die Gefühle des Arztes interessierten sie nicht. Nur der Gedanke an den Tod, daran, alles hinter sich zu lassen und irgendwo in einer anderen Welt neu anzufangen, spendete ihr Trost. Aber Dr. Philis schien Ciaras Wünsche nicht nachempfinden zu wollen.

    »Leider werde ich die Beamten nicht davon überzeugen können, wieder zu gehen. Sprechen Sie mit ihnen, bitte.«

    Ciara öffnete die Augen und bemerkte, wie der Arzt vor dem Misstrauen, das sich darin zeigen musste, zurückschreckte.

    Er räusperte sich und wies mit einer Hand auf das Kissen neben ihr: »Ihr Frettchen ist übrigens auch hier.« Ciara drehte den Kopf vorsichtig zur Seite, was der Verband um ihren Hals erschwerte. Hinter dem Nebel, der ihre Gedanken umwölkte, erzeugt von einer geringen Dosis Morphium oder einem ähnlichen Sedativum, existierten Schmerzen und grausame Bilder, die sich langsam in ihr Bewusstsein drängten.

    Tatsächlich, da lag es, das grauschwarze Frettchen, das sie kurz nach Mitternacht an ihrem Geburtstag vor der Tür entdeckt hatte. Beim Anblick des Tieres echote das Kreischen ihres Peinigers in den Ohren, als sich der kleine Iltis in dessen Hals festgebissen und ein Stück Fleisch herausgerissen hatte – so wie der Unbekannte zuvor bei ihr. Das Frettchen hatte ihr Leben gerettet, aber Ciara wusste nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte.

    »Wir konnten es nicht von Ihnen trennen. Es hat die Sanitäter und zwei Krankenschwestern gebissen – und mich.« Der Arzt hielt den verbundenen Daumen der rechten Hand hoch. »Darum habe ich beschlossen, es bei Ihnen zu lassen, was zwar der Oberschwester nicht gefiel, aber …«

    »Welcher Tag ist heute?«, unterbrach ihn Ciara.

    »Wir haben den siebten Januar. Sie haben nur wenige Stunden geschlafen.«

    »Schicken Sie die Polizisten rein«, Ciara strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, »und danach gehe ich nach Hause.«

    Doktor Philis winkte die in Zivil gekleideten Beamtinnen herein und verließ das Zimmer.

    Die untersetzte Brünette nickte Ciara zu, blieb neben der Tür stehen und studierte das Gerät, das Ciaras Herz- und Pulswerte aufzeichnete. Die Jüngere der beiden, eine sportlich aussehende Frau mit kurzen schwarzen Haaren, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Frau Duchas. Mein Name ist Marina Bonito. Das ist«, sie deutete auf ihre Kollegin, »Sabrina Breuer. Schön, dass Sie bereit sind, uns einige Fragen zu beantworten. Wie geht es Ihnen?«

    Ciara stierte an die weiß gestrichene Decke, auf der Suche nach einem Schlupfloch, durch das sie flüchten konnte. Fort, nur fort von Erinnerungen, Empfindungen und Fragen – den bohrenden Fragen der Polizei. Wut, Hass und Ekel brodelten in ihr, doch ehe die Gefühle aus ihr herausbrechen konnten, seufzte sie qualvoll. Die Polizistinnen wechselten einen erschrockenen Blick.

    Hysterie schwang in Ciaras Stimme mit, als sie antwortete: »Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen jemand ein Messer in die Seite drückt und dann mit einem Dolch Ihr Jungfernhäutchen durchsticht?« Ciaras Herzfrequenz stieg, das Messgerät piepste. »Und als wäre das nicht genug, vergewaltigt er Sie und reißt Ihnen mit seinen Zähnen eine Wunde in den Hals wie ein wildes Tier! Was glauben Sie, wie man sich da fühlt?« Ruckartig richtete sich das bis dahin schlafende Frettchen auf, stelzte vorsichtig über das weiche Kopfkissen zu Ciara und schmiegte sich an sie.

    »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen, Frau Duchas.« Marina Bonito hob eine Hand, als wolle sie Ciara diese tröstend auf den Arm legen, zögerte jedoch und ließ die Hand sinken.

