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Wurzeln des Wahnsinns: Eine nordische Familiensaga
Wurzeln des Wahnsinns: Eine nordische Familiensaga
Wurzeln des Wahnsinns: Eine nordische Familiensaga
eBook299 Seiten4 Stunden

Wurzeln des Wahnsinns: Eine nordische Familiensaga

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Über dieses E-Book

Lassen Sie sich entführen in eine nordische Familiensaga über drei Generationen. In eine Welt, in der ein norwegischer Seemann jahrelang nach einer Frau sucht, die er nur aus seinen Träumen kennt. In eine Welt, in der der beste Freund eines Mädchens ein Elch ist, der im selben Moment wie sie auf einer Insel im Oslofjord geboren wird. Lesen Sie die Geschichte eines Mädchens, das so schön ist, dass es drei norwegische Männer in die Tiefen des Oslofjords treibt, und das schließlich den deutschen SS-Richter Helmut Dotzki heiratet, der sie gegen Kriegsende nach Deutschland schicken muss. Ruth Dotzki erlebt die Schrecken dieser Kriegsgeneration, sie wird von einem Russen vergewaltigt und schafft mit eisernem Willen und ihrem Baby die Flucht von Ostdeutschland nach Norwegen. Nach der Freilassung ihres Mannes muss sie jedoch in das verhasste Deutschland zurückkehren und sich diversen Desillusionierungsprozessen stellen. Sie bekommt fünf Kinder.
Regina Dotzki, eines dieser Kinder, Jahrgang 1957 und Psychologin, hat sich auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Familie gemacht. Dabei stieß sie auch auf einen geheimnisumwitterten Patenonkel...
Ich verspreche Ihnen nicht zu viel, wenn ich Ihnen verrate, dass Sie dieses Buch anfangen zu lesen und es Sie nicht mehr loslassen wird, denn man möchte gar nicht mehr aus dieser nordischen Welt voller Sagen und Mythen und unglaublicher Geschichten wieder auftauchen. Sie werden lachen, Sie werden weinen, Sie werden mit offenem Mund dasitzen und staunen, das ist wirklich ein Buch, das unter die Haut geht und keinen kalt lässt. Auf keiner einzigen Seite langweilt man sich, versprochen! Leicht zu lesen und uneingeschränkt empfehlenswert!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Jan. 2015
ISBN9783732318636
Wurzeln des Wahnsinns: Eine nordische Familiensaga

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    Buchvorschau

    Wurzeln des Wahnsinns - Regina Dotzki

    TEIL I

    GRETE

    Letztendlich ist die Existenz eines jeden Individuums einer Verkettung unzähliger glücklicher, tragischer oder zufälliger Ereignisse zu verdanken, die Fatalisten Schicksal, Christen Gottes Willen und Buddhisten Karma nennen. Wie sonst wäre der Lebensweg einer Großmutter zu erklären, die heimlich für einen schüchternen Dorfjungen schwärmte, der sich seinerseits fest vorgenommen hatte, ihr auf dem alljährlichen Dorffest endlich seine Liebe zu gestehen, und kurz vor dem Dorffest von einer Grippe niedergeworfen wurde? Hätte die Großmutter, wenn sie all das geahnt hätte, den Großvater geheiratet, der auf diesem Dorffest seine Chance ergriff?

    Vielleicht hat die Großmutter 20 Jahre lang in friedlicher Nachbarschaft neben dem ehemals schüchternen Dorfjungen gelebt, der wie sie fünf Kinder großzog und gelegentlich traurig über den Gartenzaun zu seiner alten Liebe schielte. Vielleicht hat auch sie gelegentlich traurig über den Gartenzaun geschielt und sich gefragt, weshalb er wohl nicht sie, sondern seine Ehefrau geheiratet hatte. Und vielleicht haben sie sich nach 30 Jahren friedlicher Nachbarschaft irgendwann einmal ihre damaligen Gefühle füreinander gestanden, herzlich darüber gelacht und sich insgeheim leise gefragt, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn er damals so kurz vor dem Dorffest nicht von einer Grippe niedergeworfen worden wäre.

    Wie viele Menschen in Deutschland haben ihre Existenz dem Zweiten Weltkrieg zu verdanken? Keiner hat sie je gezählt. Dieser grausame Zweite Weltkrieg hat so viele Menschenleben vernichtet und gleichzeitig so viele Menschen zusammengebracht, die sich sonst niemals begegnet wären.

