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Gewebewelten
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eBook344 Seiten3 Stunden

Gewebewelten

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Über dieses E-Book

Zwei Mädchen, drei Jungs – fünf unterschiedlichste Charaktere und eine Aufgabe, die sie gemeinsam bewältigen müssen. Bei der Aufräumaktion im Archiv finden sie einen Teppich, der sie zwingt die Wahrheit zu sagen und die Teenager in seine Welt zieht – eine Welt, die nur durch die eigenen Gedanken existieren kann. Das stellt sie vor eine Herausforderung, denn Timo ist ein arroganter Arsch, Lisa eine Zicke, Tobias isst unentwegt Süßigkeiten, René ist blind, und Jana hat Diabetes. Niemand weiß, wie sie dieses Abenteuer lebend überstehen sollen. Aber sie sind nicht allein, Mysterkilus Secritunum, ein alter weiser Mann, einst Hüter der Magie, lebt mit seinem Drachen Pedenius schon lange in der Teppichwelt. Doch seitdem die Teenager in seine Gedankenblase eingedrungen sind, ist nichts mehr wie es war. Und da sind noch die Handlanger des Todes, die Myst verfolgen, um seinen Lebensfaden zu durchtrennen.

Ein packendes Fantasy-Abenteuer mit überraschenden Wendungen und einem Drachen, der einst ein Kater war.
Für Leser ab 12 bis mindestens 101 Jahre.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum31. Jan. 2020
ISBN9783864027123
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    Buchvorschau

    Gewebewelten - Nicole Rensmann

    1

    Bild fehlt!

    Jana öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Schwärze. Sie hörte ihren Atem und hielt die Luft an. Stille. Der Geschmack von Blut brachte ihre Erinnerungen langsam zurück. Lisa hatte ihr einen Kinnhaken verpasst. Dabei hatte sich Jana auf die Zunge gebissen und war anschließend ohnmächtig geworden.

    »Hört mit dem Mist auf, das ist nicht witzig!« Ihre Stimme klang ängstlicher, als sie es beabsichtigt hatte, ihre Zunge schmerzte bei jedem Wort. Kein Raunen, kein Kichern. Sie hatten das Licht ausgeschaltet und Jana im Keller zurückgelassen. Oder sie versteckten sich im Dunkeln, hielten sich den Mund zu und unterdrückten einen Lachanfall. Kinderkram! Vorsichtig betastete sie ihr schmerzendes Kinn. »Danke, Lisa«, flüsterte sie verärgert.

    Jana stand auf. Der Boden schwankte, ihr wurde übel. Sie suchte Halt, doch da war nichts.

    Sie tastete sich voran, fand weder Wände noch Regale. Gänsehaut kribbelte auf ihren Armen. Sie erschauderte vor Angst. Jana unterdrückte den Drang zu schreien. Im Geiste hörte sie das Gelächter, das sie zur Begrüßung empfangen würde, sobald sie panisch aus dem Raum stürzte. Vielleicht hockten sie auch vor der Tür und warteten nur darauf, dass sie um Hilfe schrie. Doch diese Freude wollte Jana ihnen nicht machen.

    Lisa war eine hinterhältige Zicke. Nur sie konnte auf die Idee gekommen sein, Jana im Keller einzusperren. Nicht ohne die Hilfe von Timo, dem arroganten Schulsprecher, den Lisa vergötterte. Er ging mit ihr. Oder sie mit ihm. Das war keine eindeutige Beziehungskonstellation, in jedem Fall keine Liebe. Tobias hatten sie vermutlich mit Schokolade bestochen, damit er sie nicht verpfiff. Für Süßkram würde der von einer Brücke springen. Aber dass René bei solchen Spielchen mitmachte, überraschte Jana. Zusammen waren sie dazu verdonnert worden, den Archivraum aufzuräumen und zu streichen. Eine Strafarbeit, die ihnen bessere Kopfnoten verschaffen und Ärger mit den Eltern ersparen sollte.

    Jana tastete sich in der Dunkelheit voran, ihr Puls rauschte in den Ohren.

    Sie musste hier raus!

    2

    Bild fehlt!

    Das Licht erlosch, Sekunden nur. Dann flackerte die Leuchtstoffröhre wieder und leuchtete das Kellerarchiv aus.

