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Der helle Wahnsinn beginnt: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin
Der helle Wahnsinn beginnt: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin
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eBook593 Seiten8 Stunden

Der helle Wahnsinn beginnt: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin

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Über dieses E-Book

Wenn Sie glauben, dass es Sex and the City nur in New York gibt, dann haben Sie sich geirrt, vergleichbare Phänomene gibt es auch in der tiefsten schwäbischen Provinz! In diesem leicht lesbaren, unterhaltsamen Frauenroman geht es um die bewährten Themen Liebe, Beziehungen, Sex, es geht auch um Freundschaft, um junge Frauen, die ihren Weg suchen, und um erste berufliche Erfahrungen nach dem Studium.

Ganz alltäglich ist das Leben der angehenden Psychologin Regina Dotzki nun auch wieder nicht. Sie lebt in einem Haus in der Tübinger Altstadt zusammen in einer WG mit zwei Freundinnen, der schönen und unnahbar wirkenden Marianne, ebenfalls Psychologie-Studentin, und ihrer temperamentvollen Freundin Tina aus Kindertagen, die Lehramt studiert. Außerdem leben in dem Haus noch zwei andere Wohngemeinschaften, Edgar und Winfried, zwei zerstrittene Medizinstudenten , sowie die lesbische Kunststudentin Roswitha mit ihrer Geliebten Susanne und dem Vater ihres dreijährigen Sohnes, Franz. Alle drei Wohngemeinschaften haben ein herzliches Verhältnis untereinander und lieben es, bei gemeinsamen Essen ihre Beziehungsangelegenheiten offen und äußerst vergnügt durchzudiskutieren.
Regina hat zwei Männer: Eine feste Beziehung zu dem liebevollen Biobauern Sebastian und ihren hocherotischen Freitags-Lover Armin, einem Therapeuten für drogenabhängige Jugendliche, der ebenfalls eine feste Beziehung hat. Nach einigen Turbulenzen endet dieser Roman damit, dass Regina nach Südostasien fährt, um den Sextourismus zu erforschen, und sich geradezu darauf freut, ein Jahr lang von allen Männergeschichten Abschied zu nehmen.
Zum Teil ist das Buch eine rabenschwarze Satire: Die psychosoziale Szene wird von einer Insiderin, die scharf beobachtet, karikiert und Männer unterschiedlichster Art gnadenlos seziert. Das Buch besteht aus vielen skurrilen Geschichten und witzigen Dialogen, gewürzt mit ein bisschen Mystik und ganz viel Psychologie.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Mai 2016
ISBN9783734530111
Der helle Wahnsinn beginnt: Episoden aus dem Alltag einer Psychologin

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    Buchvorschau

    Der helle Wahnsinn beginnt - Regina Dotzki

    Kapitel 1: Jedes Ende ist immer auch ein Anfang

    Die heftigsten Herzklopfen der letzten Jahre löste Thomas bezeichnenderweise in der Nacht in mir aus, in der ich ihn verließ. Wie verließ man seine Jugendliebe? Mit der man schon zusammen die Schulbank gedrückt hatte und die der Schwarm aller Mädchen und gleichzeitig der Schrecken aller Lehrer gewesen war. Den Jungen, den ich irgendwann betrunken genug in einem Jugendzentrum erwischt hatte, um ihn zu einer wilden Knutscherei mit mir auf dem mit Zigarettenkippen übersäten Betonboden des Jugendzentrums zu motivieren. Und der danach gesagt hatte: Ach, irgendwie bist du ganz niedlich! Thomas, mein langhaariger, schöner und kritischer Rebell, in den ich die ersten Jahre zuerst mit aller Sehnsucht, zu der ein pubertierendes Mädchen in der Lage ist, und dann glücklich und heftig verliebt war.

    Thomas studierte mittlerweile Jura. Aus meinem sozialkritischen Rebellen war ein Langweiler auf dem Sofa geworden, mit dem ich abends gähnend vor dem Fernseher saß. Unsere sozialkritischen Diskussionen verkümmerten angesichts der Frage, ob es zu den Würstchen, die natürlich ich zuzubereiten hatte, nun Kartoffelbrei (mochte Thomas nicht) oder Pommes geben sollte.