    »Stellen Sie mir bitte Ihre Fragen.« Ciaras Stimme klang fest, doch die Finger, mit denen sie sich eine Strähne ihres roten Haares aus der Stirn strich, zitterten. Sie ballte eine Faust und versteckte diese unter der Bettdecke. Die Kanüle in der Hand spannte schmerzhaft.

    »Können Sie den Mann beschreiben?« Sabine Breuer schaute Ciara an. Sie wirkte seltsam ausdruckslos. Für wenige Sekunden erwiderte Ciara den Blick, fuhr sich dann mit dem linken Handrücken über die Augen und wischte sich unauffällig ein paar Tränen weg. Das Kabel der Kapillarfühler störte. Dann starrte sie wieder zur Zimmerdecke hinauf. »Er trug einen langen schwarzen Lodenmantel mit einer großen Kapuze, die er tief in sein Gesicht gezogen hatte. Ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht erkennen.«

    »Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen? Hat er mit Ihnen geredet? Stand ein Auto in der Nähe?« Marina Bonito führte das Gespräch weiter.

    Ciara schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr der Geruch ein. »Seine Hände! Sie rochen nach kaltem Zigarettenqualm und noch etwas anderem. Ein unangenehmer, beißender Gestank, den ich nicht einordnen kann.«

    »Was ist mit dem Messer? Ist Ihnen daran etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Etwas an seinen Händen? Ein Ring? Eine Tätowierung?«

    »Nein. Ich habe nichts gesehen, nur gefühlt, aber – es waren zwei. Das kurze Messer drückte er mir in die Seite. Und das zweite war ein schmaler, langer Dolch.« Ciara schluckte, kniff die Augen zusammen und drängte die Tränen zurück. Für einen Moment spürte sie erneut die Spitze des Dolchs zwischen ihren Beinen.

    »Dürfen wir Ihnen noch die Fingerabdrücke abnehmen? Wir brauchen sie, um sie von denen des Täters unterscheiden zu können.«

    Anstelle einer Antwort streckte Ciara der Polizistin die linke Hand entgegen. Und während Maria Bonito die ersten fünf Abdrücke anfertigte, entkrampfte Ciara unter der Bettdecke die Faust. Ihre Fingernägel hatten sich tief in die Handfläche gebohrt.

    »In ein paar Tagen verschwindet die Farbe wieder. Kann ich bitte noch die rechte Hand haben?«

    Ciara streckte sie ihr entgegen. Maria Bonito zögerte.

    »Ist da Ihr Blut?«

    Ciara nickte.

    »Ich sag dem Arzt gleich Bescheid. Wir sind auch jetzt fertig.« Sie kramte in ihrer Jackentasche herum, zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Nachttisch. »Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an. Alles Gute.«

    Kaum hatten die Polizistinnen das Zimmer verlassen, kehrte Doktor Philis zurück. Er hatte Verbandsmaterial dabei.

    »Machen Sie mich von den Schläuchen ab, ich will nach Hause.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte, doch der Arzt ging nicht darauf ein.

    »Ich verbinde erst einmal Ihre Hand, sonst riskieren Sie noch eine Entzündung.« Während er die vier Wunden desinfizierte und einen Verband anlegte, redete er auf Ciara ein: »Es ist besser, wenn Sie noch ein paar Tage hierbleiben. Sie haben viel Blut verloren und die Verletzung an ihrem Hals muss unter ärztlicher Kontrolle bleiben.«

    Über Ciaras Iris legte sich eine dunkle Wolke und verfinsterte ihren Blick. »Ich gehe nach Hause. Jetzt!«

    Der Arzt betrachtete das Frettchen, das sich auf dem Kopfkissen in den Sonnenstrahlen rekelte, die durchs Fenster fielen.