    Ist es angemessen, eine Urgroßmutter moralisch zu verurteilen, weil sie sich von ihren Eltern dazu zwingen ließ, einen standesgemäßen Mann zu heiraten, obwohl sie den Gärtner liebte? Wenn die Urenkelin ernsthaft darüber nachdenkt, so wird sie ahnen, dass sie kein Recht auf moralische Entrüstung hat, denn sie hätte niemals das Privileg gehabt, moralische Entrüstung zu empfinden, wenn die Urgroßmutter allen Erwartungen zum Trotz mutig den Gärtner geheiratet hätte, weil sie selbst in diesem Falle gar nicht existieren würde.

    Manchmal ist das Schicksal weiser als wir selbst.

    Auch ich, Regina Dotzki, habe meine Existenz unter anderem dem Zweiten Weltkrieg, einer Reihe glücklicher, tragischer und zufälliger Ereignisse und nicht zuletzt den Eigenarten eines Mannes zu verdanken, den die Menschen für verrückt hielten, weil er mit ungewöhnlichem Starrsinn Jahre seines Lebens damit zubrachte, einem Traum nachzujagen.

    Wie viele Norweger war Olaf Olafsen Seemann. Froh, der Enge eines kinderreichen Elternhauses entronnen zu sein, heuerte er bereits im Alter von zehn Jahren als Schiffsjunge auf einem der vielen Handelsschiffe an. Er genoss die Männerkameradschaft auf See, arbeitete 16 Stunden am Tag und freute sich tagtäglich auf die stille Stunde an Deck, wenn alle Männer in ihren schmalen Hängematten schnarchten und er alleine an Deck saß, die Seeluft einatmete und die Sterne betrachtete. Auch schwerste Stürme überstand er ohne nennenswerte Übelkeit und wurde bald von der Mannschaft respektiert, wenn auch nicht unbedingt gemocht, denn Olaf Olafsen war schon als Kind ein wortkarger Einzelgänger, der auch in späteren Jahren eine einsame nächtliche Stunde an Deck unter den Sternen einem geselligen Besäufnis vorzog.

    Bis zu seinem 14. Lebensjahr verbrachte Olaf Olafsen sein Leben ohne nennenswerte Höhen und Tiefen. Wortkarg verrichtete er seine Arbeit und freute sich tagtäglich auf die stille Stunde an Deck, bevor er sich in die stickige Kajüte zu den schnarchenden Kameraden legte. Doch kurz vor seinem 14. Geburtstag hatte Olaf Olafsen einen Traum, der sein Leben verändern sollte.

    Zum ersten Mal sah er dieses Mädchen mit dem ausdrucksvollen Gesicht, den blonden Locken und den strahlenden blauen Augen so deutlich vor sich, dass er sogar am Tage nach diesem Traum nur die Augen schließen musste, um ihr Gesicht erneut in seine Erinnerung zu rufen. Von nun an träumte Olaf Olafsen in jeder Nacht von diesem Mädchen mit den blonden Locken und den strahlenden blauen Augen und im Laufe der Zeit nahmen seine Träume eine Intensität an, die er vorher nicht einmal ansatzweise empfunden hatte. Erfüllt von stummer Bewunderung betrachtete er dieses Mädchen und hielt es für das schönste Wesen unter der Sonne. Als sie ihm zum ersten Mal ein Lächeln schenkte, erwachte er mit einem Glücksgefühl, das er vorher nicht gekannt hatte. Weiße Zähne blitzten unter ihrem vollen Mund auf und ihre leuchtenden Augen in der Farbe von Vergissmeinnicht versprühten ein Feuerwerk an blauen Blitzen.

    Es sollte ein halbes Jahr vergehen, bis Olaf Olafsen es wagte, dieses wunderschöne Mädchen, das ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen besuchte und das ihm gelegentlich ein Lächeln schenkte, zu berühren, ihr sanft über die rosigen Wangen zu streichen und eine ihrer goldenen Locken um seinen Finger zu wickeln. Das Mädchen drehte sich nicht etwa um und ging, nein, es lächelte ihn erwartungsvoll an, und schließlich wagte er es, seine zitternden Lippen auf ihre zu drücken.