    Ein weiteres Ärgernis waren die Berge an Geschirr und Wäsche und die vorwurfsvollen Blicke, die mich wegen dieser Berge an Geschirr und Wäsche zuhause erwarteten, und irgendwann dachte ich, dass ich mit meinen 20 Jahren eigentlich zu jung dafür war, um schon das Leben einer frustrierten Ehefrau zu führen.

    Zumal ich angefangen hatte zu studieren und feststellen musste, dass fast alle Studenten ein weitaus amüsanteres Leben als ich hatten. Bei Besuchen von Kommilitonen lümmelte Thomas schlecht gelaunt und wortkarg auf dem Sofa herum, und nach dem Statistiktutorium, das um 18:00 Uhr endete, konnte ich niemals mit den anderen in eine Kneipe gehen, weil Thomas ungnädig wurde, wenn um 19:00 Uhr kein Abendessen auf dem Tisch stand.

    Wie verließ man seine Jugendliebe, mit der man vier Jahre zusammen gewesen war und mit der man ein Jahr zusammengelebt hatte? Vor allem, wenn es keinen einzigen logischen Grund dafür gab? Thomas war attraktiv, er war intelligent, er war umgänglich, er soff nicht, schlug mich nicht und betrog mich nicht. Außerdem war damals schon abzusehen, dass er Karriere machen und eine Familie gut würde versorgen können. Aber ich, ich war depressiv geworden in diesem Jahr des Zusammenlebens. Warum das so war, wusste ich auch nicht. Obwohl ich schon zwei Semester lang Psychologie studiert hatte. Und auch im zweiten Semester Psychologie fiel mir nichts Besseres ein als zwischen 2:00 und 3:00 Uhr nachts mit zitternden Knien, flatternden Händen und assistiert von einer batterieschwachen Taschenlampe meine Reisetasche zu packen, in panischem Lauschen auf Thomas‘ leicht schnorchelnden Atemzüge. Zwischen 2:00 Uhr und 3:00 Uhr nachts hatte Thomas seine Tiefschlafphase, das wusste ich, und um 3:00 Uhr nachts sollte Tina, meine beste Freundin, mich vor der Haustür abholen.

    Was war ein Frauenleben schon Wert ohne eine beste Freundin? Ich hatte Tina und Tina hatte mich.

    Die Taschenlampe fiel mir vor Schreck aus den Händen, als ich auf einmal die verschlafene Stimme von Thomas hörte: „Was machst du da?"

    „Ich ziehe aus", flüsterte ich mit tonloser Stimme, wie ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte.

    „Du ziehst aus, wohin denn?" Die verschlafene Stimme klang glücklicherweise eher erstaunt als wütend.

    „Erstmal zu Tina in die WG."

    „Und warum?"

    Mir schlotterten dermaßen die Knie, dass ich mich auf der Bettkante niederlassen musste. „Weil ich nicht mehr mit dir zusammenleben möchte."

    Das Unaussprechliche war gesagt. Thomas war zu meinem Glück wirklich in erster Linie überrascht. „Was willst du denn bei Tina? Hast du etwa auf einmal lesbische Neigungen entdeckt? Dass Männer immer annehmen mussten, ein Auszugsgrund könne nur ein sexueller sein! „Ich weiß, ich war in der letzten Zeit nicht besonders aufmerksam und nett zu dir, nicht so lieb, wie du es verdienst, sagte Thomas schuldbewusst. „Vielleicht habe ich dir nicht oft genug gesagt, dass ich dich wirklich lieb habe. Aber das habe ich. Ehrlich!"

    Er zog mich in seine Arme. Ich weinte an seiner Schulter. Es war doch schwerer als erwartet. „Ach nein, das ist es nicht, schluchzte ich, „es hat mit dir wirklich nicht viel zu tun. Ich möchte nur einfach mal wieder frei sein.

    „So, so, fand Thomas wieder zu seinem alten Zynismus zurück, „die junge Dame möchte sich also ein bisschen Luft von Abenteuer und Freiheit um ihr Näschen wehen lassen?

    „Richtig", sagte ich trotzig, stand auf und packte weiter.

    „Ich weiß genau, in spätestens einer Woche bist du wieder hier", gähnte Thomas, bevor er wieder in einen vertrauensvollen Tiefschlaf sank, der mich regelrecht empörte.

    Was wäre gewesen, wenn Tina um 3:00 Uhr nachts doch nicht vor der Haustür auf mich gewartet hätte, in ihrem quietschgelben Renault? Wahrscheinlich wäre ich wieder in mein eheähnliches Gefängnis zurückgegangen. Aber nun konnte ich nicht mehr zurück. Auf Tina war Verlass. Es war schon immer Verlass auf sie gewesen. Und das war das Schöne an besten Freundinnen!