    »Dann bitte ich Sie, so lange zu bleiben, bis wir Ihre Eltern erreicht haben, damit sichergestellt ist, dass Sie abgeholt werden und versorgt sind.«

    Die Luft schien sich zu verdichten, legte sich über Ciaras Körper wie eine aus Blei gearbeitete Decke und hüllte sie in eine vorübergehende Starre. Lediglich der leise mechanische Piepton trieb die Zeit und das Leben voran. »Meinen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter starb vor fünf Wochen.«

    Hörbar saugte der Arzt die Luft ein. Als er ausatmete, klang es wie: »Shit!«

    Vorsichtig richtete sich Ciara auf, die dünne Bettdecke rutschte hinunter und entblößte ein gelb-weiß gestreiftes Krankenhaushemd. Die Wirkung des Schmerzmittels ließ allmählich nach, an den Rändern der Halswunde schienen Tausende kleine Käfer zu nagen und in ihrem Bauch schien immer noch ein Messer zu stecken. Sie biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Stöhnen. Ciara klemmte den Kapillarfühler ab und knibbelte dann umständlich an dem Pflaster herum, das die Kanüle an ihrer Hand fixierte.

    »Lassen Sie mich das machen.« Der Arzt zögerte. »Oder soll ich eine Schwester holen?«

    Mit einem Knurren, das für ein kleines Tier ungewöhnlich laut und bedrohlich klang, warnte ihn das Frettchen vor unüberlegten Bewegungen. Es verstummte erst, als Ciara sagte: »Machen Sie das, damit ich nicht länger warten muss.« Sie zuckte zusammen, als seine Hand ihre Haut streifte. Der Arzt stoppte und sah Ciara an. In seinen Augen erkannte sie Empathie, das überraschte und berührte sie. Doktor Philis hielt ihrem prüfenden Blick mehrere Atemzüge stand, dann räusperte er sich und zog die Kanüle. »Sie müssen mir noch bestätigen, dass Sie das Krankenhaus auf eigene Gefahr verlassen«, sagte er und ging zur Tür. »Allerdings möchte ich noch mal erwähnen, dass ich es für besser halte, wenn Sie hierbleiben.«

    »Auf keinen Fall.«

    Ciara wartete, bis der Arzt den Raum verlassen hatte, schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich schwerfällig auf. Sie blieb noch einen Moment auf der Bettkante sitzen, bis die vor ihren Augen aufsteigende schwarze Wand, die sie einer Bewusstlosigkeit nahe brachte, einstürzte. Während Ciara darauf wartete, dass sich ihr Kreislauf stabilisierte, betrachtete sie das kleine schmucklose Zimmer, das mit dem Waschtisch, einem Stuhl, einem Nachttisch, einem Einbauschrank in der Ecke und dem Bett, auf dem sie saß, über ein zweckmäßiges, aber liebloses Mobiliar verfügte. Weder Bilder noch sonstige Dekorationen versuchten, den Patienten ihren Aufenthalt angenehmer zu gestalten. Da Ciara hoffte, in dem schmalen Schrank ihre Kleidung zu finden, wankte sie barfuß darauf zu. Aber dieser enthielt – bis auf ein paar verwaschene Handtücher – nichts. Die Polizei musste ihre Garderobe zur Spurensicherung mitgenommen haben.

    Ciara klingelte nach der Schwester, die blitzartig ins Zimmer trat. Vermutlich hatte sie direkt davor gestanden. In einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, forderte Ciara etwas zum Anziehen.

    Erschöpft setzte sie sich wieder auf das Bett und fixierte die kahle weiße Wand. Ihre Finger bewegten sich rhythmisch auf den Oberschenkeln, als spiele sie ein Stakkato auf einem Klavier. Endlich kehrte die Krankenschwester zurück und übergab Ciara Unterwäsche, eine Bluejeans, einen gelben Pullover und ein Paar braune abgewetzte Mokassins. »Brauchen Sie Hilfe? Weiß Doktor Philis, dass Sie gehen?«

    »Nein und ja.« Ciara hatte keine Lust auf Konversation, sie wollte nach Hause. Nur dort war sie sicher.

    Das Überstreifen der Jeans und das damit verbundene Gefühl auf der Haut beschwor eine Erinnerung herauf, die ihr Tränen in die Augen trieb. Die Hose reichte ihr nur bis zu den Waden, passte aber sonst, als sei sie für ihre schlanke Figur gemacht. Der Pulli sah aus wie ein Kartoffelsack und auch in den zwei Nummern zu großen Schuhen fühlte sie sich unwohl. Aber für den Weg musste es reichen.