    Timo wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Was war das?«

    »Kurzschluss oder so.« Lisa hockte noch immer auf dem Boden, streckte Timo eine Hand entgegen und ordnete mit der anderen die Haare. Doch Timo ignorierte die stille Bitte seiner Freundin, ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie zuckte mit den Achseln, sprang auf, strich sich die Hose glatt und zupfte das bauchfreie T-Shirt zurecht. Ihr Bauchnabelpiercing – ein Männchen mit beweglichen Gliedmaßen – glitzerte in der Mitte einer rotvioletten Blüte. Die Tätowierung hatte sich Lisa vor einem halben Jahr rund um den Bauchnabel stechen lassen. Der Anfang eines floralen Oberkörpertattoos, hatte sie geschwärmt, doch bisher war es bei dieser einen Blume geblieben.

    Kurz bevor das Licht ausgegangen war, hatte sie sich auf Jana gestürzt und diese verprügelt.

    »Wo steckt Jana jetzt?«, fragte Timo. Er schaute auf den Teppich, auf dem Jana vor wenigen Minuten gesessen und sie alle lautstark mit der Wahrheit konfrontiert hatte.

    Und die Wahrheit hatte Lisa noch nie vertragen können. Doch Timo musste sich eingestehen, dass Jana recht hatte. Er liebte Lisa nicht und fragte sich häufig, warum er mit diesem Mädchen zusammen war. Er kannte die Antwort, wollte die Wahrheit aber nicht zugeben.

    Vor ihrem Ausbruch hatte Jana wie paralysiert gewirkt, beinahe verträumt, und Timo war – zugegeben nicht zum ersten Mal – aufgefallen, wie hübsch sie aussah. Jana war introvertiert, diskutierte nie mit, hielt sich bei allem zurück und eckte nie an. Doch diesmal hatte sie verbal ausgeteilt, von der einstigen Schüchternheit war nichts geblieben. Das hatte Timo imponiert, er mochte Jana. Aber das würde er niemals zugeben. Kaum überraschend hatte Lisa reagiert, als sie sich kreischend auf Jana gestürzt hatte. Und dann ging das Licht aus, als hätte diese überspannte Situation die alten elektrischen Leitungen überlastet.

    Innerhalb von wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und Jana hätte neben Lisa auf dem Boden sitzen müssen. Die Nase blutig, vielleicht. Doch dort, wo sie gesessen hatte, lag nur ihr Haargummi auf dem Teppich – dem Teppich, den Jana zuvor unter einer Holzbohle entdeckt hatte.

    Neben Timo stand Schoko-Tobi, er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Seine Wangenknochen mahlten. Er unterbrach das Kauen kurz, um eine weitere Ladung Bonbons in den Mund zu schieben.

    Wie konnte ein einzelner Mensch diese Unmengen an Süßigkeiten in sich hineinstopfen, ohne innerhalb eines Monats zu platzen? Jetzt furzte er auch noch, vollkommen hemmungslos. Der Dicke widerte ihn an.

    »Ich habe ein Prickeln auf der Haut gespürt. Unangenehm. Und Wärme, wie ein Sonnenstrahl.« Das war René, der Timo mit leeren Augen anstarrte. Seine Blindheit schärfte andere Sinne, aber Timo wusste, was er meinte. Die Dunkelheit hatte sie für einen Augenblick alle blind gemacht.

    »Und hast du auch mitbekommen, wohin sich unsere Zuckerpuppe verkrochen hat?« Lisa bückte sich nach dem schwarzen Haargummi, mit dem sich Jana die taillenlangen, erdfarbenen Haare zurückgebunden hatte. Sie zog es auseinander und ließ es in den Raum schnappen, wo es unter einem der Regale verschwand.

    René schüttelte den Kopf. »Ich habe die Tür nicht gehört.«

    »Dann muss sie noch hier sein.« Mit erhobenem Kopf stolzierte Lisa an der ersten Regalreihe vorbei, klopfte auf die Metallverstrebungen und erzeugte ein kaltes Echo. »Komm raus, du blöde Kuh! Oder hast du Schiss?« Sie lachte.

    Timo blickte zu Boden, er wollte Lisa nicht dabei zusehen, wie sie Jana verhöhnte. Lisa gehörte zu der Clique im Internat, die er brauchte, um zum Schulsprecher gewählt zu werden. Ein Feigling, das war er. In der Tat, Jana hatte mit jedem Wort die Wahrheit gesprochen.