    Tina war die erste Freundin, die ich als halbnorwegisches Kind im Schwabenland gehabt hatte. Eines Tages stand sie in unserer zweiten Klasse, mit einem roten Anorak, wilden dunklen Locken und übermütig leuchtenden, riesengroßen braunen Augen. Sie wurde von unserer Klassenlehrerin vorgestellt.

    „Kinder, das ist Tina, sie kommt nun in unsere Klasse. Seid bitte nett zu ihr, ja? Tina, am besten setzt du dich neben Regina, da ist noch ein Platz frei."

    Natürlich musste sie sich neben mich setzen und natürlich war neben mir noch ein Platz frei, denn ich war das einzige Kind in der Klasse, das alleine saß. Keiner wollte neben mir sitzen und keiner wollte mit mir befreundet sein, und diese Erkenntnis, die mir erst allmählich dämmerte, hatte aus mir ein schüchternes und einsames Kind gemacht. Zu groß waren die Unterschiede zwischen einer schwäbischen und einer norwegischen Erziehung. Meine Mutter hatte uns Kindern schon aus diesem Grunde den Kindergarten erspart, aber den Schulbesuch konnte sie natürlich nicht vermeiden.

    Schwäbische Mädchen trugen Zöpfe und Kittelschürzen über ihren Kleidern, die Kittelschürzen legten sie nur sonntags ab, und sonntags wurden sie mit Sonntagskleidchen aus Samt, weißen Kniestrümpfen und Lackschuhen herausgeputzt. Und ich hatte in meinem ganzen Leben keine einzige Kittelschürze, kein einziges Samtkleid und keinen einzigen Lackschuh besessen. Straff geflochtene Zöpfe trug ich auch nicht, sondern ein Gewirr aus Locken auf dem Kopf. Aber es war nicht das allein.

    Meine Mutter wurde niemals müde, über die Unarten der Deutschen zu staunen, die beispielsweise ihre schönen Holzböden mit Linoleum verschandelten. In jeder Wohnung, die wir bewohnten, hatte sie als erstes entschlossen sämtliche Linoleumböden entfernt und die Holzdielen geschliffen und lackiert. Auch besaßen wir keine schweren Eichenholzschrankwände wie alle schwäbischen Nachbarn, die etwas auf sich hielten, sondern helle skandinavische Holzmöbel, die in unseren Breitengraden erst sehr viel später modern wurden. Wir gingen auch nicht in die Kirche, und jedes Mal, wenn ich einen Kindergottesdienst besuchen wollte, gab es heftige Kämpfe und Tränen. Brave Schwaben gingen jeden Sonntag in die Kirche. Und die Unordnung bei uns zuhause übertraf bei weitem die Unordnung eines schwäbischen Durchschnittshaushalts, in den die schwäbischen Hausfrauen 90 Prozent ihrer gesamten Energie und ihres gesamten Ehrgeizes einfließen ließen. Bei meiner Mutter waren es allerhöchstens zehn Prozent. Schwaben hatten ihre festen Vorstellungen über Ordnung und Sauberkeit und waren diesbezüglich ziemlich intolerant. Sie legten tagtäglich Paradekissen und Bettdecken zum Lüften in die Fenster, die sie niemals benutzten. Sie schützten ihre Sofas mit Plastikbezügen, die sie nur sonntags abnahmen. Für meine Mutter waren sie wie unbekannte, aber faszinierende Insekten, bei deren Beobachtung man viel Spaß haben konnte.

    Eines Tages wagte es meine Mutter, an einem Montag ihre Flickenteppiche auszuklopfen, und sofort gingen sämtliche Fenster in der Nachbarschaft auf. „Was machet Sie denn do?"

    Meine Mutter lachte, wie immer. „Ich klopfe Teppiche. Heute habe ich so richtig Lust dazu."

    „Sie kennet doch am Montag net die Teppiche klopfa! Montag isch doch Waschtag! Mir hänget glei onser Wäsch uff, des isch doch a ganz gewaltige Sauerei, was Sie do machet. Also wenn Sie bei ons läba wellet, dann müsset Sie sich au a bissle nach ons richta."