    Das Frettchen kletterte auf Ciaras Schulter. Leise öffnete sie die Zimmertür und sah sich im Flur um. Sie entdeckte Doktor Philis an der Rezeption und steuerte auf ihn zu. Als er sie sah, sagte er ein paar Worte zu der Schwester und kam Ciara entgegen. Er reichte ihr die Entlassungspapiere, die Ciara eilig unterzeichnete. Dann händigte er ihr noch ein Rezept aus und bat sie, die Wunden beim Hausarzt versorgen zu lassen.

    »Ich habe keinen.«

    »Sie haben keinen Hausarzt? Waren Sie noch nie krank?«

    »Nichts, was meine Mutter nicht hätte behandeln können.«

    »Dann bitte ich Sie, zur Nachsorge hierherzukommen. Morgen kann ich Ihnen die ersten Ergebnisse der Bluttests mitteilen. Aber ich würde gerne auch noch eine weitere Blutprobe nehmen und ein paar Tests durchführen. Keine Angst, nichts Schlimmes. Ich möchte nur sichergehen, dass Sie wieder völlig gesund werden. Ach, und – Moment.« Er eilte durch eine Tür hinter der Rezeption, direkt neben dem Schwesternzimmer, und kehrte mit einer dunkelbraunen Wildlederjacke zurück. »Ziehen Sie die hier an. Sie können mir die Jacke morgen wieder mitbringen. Es ist sonst zu kalt draußen.«

    Ciara nahm das Frettchen von ihrer Schulter und drückte es dem Arzt in den Arm. Während sie die viel zu große Jacke überzog, die angenehm nach Leder und einem herben Aftershave roch, beschnupperte das bissige Frettchen Doktor Philis neugierig. Bevor es sich jedoch auf dessen Arm gemütlich niederlassen oder erneut um sich beißen konnte, nahm Ciara das Tier wieder an sich.

    »Danke für Ihre Mühe.« Ciara versuchte, dem Arzt ein Lächeln zu schenken, stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen. Hastig drehte sie sich weg. So schnell es die übergroßen Schuhe ermöglichten, lief sie den Flur entlang und auf die Straße.

    Paul Philis blickte ihr nach, selbst dann noch, als sie sich schon längst außerhalb seiner Sichtweite befand.

    »Paul? Hallo! Doktor Philis? Hey, Paul, träumst du?«

    Er blinzelte sich zurück an seinen Arbeitsplatz. »Nein, ich habe nachgedacht. Was gibt’s denn, Mike?«

    Der junge Mann, der nur noch wenige Monate seines Medizinpraktikums zu absolvieren hatte, hielt eine Kette hoch: »Die muss Frau Duchas vergessen haben. Ich hatte sie vom Blut gereinigt und ihr in den Nachttisch gelegt. Was machen wir damit? Schönes Stück übrigens. Passt zu seiner Besitzerin.«

    Paul überlegte kurz, hinter Frau Duchas herzurennen, entschied sich aber dagegen, nahm die Kette an sich und ging an Mike vorbei in sein Büro. »Sie kommt morgen zur Untersuchung, dann gebe ich ihr die Kette zurück.«

    Er drückte die Tür ins Schloss und sackte müde in den Schreibtischsessel. Vor gut einem Jahr hatte er den Sessel auf dem Trödelmarkt gekauft. Das Leder war an der Sitzfläche abgenutzt, doch trotz dieser kleinen Altersschwäche hatte der Sessel nichts von seiner Bequemlichkeit verloren. Paul schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Noch zwei Stunden bis zum Ende der Doppelschicht. Er setzte sich auf und betrachtete das Schmuckstück genauer, das Ciara Duchas zurückgelassen hatte.

    Die Rückseite bestand aus Silber, die eingravierten Keltischen Ogam-Schriftzeichen umringten einen, auf zwei von fünf Spitzen stehenden Stern, dessen Seitenlinien sich ineinander verschlangen.

    Ein Schutzpentagramm, das dunkle Mächte und negative Einflüsse abwehren sollte.