    »Angst hatte Jana nicht. Kein Stück.« Tobias grinste. »Sie hat richtig gut ausgeteilt.«

    »Dir hat sie ja auch keine Komplimente gemacht, Fettsack. Aber du bist ja schon froh, wenn überhaupt einer mit dir spricht.«

    Während Lisa den dicken Schoko-Tobi mit Worten verletzte, was sie besonders gut beherrschte, ging Timo zum Ende des Raums. Dort hatte Jana Ordner aus den Regalen geräumt und die Wandbehänge entdeckt. Drei Teppiche mit unterschiedlichen Mustern hingen an der Wand.

    Einer stellte das gewebte Porträt einer alten Frau dar. Die hochgesteckten, weißen Haare hoben sich von dem tintenschwarzen Hintergrund ab. Eine orangefarbene Lilie verzierte den Dutt der Frau. Die schmalen, blassroten Lippen hatte die Alte zu einem Lächeln verzogen, als wisse sie, was hier geschehen war. Auf der krummen Nase klebte ein Kaugummi. Smaragdgrüne Augen blickten Timo geradewegs ins Gesicht und wirkten gespenstisch lebendig. Er wendete sich ab. Staub und Zeit hätten die Farben blass wirken lassen müssen, doch dieser Teppich schien frisch gesaugt, anders als der Wandbehang daneben.

    Blaue und orangefarbene Fäden glitzerten wie das Meer bei Sonnenuntergang. Flach gewebt schmiegte er sich vom Boden bis zur Decke an die Wand. Für einen kurzen Moment glaubte Timo eine wellenförmige Bewegung zu erkennen. Er blinzelte. Ornamente, aus grauer und brauner Wolle, rahmten das Meer ein. Zaghaft wischte Timo mit den Fingern den Rand entlang. Staubwolken flüchteten zu den Seiten. Die Borsten krümmten sich unter seiner Berührung. Timo presste die Handfläche gegen den Teppich. Das kitzelte auf der Haut, er lächelte. Die Oberfläche fühlte sich nun warm und weich an – wie das Fell eines Tieres. Timo zuckte zurück.

    Der dritte Teppich zeigte eine gewebte Landschaft. Mittig schwebte ein bunter Heißluftballon. In der Gondel standen Menschen und winkten ihm zu. Timo ertappte sich dabei, wie er die Hand hob und zurückwinkte.

    Lisa und Tobi stritten über den Fettgehalt von Süßigkeiten. Timo kehrte zu den anderen zurück.

    Dort lag ein vierter Teppich, den Timo nur mit Mühe, und dank Renés und Tobias’ Hilfe, in den Vorraum des Archivs gezogen hatte. Jana hatte ihn unter einer gebrochenen Holzlatte des Fußbodens entdeckt, nachdem sie René aufgeholfen hatte. Er war über ein paar Akten gestolpert.

    Sie hatten den Teppich zur Hälfte ausgerollt. Auch dieses Stück war mit handwerklichem Geschick angefertigt. Silberne und goldene Fäden durchwoben moosfarbenes Garn und bildeten miteinander geometrische Formen und Schlangenlinien. Fransen klebten wie ineinander verschlungene, silberfarbene Spinnenbeine an der einen Saumseite des Teppichs.

    »Habt ihr das auch gespürt? Dieses Prickeln, diese Wärme, diesen elektrischen Schlag?«, wollte René wissen. Anscheinend hatten weder Lisa noch Tobias auf ihn geachtet. Typisch.

    »Das war nur ein Stromausfall, draußen herrscht ein Gewitter wie beim Weltuntergang.« Tobias schmatzte. »Jana wird ratzfatz aus der Tür gerannt sein. Wer will ihr das verübeln, wenn du sie verprügelst wie eine Wahnsinnige?« Mit Schweinsäuglein gaffte er Lisa an. Die ignorierte ihn, nahm seine Bemerkung jedoch zum Anlass, noch einmal auf Jana herumzuhacken. »Siehste, Timo? Sag ich doch. Die ist abgehauen und lässt uns mit dem Scheiß allein!«

    »Die Tür ist nicht aufgegangen, das hätte ich gehört«, konterte René.

    »Dann hat sie sich in Luft aufgelöst.« Tobias fantasierte. »So muss es gewesen sein.« Er klatschte in die Hände. »Zack, puff und weg!«

    »Du bist genauso dämlich wie Jana.« Lisa verdrehte die Augen und widmete sich ihren Fingernägeln. Ein Aufschrei ließ René zusammenzucken, Tobias hörte für wenige Sekunden auf zu kauen. Nur Timo ignorierte sie, denn er ahnte, welch persönliche Katastrophe diesen Aufschrei rechtfertigte.