    Solche Szenen erlebten wir öfter. Wir wurden in der Nachbarschaft regelrecht ausgegrenzt. Damals gab es noch nicht viele Ausländer in Deutschland. Und Urlaub machte damals auch noch keiner. Toleranz gegenüber anderen Ländern und Sitten war etwas, was damals im Schwabenland einfach nicht existierte.

    Meine Mutter hatte als Ausgleich für die tagtäglichen Schikanen, denen sie ausgesetzt war, ihren Norweger-Club, den sie einmal pro Woche besuchte. Im Grunde war dieser Norweger-Club eine Selbsthilfegruppe für norwegische Ehefrauen deutscher Männer. Dort lachten Woche für Woche, Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt zehn norwegische Frauen über die deutschen Gepflogenheiten, und meine Mutter kehrte immer sehr vergnügt und mit vielen Geschichten von diesen Treffen zurück.

    Ihre Freundin Astrid hatte es beispielsweise besonders schwer mit ihrer schwäbischen Schwiegermutter. Die Schwiegermutter besuchte sie sehr häufig und Norweger waren sehr gastfreundlich. Wenn ein Gast kam, ließen sie alles stehen und liegen und widmeten sich ihrem Gast. Astrid also hatte nach dieser alten norwegischen Tradition stets zu ihrer Schwiegermutter gesagt: „Oh, wie schön, dass du kommst! Ich wollte gerade einen Kaffee kochen. Trinkst du eine Tasse mit?"

    Die Schwiegermutter hatte dieses Treiben mit wachsendem Unbehagen verfolgt und war Tag für Tag zu wechselnden Tageszeiten bei Astrid erschienen, bis sie triumphierend in der gesamten Nachbarschaft verkündete: „Also mei Schwiegertochter, die Aschtrid, die isch so faul, des glaubt ma net. Die hockt da ganze Tag bloß rum ond trinkt Kaffee."

    Und danach war Astrid sowohl bei der Schwiegermutter als auch in der Nachbarschaft unten durch. Es kostete sie Jahre, bis sie ihren ramponierten Ruf einer kaffeetrinkenden Schlampe wieder restaurieren konnte. Nach langen Diskussionen mit dem Norweger-Club empfing Astrid in Zukunft ihre Schwiegermutter immer nur noch in der Kittelschürze, die sie stets griffbereit hatte, und sagte: „Oh je, du kommst wirklich gerade etwas ungelegen, ich bin gerade am Bügeln/Wäscheaufhängen/Putzen."

    Und die Schwiegermutter sagte daraufhin stets hoch befriedigt: „Ja, Aschtrid, i will di au gar net störa, schaff bloß weiter!"

    Unsere Nachbarn hatten eine herrliche Terrasse mit beeindruckenden Blumenrabatten. Eines Tages sagte meine Mutter zu dieser Nachbarin: „Sie haben so eine herrliche Terrasse, ich beneide sie so sehr darum! Aber verraten Sie mir doch bitte, warum Sie Ihre Terrasse niemals benutzen!"

    Die schwäbische Nachbarin sah sie völlig konsterniert an. „Was glaubet Sie, was die Nachbarn saga täta, wenn i hier tagsüber faul uff da Terrass hocka tät!"

    Und meine Mutter lachte und lachte über diese merkwürdigen, emsigen Insekten namens Schwaben. Einen größeren Unterschied als den zwischen meiner Mutter und einer schwäbischen Hausfrau konnte man sich wirklich kaum vorstellen. Meine Mutter liebte es, sich hübsch und auffällig zurecht zu machen, und die schwäbischen Hausfrauen trugen mit einer Begeisterung, die schon an Fanatismus grenzte, ihre schäbigen Kittelschürzen.

    „Sie sehen alle aus wie Putzfrauen!, kommentierte meine Mutter diese Gepflogenheit. „Ich verstehe einfach nicht, wieso all diese Frauen keinen Spaß daran haben, nett auszusehen. Und ich sage euch, solange ich lebe, werdet ihr niemals eine Kittelschürze tragen!

    Wir trugen niemals Kittelschürzen, wir trugen niemals Zöpfe und wir trugen auch sonntags niemals Samtkleider mit schwarzen Lackschuhen.

    „Ihr seid doch Kinder!, regte sich meine Mutter auf, als ich sie einmal darum gebeten hatte, mir doch auch ein Samtkleid und schwarze Lackschuhe zu kaufen. „Es ist doch absoluter Irrsinn, kleine Mädchen sonntags so herausputzen! Ihr seid Kinder und ihr sollt spielen und euch dreckig machen!