    Es klopfte an der Tür. Paul blickte auf und bat den Besucher herein. Eine Krankenschwester schob ihren Kopf durch den größer werdenden Türspalt: »Entschuldigen Sie, Dr. Philis, aber auf den Entlassungspapieren fehlt das Kürzel des Psychiaters.«

    »Ich werde das im Bericht ausführlich darlegen. Frau Duchas ist eine starke Persönlichkeit. Sie wird nicht jeden Psychiater akzeptieren. Dafür ist es noch zu früh.«

    »Ich widerspreche Ihnen nur ungern, aber sie hat ein wirklich dramatisches Erlebnis durchlebt. Sie sollte nicht allein sein.«

    »Das ist mir bewusst.«

    Die Schwester nickte und ließ Paul allein. Er dreht den Anhänger um.

    Sein Puls beschleunigte sich mit einem Mal. Der darin eingefasste Mondstein schimmerte in der gleichen Farbe wie Ciaras hellblau marmorierte Augen.

    Schutzlos und nackt rannte sie durch die Dunkelheit ihres auf grauen Wolken erbauten Traumes – kreuz und quer schlug sie Haken wie ein Kaninchen, als müsse sie einen Verfolger abschütteln. Steine und Splitter von abgebrochenen Ästen schnitten ihr in die bloßen Füße. Nirgends entdeckte sie einen Baum oder ein Tier, selbst einen Mond gab es nicht in dieser düsteren, schwarz-weißen Nacht. Sie weinte vor Einsamkeit und Angst.

    Doch da, weit entfernt, nahm sie einen Schatten wahr: die Silhouette eines Menschen – eines Mannes –, dessen kantiges Gesicht sich ihr zuwandte. Er streckte ihr eine Hand entgegen. Sie sehnte sich danach, auf ihn zuzugehen und die Vertrautheit, die diese Geste aussandte, anzunehmen. Doch obwohl sie vorwärtslief, vergrößerte sich die Distanz und die schwarze Gestalt wurde kleiner, bis sie vollkommen aus Ciaras Blickfeld verschwand. »Wo bist du? Warum lässt du mich jetzt allein?«

    Ciara weinte im Schlaf. Bis zum Morgengrauen suchte sie in ihren, für gewöhnlich, lebhaften und bunten Träumen vergeblich nach ihrer Mutter und einer Zuflucht, die ihr Geborgenheit hätte geben können.

    2. Tag

    Ciara kniff die Augen zusammen und machte den Weg nur durch einen schmalen Schlitz aus. Das Tageslicht blendete und schmerzte in den Augen, trotz der Sonnenbrille, die sie trug.

    An Häuserwände gedrückt, bewegte sie sich rasch voran. Sobald sie ein von der winterlichen Mittagssonne erhelltes Stück Straße überqueren musste, rannte sie los und kam erst zur Ruhe, wenn sie in Schatten eintauchen konnte, der ihr etwas Linderung bot. In einer unbeschrifteten Papiertüte transportierte sie die geliehene Kleidung. Heute trug sie eine enge blaue Jeans, einen hüftlangen, beigefarbenen Pullover und darüber eine schwarze Lederjacke, die ihrer Mutter gehört hatte. Ihre Füße steckten in schwarzen Schnürstiefeln. Alles passte perfekt. Das taillenlange orangerote Haar hatte sie mit einer silbernen Spange zu einem Zopf zurückgebunden.

    Ihr Pullover klebte an ihrem Rücken, die Jeans an den Beinen, sie schwitzte viel zu stark, als sie das Krankenhaus erreichte. Sie setzte sich auf eine der Bänke, die vor dem Eingangsbereich aufgestellt worden waren, mit Blick in einen kleinen Park. Die Wiese war mit Raureif überzogen, der von der Sonne in glitzernde Diamanten verwandelt wurde, bis die Strahlen jeden kleinen Tropfen aufgesaugt hatten. Die Bäume bewegten ihr kahles Haupt im Wind. Die Natur zeigte sich von einer schönen Seite. Die Bänke sahen alles andere als schön aus. Bunte Aufkleber und aufgesprühte Graffiti bemühten sich, die teils abgesplitterte Farbe zu verdecken. Die mit Messern eingeritzten Herzen und Schwüre ewiger Liebe auf der Sitzfläche verschwammen plötzlich vor Ciaras Augen. Ihr Atem produzierte viel zu viele Rauchwolken, als versuche sie, ein Feuer zu entfachen. Ihr überhöhter Pulsschlag jagte das Blut durch den Körper. Sie zitterte.