    »Mein Fingernagel ist abgebrochen! Das ist Janas Schuld. Diese Bitch, ich hasse sie. Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

    Mit einem Ruck öffnete sich die Kellertür. Erleichtert über die Ablenkung und in der Annahme, dass Jana anscheinend doch aus dem Raum verschwunden war und nun zurückkehrte, drehten sie sich alle zur Tür. Der lockere Spruch, der Timo in den Sinn kam, blieb ihm jedoch im Halse stecken. Nicht Jana, sondern Stonehenge stand im Türrahmen.

    Stonehenge hieß gebürtig Oliver Siebert, der Direktor führte das Internat mit strenger Hand, die Schüler fürchteten ihn. Er machte keinen Unterschied zwischen den Schülern, unabhängig davon, ob sie ein Handicap hatten oder nicht. Denn das Internat in Dänemark war eine Schule mit Inklusion. Hier lebten Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zusammen. Stonehenge behandelte alle gleich und das wiederum schätzten die Schüler an ihm.

    Den wenig schmeichelhaften Spitznamen hatte er vor Jahren von den Schülern verliehen bekommen. Seine versteinerten Gesichtszüge hatte er – wie Gerüchte besagten – einer verpatzten Schönheits-OP zu verdanken.

    »Fürs Rumstehen gibt es weder gute Noten noch Freifahrtscheine. Im Foyer stehen zwei Eimer Farbe.« Er wandte sich zum Gehen, dann stutzte er: »Wo ist Jana Malek?«

    Darauf wussten sie keine Antwort.

    »Findet sie. Diese Arbeit müsst ihr zusammen bewerkstelligen. Ich habe euch fünf aus gutem Grund für diese Aufgabe eingeteilt. Sie wird nur honoriert, wenn ihr sie gemeinsam erledigt. Und gute Kopfnoten könnt ihr alle gebrauchen, nicht wahr?«

    Die schwere Eisentür knallte zu, Stonehenge ließ Ratlosigkeit und Wut zurück.

    3

    Bild fehlt!

    Die Arme ausgestreckt, die Augen weit aufgerissen, tastete sich Jana blind durch die Dunkelheit. Sie fürchtete, gegen eine Wand zu laufen oder sich an einem Regal zu stoßen. Der Schemel, den sie zur Seite gestellt hatte, damit die Jungs den Teppich im Vorraum ablegen konnten, musste in der Nähe stehen. Jana ging vorsichtig, fühlte mit den Schuhspitzen vor, um nicht über den zusammengerollten Teil des Teppichs zu stolpern. Doch sie fand ihn nicht.

    Das Bumm-Bumm-Bumm ihres Herzens hämmerte bis zum Hals. Trotz der wachsenden Panik nahm sich Jana vor, gelassen aus dem Keller zu spazieren. Wenn es ihr nur endlich gelingen würde, die Tür zu finden.

    Jana hatte das Gefühl, seit Stunden im Kreis zu laufen, und doch wusste sie, dass nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein konnten. Sonst hätte doch wenigstens René sie rausgelassen?!

    Panik schnürte ihr die Luft ab. Stille, bis auf das Wummern ihres Herzens, das nun auch ihren Körper und den gesamten Raum auszufüllen schien. Welchen Raum?

    »Ihr habt gewonnen! Helft mir. Bitte! Ich habe Angst!«

    Keine Antwort. Ihr Schluchzen verhallte im Nichts.

    * * *

    »Ich habe sie nicht gefunden.« Lisa kehrte als Letzte ins Archiv zurück. Sie hatte sich die Haare gekämmt und die Lippen nachgezogen. Aber nach Jana hatte sie sicherlich nicht gesucht.

    »Wir müssen Stonehenge die Wahrheit sagen.« Tobias warf sich eine Handvoll Gummibärchen ein und erstickte weitere schlechte Ideen im Keim.

    »Und was willst du ihm sagen?« Timo tippte sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn. »Der hält uns doch für bescheuert.«

    »Dieses Miststück versaut wieder alles.« Lisa lehnte an der Wand und betrachtete ihre Fingernägel.

    Tobias kaute, schluckte und pulte sich mit dem Zeigefinger Gummibärchenreste aus den Zähnen.

    »Und was ist die Wahrheit? Ich habe nur die statische Ladung gespürt. Die Tür ist nicht geöffnet worden. Jana muss hier sein.« René legte den Kopf schief und wandte sich nach rechts, dann links. Er horchte nach Geräuschen, die sie nicht wahrnahmen.

    »Und warum hast du dann im Gebäude nach ihr gesucht, René, wenn du davon überzeugt bist, Jana würde sich hier verstecken?« Ohne Spott sprach Lisa selten.