    Am Tag nach diesem Traum war Olaf Olafsen so aufgewühlt und unaufmerksam wie noch nie. Immer wieder glitten seine Augen zum fernen Horizont, bis er einen Boxhieb seines Chefs in den Rippen fühlte und dessen Stimme hörte: Junge, du sollst hier nicht träumen, du sollst arbeiten!

    Wer war dieses Mädchen? Olaf Olafsen kannte kein Mädchen, das Ähnlichkeit mit dem blondgelockten Engel hatte, der ihn seit einem halben Jahr Nacht für Nacht in seinen Träumen besuchte. Olaf Olafsen konnte nicht ahnen, dass das Mädchen, das ihn so intensiv beschäftigte, erst in jener Nacht geboren wurde, in der er zum ersten Mal von ihr geträumt hatte.

    Ein gutes halbes Jahr lang hielt Olaf Olafsen das Geschöpf aus seinen Träumen für seinen persönlichen Schutzengel, bis er feststellte, dass sein persönlicher Schutzengel einen weiblichen Körper hatte und somit kein Engel sein konnte. Nach und nach entdeckte er die zarte, helle Haut, die kleinen, festen Brüste, die blonden Flaumhaare im Nacken und letztendlich den weichen Schoß, in dem er die Grenzen seines Körpers vergessen konnte. Er erwachte und erschrak, als etwas Heißes und Klebriges in seine Hose floss, und wusste nicht, was geschehen war. Er wusste nur, dass diese Nacht, in der er das Mädchen in seinen Armen gehalten hatte, die schönste seines Lebens gewesen war, und dass er diesem anschmiegsamen Wesen mit den leuchtenden blauen Augen, von dem er nicht einmal wusste, wer es war, rettungslos verfallen war.

    Feuchte Träume, nannten es seine feixenden Kameraden. Auf einem Schiff blieb nichts verborgen. Sie alle kannten feuchte Träume und jeder Seemann hatte für feuchte Träume Verständnis. Aber keiner hatte Verständnis für einen pubertierenden Jungen, der nicht nur feuchte Träume hatte, sondern mit jeder Faser seines Seins ein Mädchen liebte, das es nur in seinen Träumen gab.

    Sie nahmen den verstörten Olaf während eines Landgangs mit zu einer erfahrenen Prostituierten, die ihm diese Flausen austreiben und ihn mit den Realitäten vertraut machen sollte, doch Olaf Olafsen versagte komplett. Niemals wagte er zu erzählen, dass er ratlos und verlegen vor dieser korpulenten, verlebten Prostituierten stand, die mit gespreizten Beinen und schlaffen, großen Brüsten auf einem schmuddeligen, parfümierten Bett lag, dass er ihr wortlos eine Geldmünze in die Hand drückte und ihr Zimmer wieder verließ. Olaf Olafsen konnte nicht mit dieser Frau schlafen, denn er liebte und begehrte nur eine.

    Wenn ich wenigstens wüsste, wie sie heißt, dachte er mit Tränen in den Augen, als er das Zimmer der Prostituierten wieder verließ. Wenn ich wenigstens wüsste, welchen Namen ich in ihr Haar flüstern soll, während sie in meinen Armen liegt und während ich das mache, was ich offensichtlich mit keiner anderen Frau machen kann. Aber ich kenne nicht einmal ihren Namen.

    Olaf Olafsen verschloss sich immer mehr in sich selbst und ging nicht einmal mehr mit seinen Kameraden zu Landgängen, sondern zog es vor, alleine auf dem Schiff zu bleiben. Nächtelang saß er an Deck, starrte auf die Sterne am Himmel und dachte immer wieder: Wo bist du? Wo auf dieser riesengroßen Welt bist du? Warum gibst du mir kein Zeichen, wo und wie ich dich finden kann?

    Aber das Wesen, das er Nacht für Nacht in seine Arme schloss, blieb selbst in seinen Träumen stumm. Auf all seine Fragen schenkte sie ihm nur ein etwas rätselhaftes Lächeln, schmiegte sich an ihn und küsste ihn und spätestens in diesem Moment vergaß er alle Fragen, die er ihr stellen wollte. Und nach jeder Nacht leuchteten seine braunen Augen in seinem harten, verschlossenen Gesicht. Tagsüber arbeitete Olaf Olafsen wie ein Besessener, um sich von seiner Passion abzulenken. Er wollte dieses Mädchen vergessen, aber er konnte es nicht, denn in jeder Nacht schlich sich das blondgelockte Wesen in seine Träume und machte ihn glücklich.