    »Frau Duchas. Was machen Sie hier draußen? Es ist doch viel zu kalt.«

    Hölzern drehte Ciara den Oberkörper und erkannte den Besitzer der Stimme: Doktor Philis eilte vom Parkplatz her auf sie zu. Ein dicker Norwegerpullover ersetzte die Jacke, die er ihr geliehen hatte, die khakifarbene Cargohose und Turnschuhe passten zur sportlichen Statur des Arztes. Besorgt schaute er Ciara an, nahm ihr die Tasche aus der Hand, die sie fest umklammerte, als strahle der schmale Griff Wärme aus, und suchte an einem Handgelenk nach dem Puls. Eine eisige Windbö durchkämmte sein braunes Haar und riss an Ciaras Zopf.

    »Ist alles in Ordnung?«

    Ciara antwortete nicht. Ihr Körper bebte vor Schüttelfrost. Sie spürte, wie sich ihre Pupillen weiteten, ihr Puls rauschte in den Ohren, ihr Herz setzte aus und sie kippte auf der Bank zur Seite. Die linke Wange ruhte auf den in das Holz geschnitzten kantigen Buchstaben: ZURÜCK ZUM URSPRUNG.

    Ruhe umspülte sie, wie Gischt einen gestrandeten Fisch, um ihn ins Meer zurückzuziehen. Die stummen Wellen ertränkten all die grausamen Geschehnisse und Verluste der letzten Wochen und zogen sie in eiskaltes Wasser, weit hinunter in die schwarze Tiefe.

    Ziellos wanderte sie durch den Wald, lauschte dem Zwitschern der Vögel und saugte den harzigen Geruch der Baumrinden auf, buntes Laub raschelte unter ihren Füßen. Jemand rief nach ihr. Ciara drehte sich suchend um und erspähte wenige Meter hinter sich ihre Mutter, die auf sie zugeeilt kam. Regungslos standen sich die Frauen gegenüber. Einen Wimpernschlag später spazierten sie Arm in Arm in einen Teil des Waldes, der eine beklemmende Ruhe ausstrahlte, als habe jemand mit einem Zauber die Kehle aller Vögel durchtrennt. Zähe Bodennebel waberten zwischen den Baumstämmen und hefteten sich an ihre Fersen. Das Atmen fiel Ciara schwer. Sie wollte fragen, wohin sie gingen, aber ihre Stimmbänder versagten. Ihre Mutter führte sie, über eine mit Gras bewachsene Anhöhe, aus dem Wald hinaus. Den Hügel abwärts wies der dichte Rasen unterschiedlich große verbrannte Flecken auf, die bis zum Fuße, an dem sie nun stehen blieben, zu einem Ganzen zusammenwuchsen und das Gras vollständig verdrängten.

    Von dort beobachteten sie einen großen Mann. Er sprach von einem aus Holzlatten erbauten Podest zu einem Pulk von Menschen, die sich davor versammelt hatten.

    Sein langes graues Haar, in dem noch vereinzelte braune Strähnen zu erkennen waren, fiel ihm weit über die Schultern und zwirbelte sich an den Seiten mit seinem struppigen Barthaar zusammen.

    Ciara erkannte den Mann als Arawn, den Herrscher von Annwn, der keltischen Anderwelt. Dort, wo die Seelen laut keltischer Mythologie weiterlebten. Ein grenzenloser Ort, zu dem Ciara sich hinsehnte, nach ihrem Tod.

    War sie bereits gestorben?

    Sie vernahm die Worte des Mannes deutlich, als stünde sie in der Menge.

    »Es sind Dinge in der irdischen Welt geschehen, die wir nicht vorhergesehen haben und somit nicht beeinflussen konnten. Doch nun müssen wir handeln, um Schlimmeres zu verhindern. Was schlagt ihr vor?«

    Betroffenes Schweigen blieb zunächst die einzige Antwort, es folgte ein Raunen, welches in einen lauten und wirren Redeschwall überging. Arawn hob seine Hände über den Kopf, breitete die Arme aus und murmelte unverständliche Worte. Die aufgeregte Meute verstummte. Als er nun sprach, hingen die Blicke der Untertanen an

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