    »Weil ich mich auf eure Augen verlassen habe.«

    »Wenn ihr es Stonehenge nicht sagen wollt, dann bin ich dafür, dass wir den Keller aufräumen. Irgendwann taucht sie schon wieder auf.« Tobias packte sich ein paar Ordner und brachte sie aus dem Archiv in den Flur.

    »Da mach ich nicht mit. Wenn Jana sich drückt, müsst ihr meinen Teil auch erledigen«, maulte Lisa.

    »Dann schlag doch was Besseres vor!« Timo ertrug sie nicht mehr. Wäre sie doch anstelle von Jana verschwunden!

    »Ihr seid die Streber, lasst euch was einfallen!« Mit der dünnen Schuhsohle ihrer Sandalen fuhr Lisa über den Teppich, bückte sich, schnippte eine Fluse fort und setzte sich dorthin, wo Jana zuvor gesessen hatte.

    »Pass auf, gleich macht es Zoom und du bist auch weg«, sagte Tobias grinsend und schob sich ein Schokodrops in den Mund. Die Taschen seiner Cargohose schienen die gesamte Produktion der Süßwarenfirma seiner Eltern zu enthalten. Timo wartete auf Lisas Schimpftiraden, die sie über Schoko-Tobi ergießen würde wie einen heißen Topf Fett. Doch sie schwieg und weinte. Ein Druckmittel, mit dem Lisa viele ihrer Probleme regelte. Vor einem Jahr hatte er die Absicht dahinter noch nicht erkannt. Damals hatte sie ihn auf Knien angefleht, sie nicht zu verlassen. Seitdem klebte er an ihr und nutzte ihre Connections für seine schulische Karriere, zum fragwürdigen Stolz seines Vaters.

    »Ich kann nichts dafür, dass ich so bin. Ihr drängt mich doch dazu! Ich wollte nie die Bitch sein, die alle fertigmacht.«

    Diese Verzweiflung klang ehrlich. Timo wusste mit echten Tränen nicht umzugehen. Zum Glück nahm sich Schoko-Tobi der weinenden Lisa an, hockte sich zu ihr auf den Teppich und gab ihr ein Bonbon. Schokolade, ausgerechnet.

    Nun würde Lisa ihn ankeifen, ihr nicht zu nahe zu kommen und mit dem Zeug zu verschwinden, doch stattdessen nahm sie den süßen Trost an und bedankte sich.

    Die schüchterne Jana hatte sie alle beschimpft und war verschwunden. Lisa heulte sich die Augen aus und Tobias gab ihr von seinem Süßigkeitenvorrat ab, den Lisa dankend annahm. Drehten denn jetzt alle durch?

    4

    Bild fehlt!

    Keine Wände, keine Tür, keine Regale. Nichts, was Jana ertasten könnte. Nirgends Licht, alles still. In Jana wütete ein Sturm, genährt von Panik. Wo war sie?

    Keine Wände.

    Alle Ausgänge verschlossen und jede Ritze zugeklebt.

    In absolute Leere verdammt.

    Nichts.

    Zurückgelassen in der Dunkelheit.

    Allein.

    War sie tot?

    Jana blieb stehen, ließ die schmerzenden Arme sinken und sackte in sich zusammen, kauerte auf dem Boden, umklammerte ihre Beine, wiegte sich hin und her.

    Sie weinte. Die Angst fühlte sich übermächtig an. Die Verzweiflung schmeckte salzig. Tränen rannen an ihren Wangen hinab.

    »Lasst mich raus. Bitte. Lasst mich hier raus!«

    * * *

    Timo rollte den Teppich zwei, drei Lagen weiter aus, setzte sich schräg hinter Lisa darauf und strich über das Gewebe. »Komisches Teil.«

    »Find ich nicht«, widersprach Lisa.

    »Du bist sauer.«

    »Ich bin nicht sauer. Ich bin traurig und enttäuscht. Ich möchte nicht länger die Zicke sein.«

    René lachte. »Was haben sie denn mit dir gemacht?« Er tastete sich auf sie zu, strich über Lisas Kopf und verwuschelte ihre Frisur. Das hätte vor Kurzem einen Schreikrampf ausgelöst, jetzt seufzte Lisa nur. Ein leises Seufzen für das Heiligtum Nummer zwei – Nummer eins waren Lisas Fingernägel –, das René absichtlich durcheinandergebracht hatte. Timo schüttelte den Kopf. Was war hier los?