    Als Olaf Olafsen im Alter von 18 Jahren wieder einmal an Deck eines Schiffes saß und in die Sterne sah, die ihm auch keine Antwort auf seine brennenden Fragen geben konnten, kam ihm auf einmal ein Gedanke, der ihn starr machte vor Angst. Bislang hatte er sich nur mit der Frage beschäftigt, wie und wo er das Wesen finden konnte, das er so sehr liebte, aber nun fragte er sich zum ersten Mal, was er eigentlich tun sollte, wenn er das seltene Glück hatte, es tatsächlich zu finden. Irgendwo auf einer belebten Straße in Oslo zum Beispiel. Olaf Olafsen hatte keinerlei Erfahrung mit Mädchen, geschweige denn mit Strategien, sie anzusprechen. Er wusste nur von seinen Schiffskollegen, dass es unanständige Frauen gab, die es für Geld machten, und anständige Frauen, die man vorher heiraten musste. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er dieses Mädchen, sollte es ihm jemals begegnen, auf der Stelle heiraten würde, denn er liebte es mit jeder Faser seines Seins. Aber er hatte ebenfalls von seinen Schiffskameraden erfahren, dass kein anständiges Mädchen einen Mann heiratete, der ihm kein anständiges Heim und keine anständige Versorgung bieten konnte. Insofern war das Gros seiner männlichen Kollegen unverheiratet, denn das wenige Geld, das sie verdienten, gaben sie für Schnaps und für die unanständigen Frauen sofort wieder aus.

    Olaf Olafsen wollte dem Mädchen aus seinen Träumen ein anständiges Heim und eine anständige Versorgung bieten. In der Folgezeit wurde er so geizig, dass er sich bei seinen Mannschaftskameraden endgültig unbeliebt machte, aber mit 24 Jahren hatte er es geschafft: er besaß so viel Geld, dass er von der norwegischen Regierung eine große, bewaldete und namenlose Insel im Oslofjord kaufte, die nur etwa 200 Meter vom Festland entfernt war. Er hatte sogar noch so viel Geld übrig, dass er sich noch eine Axt, eine Säge und ein altes Ruderboot leisten konnte. Olaf Olafsen hatte in seinem ganzen Leben niemals mehr als einen Seesack besessen. Und während er stolz und glücklich auf seine Insel ruderte, dachte er, dass sein Traum nun zum ersten Mal zumindest ein Minimum an realistischen Dimensionen angenommen hatte. Hier auf seiner Insel würde er sein Haus bauen, in dem das Wesen aus seinen Träumen, sollte er es jemals finden, anständig leben konnte.

    Während er die Insel durchstreifte, war ihm, als ob das blondgelockte Mädchen in aufrechter Haltung an seiner Seite schritt.

    Wie wollen wir unsere Insel nennen? fragte der wortkarge Mann mit den merkwürdigen brennenden Augen, die gar nicht zu seinem harten, verschlossenen Gesicht zu passen schienen, während er alleine durch den dichten Wald seiner Insel streifte. Ein Sonnenstrahl brach auf einmal durch die Wolken und tauchte die Insel in ein goldenes Licht.

    Solöya? fragte er das Wesen aus seinen Träumen und ihm war, als ob es ein rätselhaftes Lächeln lächelte und leicht nickte.

    Olaf Olafsen nannte daraufhin seine Insel Solöya, Sonneninsel.

    Und an welcher Stelle wollen wir unser Haus bauen? fragte der einsame Mann weiter.

    Das Geschöpf an seiner Seite schüttelte immer wieder den Kopf, bis er eine Stelle auf einer Klippe über dem Oslofjord entdeckte. Erst dann nickte sie zustimmend und in ihren Augen brannte ein Feuerwerk an blauen Blitzen. Und noch am gleichen Tag fällte Olaf Olafsen seinen ersten Baum.