    Kurzum: Jeder sah uns schon von weitem an, dass wir keine braven Schwabenkinder in der fünften Generation waren, sondern irgendwelche obskure und suspekte eingewanderte Exoten.

    Im Rahmen meiner Familie fühlte ich mich durchaus wohl, ich war dort ein fröhliches und freundliches Kind, aber außerhalb dieses geschützten Rahmens war ich damals sehr schüchtern und einsam. Gelegentlich lud ich in der ersten Klasse, als ich noch nicht begreifen konnte, weshalb keine meiner Mitschülerinnen mit mir befreundet sein wollte, ein Mädchen zum Spielen zu mir nach Hause ein. Die Mädchen erschienen stets in Begleitung ihrer schwäbischen Dragonermütter, die unsere Wohnung mit Argusaugen inspizierten und daraufhin triumphierend zu meiner Mutter sagten: „Also bei ons ko ma vom Fußboda essa!"

    Meine Mutter lachte dann sehr erfrischend und meinte, in ihrer Familie sei es nicht üblich, vom Fußboden zu essen, wir hätten einen Esstisch. Erst der Norweger-Club klärte sie über die Bedeutung dieser Worte auf. Und die Mädchen kamen nie wieder.

    Im Gegensatz zu meiner Mutter, deren freier Erziehungsstil, deren freundlicher Einrichtungsstil und deren unkonventionelle Lebensweise erst in späteren Jahren modern werden sollten, besaß ich nicht das nötige Selbstbewusstsein, um mich wie sie über all die schwäbischen Eigenarten nur mokieren zu können. Meine Mutter lebte zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber über diese Tatsache, die weniger starke Menschen todunglücklich gemacht hätte, konnte sie sich glücklicherweise amüsieren.

    Ich dagegen litt sehr darunter, ein Außenseiter zu sein. Ich hatte das große Glück, noch drei Geschwister zu haben, die meine Einsamkeit milderten. Wir hielten in dieser fremden, kalten Welt zusammen und liebten uns sehr, vielleicht sind wir auch aus diesem Grunde heute noch eng verbunden. Aber ich sehnte mich unendlich nach einer Freundin. Und aus diesem Grunde schloss ich Tina, die die gleichen wilden unbezopften Locken hatte wie ich und die wie ich keine Kittelschürze trug, auch sofort ins Herz.

    Tina strahlte mich an, als sie neben mir saß. Ich lächelte schüchtern zurück. So ganz traute ich meinem Glück noch nicht.

    „Willst du meine Freundin werden?", flüsterte sie mir zu.

    „Ja, gerne", flüsterte ich zurück und Freudentränen stiegen mir in die Augen. Noch niemals hatte ich aus einem schwäbischen Kindermund diese Zauberworte vernommen.

    Tina und ich wurden unzertrennlich. Ihre Eltern waren für Schwabeneltern erstaunlich tolerant und unkonventionell, sie duldeten unsere Freundschaft nicht nur, sondern förderten sie auch. Sie waren die ersten Schwaben, die mich und meine Familie schätzten und in der Nachbarschaft verteidigten. Tina und ich versteckten uns kichernd in irgendwelchen Büschen, wir schrieben voneinander die Hausaufgaben ab, als Teenager liebten wir es, uns zu verkleiden und an verschiedenen Abenden verschiedene Frauenrollen zu spielen und auszuprobieren, welche bei den Männern am besten ankam. Wir tauschten unsere ersten Liebeserfahrungen aus und lachten in einem Jahr so viel wie manche Menschen nicht innerhalb eines gesamten Lebens.

    Tina war schon als Kind ungewöhnlich hübsch und temperamentvoll. Sie konnte vor Lachen auf dem Boden liegen, sie konnte mich aber auch ganz ernst in die Arme schließen und sagen: „Wir zwei, Regina, wir haben uns gesucht und gefunden! Du musst mir schwören, dass ich immer deine beste Freundin bleiben werde."

    Tina konnte heftige Wutanfälle bekommen, wenn etwas nicht nach ihren Kopf lief, sie konnte auch Streit anfangen und schmollen, aber wir stritten uns niemals lange. Und es war für uns beide vollkommen klar, dass uns eine Freundschaft verband, die einmalig und für uns beide etwas ganz Besonderes und Kostbares war. Und die auch ein Leben lang halten würde.