    René grinste, setzte sich neben Tobias und strich mit beiden Händen über den Teppich. Zärtlich, als sei es der Rücken seiner Freundin – Exfreundin. Sie hatte ihm kürzlich den Laufpass gegeben. Er hatte fremdgeknutscht, erzählten sich die Stimmen auf dem Schulflur.

    »Fühlt sich in der Tat merkwürdig an, metallisch.«

    »Wenn jetzt Stonehenge reinkommt, sind wir erledigt.« Vor Aufregung vergaß Tobias, sich Bonbons in den Mund zu stecken.

    »Ich mag sie«, sagte Timo, riss die Augen auf und wunderte sich über die Worte, die über seine Lippen gekommen waren. Alle drehten sich zu ihm um. »Wen?«, fragten die drei gleichzeitig.

    Das würde er niemals sagen. Und doch drängte dieses eine Wort aus ihm heraus. Er schlug die Hände vor den Mund. Nein! Niemand durfte das jemals erfahren. Timo atmete erleichtert durch, als Lisa überraschend das Thema wechselte. »Die Zicke zu spielen, ist anstrengend. Aber davon habt ihr keine Ahnung. Jana hatte recht. Tobias, du bist ein Fettkloß. Irgendwann macht es bumm und du bist weg.« Sie klatschte in die Hände, der Ton schallte von den Wänden und jagte Timo eine Gänsehaut über den Rücken.

    »Sicher.« Tobias blieb unbeeindruckt, zog ein Bonbon aus der Tasche, betrachtete es und schob es wieder zurück. Das hatte es auch noch nie gegeben.

    Eine Stimme flüsterte zu Timo.

    Du musst es sagen. Nur wer die Wahrheit spricht, erhält Zugang zu mir.

    Hastig drehte er sich um, Lisa knetete ihre Finger, René strich über den Teppich und Tobias sinnierte vor sich hin. Wer hatte das gesagt?

    »Sollen wir Wahrheit oder Pflicht spielen?«, fragte Lisa.

    »Was? Wie kommst du darauf?« Timo fühlte sich in die Enge getrieben und kämpfte gegen den Drang an, ein Wort auszusprechen, die Antwort auf eine Frage zu geben, die anscheinend niemand gestellt hatte.

    Ohne dass jemand eine Reihenfolge vorgab, sprachen sie nacheinander.

    »Ich fühl mich hilflos.« – René.

    »Ich will die Fabrik meiner Eltern nicht übernehmen.« – Tobias.

    »Du liebst mich nicht.« – Lisa.

    »Jana.«

    Die Wahrheit.

    Wahrheit schmerzt. René schrie als Erster.

    5

    Bild fehlt!

    Dieser Ort, ein Schwamm, der Janas Schluchzen und das stetige Bumm-Bumm-Bumm ihres Herzens aufsog und wieder über ihr auswrang. Es gab nur Jana und ihre Verzweiflung. Sonst nichts.

    Minuten, Stunden, Tage – sie hatte ihr Zeitgefühl verloren – weinte sie, schwieg, haderte. Doch dann ergänzte ein Rauschen Janas Gefühlskonzert. Sie stand langsam auf, lauschte, starrte in die Dunkelheit. Das Gesicht tränennass, die Hände feucht. Nässe durchweichte ihre Sneakers und tränkte den Saum ihrer Jeans.

    Wasser? Besser Cola, in ihrem Zustand brauchte sie Zucker. Vielleicht stand sie in einem Bad aus Zitronenlimonade. Milch? Jana hasste Milch. Sie kicherte. Verrückt.

    Jana bewegte sich keinen Schritt weiter, bückte sich, tauchte eine Hand in die Flüssigkeit, roch, schmeckte. Salzig.

    Ein schwacher, vom Boden ausgehender Schimmer durchbrach die Finsternis. Die Flüssigkeit leuchtete, ihr Körper spiegelte sich darin schemenhaft. Doch Schatten der Regale, die im Archiv gestanden hatten, gab es nicht. Keine Tür. Keine Wände.

    Das Wasser stieg Zentimeter für Zentimeter weiter.

    Sie würde ertrinken! Doch sie schrie nicht länger um Hilfe, das hatte sie aufgegeben. Keiner würde kommen und sie aus diesem Loch befreien. Aber ihr Herz klopfte noch schneller und Schwindel ließ sie taumeln.

    Im matten Licht der glänzenden Wasseroberfläche watete sie vorsichtig durch die salzige Flüssigkeit, die

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