    Ein halbes Jahr lang baute er mit einer Besessenheit, die an Fanatismus grenzte, an seinem Haus, das für damalige Verhältnisse groß und komfortabel wurde. Er fällte Bäume, zersägte sie und nach und nach entstand ein stabiles, fensterloses Blockhaus, dessen Ritzen er mit Moos und Flechten füllte. Das Dach bedeckte er mit mehreren Schichten Birkenrinde, die kein Regenwasser hindurch ließ, und stach auf einer Waldlichtung Grassoden für ein Grasdach aus. In dieser Zeit ernährte er sich nur von den Fischen, die er fing, und von Beeren und Pilzen. Und als sich der Herbst dem Ende zuneigte, waren seine finanziellen Reserven endgültig aufgebraucht und er heuerte wieder auf einem Schiff an, das ihn in die Ferne trug.

    Im nächsten Sommer werde ich den Kamin und die Feuerstelle mauern, und wenn das Haus fertig ist, dann werde ich dich suchen, versprach er dem Mädchen, das ihn nach wie vor Nacht für Nacht anlächelte, sich in seine Arme schmiegte und ihm seine einsamen und kalten Nächte versüßte. Olaf Olafsen war glücklich. Er wusste nun, dass das Mädchen zumindest aus Norwegen stammen musste, denn weshalb sonst hätte sie seinem Vorschlag zugestimmt, ihre Insel Solöya zu nennen?

    Im nächsten Jahr war der Hausbau beendet. Zumindest konnte man in diesem Blockhaus auch die Winter verbringen, ohne zu erfrieren, denn ein großer, gemauerter Kamin und ausreichend Brennholz in der näheren Umgebung würden dafür sorgen, dass sie nicht erfroren.

    Und im Jahr darauf begann Olaf Olafsen gezielt mit seiner Suche, die drei Jahre dauern sollte. Zuerst suchte er die norwegischen Küstenorte ab. Er nahm gar nicht mehr wahr, dass die Passanten diesen großen, hageren Mann mit den brennenden braunen Augen, der ziellos durch die Straßen lief und alle jungen, blondgelockten Mädchen mit den Augen aufzufressen schien, für verrückt oder gefährlich hielten. Olaf Olafsen suchte, aber so sehr er auch suchte, er fand nicht, was er suchte. Gelegentlich schien ihm, als hätte er das Wesen aus seinen Träumen gefunden, das er unter Tausenden wiedererkannt hätte, aber bei näherer Betrachtung war immer irgendetwas anders: die Wölbung des Halses, die Art des Lächelns, die Augen, die keine Blitze aus blauen Funken versprühten.

    Als Olaf Olafsen im Herbst erneut ein Schiff bestieg, war er ein zutiefst verzweifelter Mann geworden. Zum ersten Mal in seinem Leben stellte er sich ernsthaft die Frage, was er tun sollte, wenn er das Mädchen aus seinen Träumen, für das er sein schönes und stabiles Haus gebaut hatte, nicht fand. Sollte er ein anderes Mädchen heiraten? Allmählich kam er in ein Alter, in dem ein Mann heiraten sollte. Die Blicke der Menschen auf den Straßen sagten ihm, dass er anfing, ein wenig wunderlich zu werden. Nein, er konnte kein anderes Mädchen heiraten, denn er liebte nur dieses eine. Vor jedem anderen Mädchen würde er in seiner Hochzeitsnacht genauso ratlos stehen wie seinerzeit vor der Prostituierten. Und er wusste nur, dass sie irgendwo in Norwegen lebte. Aber wo? Norwegen war groß.

    Und als Olaf Olafsen im nächsten Frühjahr zurückkehrte, beschloss er, das Mädchen aus seinen Träumen nicht mehr gezielt zu suchen, sondern seinem Herzen zu folgen. Er packte seine Hängematte und seinen Seesack auf den Rücken und marschierte gegen Norden ins Binnenland Norwegens, ohne Kompass, ohne Karte und ohne konkretes Ziel. Zwei Monate lang war er unterwegs, rastete abends an tosenden Wasserfällen, Fjorden oder Seen, bestieg Berge und kletterte wieder hinab und mit jedem Tag, der verging, wurde die Gegend unwirtlicher und karger. Staunend durchstreifte er die endlosen Weiten der Hardanger Vidda und mied größere Dörfer aus Angst, eingesperrt zu werden. Mittlerweile glich er einem Verrückten mit seinem langen Bart, der zerrissenen Kleidung und den braunen brennenden Augen, das wusste er selbst.

    Als er das Hallingdal erreichte, sagte ihm sein Herz, dass das Mädchen aus seinen Träumen in der Nähe sein musste. Ziellos ging er weiter über Berg und Tal und ließ sich auch die letzten Kilometer nur von seinem Herzen führen. Aber gelegentlich fragte er sich selbst, wohin sein Herz ihn bloß führte. Er schlug sich durch einsame, dichte Wälder, die seine Kleidung endgültig in Fetzen rissen, bis er die Baumgrenze hinter sich gelassen hatte und wieder freier atmen konnte. Irgendein Instinkt sagte ihm, dass er sich nun seine letzte intakte Hose und sein letztes intaktes Hemd anziehen und sich waschen und rasieren musste, bevor das Mädchen, das er seit 14 Jahren suchte, bei seinem Anblick schreiend davonlief.

    Und dann schritt er die letzten 500 Meter über eine Wiese, auf der sich zehn Kühe den Klee schmecken ließen. Sein Herz klopfte bis zum Halse. Sie war ganz in seiner Nähe, das spürte er. Und als er um die nächste Ecke bog, sah er die kleine Almhütte neben einem türkisgrünen Gebirgssee. Und an diesem See stand ein junges Mädchen, dessen blonde Locken bis zu den Hüften fielen und dessen Augen kleine blaue Blitze versprühten.

    Das Mädchen stand barfuß in einem ursprünglich weißen Unterkleid am Ufer des Sees und kühlte seine Arme in dem eiskalten Wasser. Und es lächelte dieses wunderschöne, etwas rätselhafte Lächeln. Olaf Olafsens Suche war beendet.

    14 Jahre lang hatte er sich diesen Moment immer wieder in seinen Phantasien ausgemalt. Aber er hatte niemals gewusst, wie er sich verhalten sollte, wenn er das Mädchen aus seinen Träumen tatsächlich einmal finden sollte. Auch jetzt überlegte er nicht, wie man sich am besten einem Mädchen näherte, das sich alleine wähnte, nur ein Unterkleid trug und seine erhitzten Wangen und Arme in einem Gebirgssee kühlte. Er ging auf sie zu und verbeugte sich.

    Guten Tag, sagte er. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er war ohnehin nie ein großer Redner gewesen.

    Das Mädchen sah ihn glücklicherweise eher überrascht als erschrocken an.

    Wer bist du?, fragte sie. Haben meine Brüder dich geschickt zum Käseabholen?

    Olaf Olafsen, stellte er sich etwas förmlich vor und verbeugte sich noch einmal vor dem Mädchen im weißen Unterkleid. Ich bin, nun ja, ich bin der Mann, den du heiraten wirst.

    Oh!, wunderte sich das Mädchen. Hat mein Vater das gesagt und dich deshalb hier auf die Alm hoch geschickt?

    Nein, wand sich Olaf Olafsen und wusste nicht mehr, was er sagen sollte.

    Das Mädchen warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Hast du denn überhaupt schon mit meinem Vater gesprochen?

    Nein, aber ich werde das natürlich sofort nachholen, stotterte Olaf Olafsen und wurde rot. Sobald ich weiß, wie dein Vater heißt und wo er wohnt.

    Du weißt nicht, wie mein Vater heißt und wo er wohnt?, fragte das Mädchen ungläubig.

    Nein. Olaf Olafsen holte tief Luft. Wie sollte er, der nie ein großer Redner gewesen war, diesem Mädchen in Kürze klarmachen, was er seit 14 Jahren für es empfand?

    Weißt du, ich bin nicht hier aus der Gegend, fügte er entschuldigend hinzu.

    Und du willst mich heiraten, ohne mich und meine Familie zu kennen?, staunte das Mädchen und schwieg eine Weile, bevor es fortfuhr: Weißt du was, Olaf Olafsen, wenn du schon ein Mädchen hier aus der Gegend heiraten willst, warum heiratest du dann nicht meine Schwester? Sie ist schon 18. Ich bin eigentlich noch gar nicht dran mit Heiraten.

    Nein, nein, widersprach Olaf Olafsen verlegen, dem das Gespräch völlig aus dem Ruder lief. Ich will nicht deine Schwester heiraten, ich will dich heiraten. Ich suche dich doch schon seit 14 Jahren.

    Und dann tat das Mädchen in dem Unterkleid etwas, das Olaf Olafsen nicht erwartet hatte: es setzte sich auf einen Felsen am Ufer des Sees, warf seinen Kopf in den Nacken und brach in ein schallendes Gelächter aus, das kein Ende mehr zu nehmen schien. Na, dann hast du ja Glück gehabt, dass du mich nicht schon vor 14 Jahren gefunden hast, stellte sie fest, als ihr Lachen allmählich ruhiger wurde. Ich bin nämlich vor 14 Jahren gerade erst geboren worden. Wenn du mich schon vor 14 Jahren gefunden hättest, dann hättest du nur ein Baby gefunden.

    Olaf Olafsen konnte sich der Heiterkeit und Lebensfreude dieses Mädchens nicht mehr entziehen und brach ebenfalls in ein befreiendes Gelächter aus. All die Anspannung der letzten Jahre fiel von ihm ab. Das Eis war gebrochen. Und zumindest hatte sie nicht nein gesagt. Mehr war für den Anfang nicht zu erwarten.

    Wie heißt du?, fragte er das Mädchen und sah es so liebevoll an, dass es zurücklächelte.

    Du weißt nicht einmal, wie ich heiße, aber du weißt, dass du mich heiraten willst? Du bist wirklich ein verrückter Mann, Olaf Olafsen.

    Bitte sage mir, wie du heißt!

    Ich heiße Grete.

    Grete! Endlich kannte er ihren Namen. Grete! Wie gerne hätte er Grete einfach in seine Arme genommen, ihren Namen geflüstert und sie geliebt wie jede Nacht in den letzten 13 Jahren. Er kannte jeden Quadratzentimeter ihres zarten Körpers, er wusste, welche Berührungen sie schätzte und welche nicht, und er liebte und begehrte sie. Aber er war Grete um 14 Jahre vorausgeeilt. Er erinnerte sich, dass ein halbes Jahr vergangen war, bevor er es gewagt hatte, sie zum ersten Mal zu küssen. Er erinnerte sich, wie glücklich er gewesen war, als er zum ersten Mal Gretes Wange gestreichelt und eine ihrer blonden Locken um seinen Finger gewickelt hatte. Nein, er würde Grete alle Zeit der Welt lassen, bis auch sie bereit war, ihn zu lieben.

    Als Grete einfiel, dass sie nur in einem Unterkleid und mit gelösten Haaren vor einem wildfremden Mann stand, eilte sie in ihre Almhütte zurück, zog sich ein Kleid an und flocht ihre Zöpfe wieder zusammen. Was für ein merkwürdiger Fremder, dachte sie. Er kam hier an, wollte sie heiraten und behauptete, sie seit 14 Jahren zu suchen. Zweifellos musste Olaf Olafsen ein Verrückter sein. Aber irgendetwas in seinen Augen sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. Grete wusste, dass Menschen durch Kleidung oder durch Worte lügen oder täuschen konnten. Sie hatte gelernt, dass nur die Augen der Spiegel der Seele waren. Olaf Olafsen mochte verrückt sein, aber er war nicht böse und würde ihr nichts zuleide tun, dafür lag zu viel Wärme und zu viel Güte in seinen Augen.

    Grete wurde als viertes von zwölf Kindern geboren, die das Glück hatten, die eisigen Winter im Hallingdal zu überleben. Fünf ihrer Geschwister hatten den ersten Winter nicht überstanden. Im Hallingdal überlebten nur die Stärksten. Aus diesem Grunde wurde jedes Neugeborene im Hallingdal gleich nach seiner Geburt in einen Bottich mit Eiswasser getaucht. Und wenn es diese Prozedur überlebte, hatte es relativ gute Chancen, auch den ersten Winter zu überleben.

    Gretes Familie lebte auf einem einsamen Hof und betrieb Landwirtschaft. Sie besaßen zehn Kühe, von deren Wohlergehen die Existenz der Familie abhing. Den Sommer verbrachten die Kühe auf der Alm und Grete hatte in diesem Jahr zum zweiten Mal die Arbeit auf der Alm übernommen. Mit Hilfe ihrer Brüder hatte sie die Kühe auf die Alm getrieben und lebte nun alleine

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