    Als wir älter wurden, verliebten sich alle Männer in Tina, aber nicht einmal das störte mich, ich konnte es sogar verstehen, denn auch ich liebte sie über alles. Wie konnte man auch dieses fröhliche, lebenssprühende Persönchen, das sie war, nicht lieben?

    Und natürlich war es Tina, die mich um 3:00 Uhr in dieser denkwürdigen Nacht abholte, Tina, meine beste, meine allerbeste Freundin.

    „Na, wie war’s?, fragte sie grinsend und sah mich etwas besorgt von der Seite an. „Du siehst fix und fertig aus!

    „Bin ich auch!, stöhnte ich und ließ mich erschöpft auf den Beifahrersitz fallen. „Er ist aufgewacht, als ich gerade am Packen war.

    „Ach du Scheiße!, rief Tina aus. „Aber weißt du was: Ob er es jetzt schon weiß oder erst morgen früh, wenn er aufwacht, letztendlich ist es doch egal, oder? Und was hat er gesagt? Hat er getobt?

    „Nein, das nicht, er war eigentlich eher überrascht. Meinte, ich wäre in einer Woche eh wieder da, hat sich umgedreht und weitergeschlafen!"

    Tina lachte ihr schallendes Lachen und warf ihre prachtvollen dunklen Locken nach hinten. „Okay, dann hat er dir den Abschied ja nicht besonders schwer gemacht. Aber du, du bist trotzdem traurig, oder? Ist auch normal. Wenn du nicht traurig wärst, dann wärst du herzlos. Und das bist du nicht."

    Sie schloss mich fest in die Arme und ich weinte ein wenig an ihrer Schulter.

    „Welcher Tag ist heute, Regina?", fragte Tina, als die Intervalle zwischen meinen Schluchzern etwas größer wurden.

    „Heute ist der 1. Juli."

    „Der 1. Juli, okay! Von jetzt an werden wir immer den 1. Juli als den Tag deiner zweiten Geburt feiern. Und jetzt stoßen wir erst einmal an. Aber außer Sichtweite dieses Hauses."

    Schwungvoll startete sie ihren kleinen Renault und fuhr mit mir um eine Ecke, dort hielt sie abrupt an und holte von den Rücksitzen einen Piccolo Sekt und zwei Sektgläser.

    „Auf die Freiheit, Regina!"

    „Auf die Freiheit, Tina! Ich meine das wirklich so, Tina, so schnell lasse ich mich auf keinen Mann mehr ein!"

    „Okay, cara mia, ich gebe dir drei Monate, ich kenne dich doch!"

    Wir sahen uns in die Augen und ich begann ganz allmählich wieder das Pflänzchen der Lebensfreude in mir zu fühlen, das den unbestreitbaren Drang hatte, ganz schnell zu wachsen.

    Diesen Schritt bereute ich tatsächlich nie. Es traf sich gut, dass aus Tinas WG mitten in der Altstadt Tübingens zum Semesterende ein Kommilitone auszog, der nach Göttingen wechselte, somit konnte ich fast übergangslos dessen WG-Zimmer übernehmen.

    Nach zwei Wochen wagte ich mich zum ersten Mal in Tinas Begleitung wieder in unsere alte Wohnung, mit der ängstlichen Befürchtung, Thomas könnte sich vor lauter Kummer über der Badewanne erhängt haben. Aber daran hatte Thomas nicht gedacht. Er hatte stattdessen die gesamte fünfstellige Summe, die ich von meiner Oma geerbt hatte, von unserem gemeinsamen Sparbuch abgehoben, und war erst einmal drei Monate lang kreuz und quer in einem flotten, alten Straßenkreuzer durch die USA gefahren, was immer schon ein Traum von ihm gewesen war. Kein Mensch konnte damals verstehen, dass ich darüber nur lachte und sagte, meine Freiheit sei mir weitaus mehr wert. Ich heulte dem Geld keineswegs hinterher, sondern genoss mein Leben in vollen Zügen, das durch diesen Schritt wieder bunt, amüsant, spannend und interessant geworden war.

    Drei Monate nach der Rückkehr von Thomas aus den USA zog eine sehr hübsche Krankenschwester mit weniger Autonomiebestrebungen als ich bei ihm ein und sein Sohn wurde Jahre später an meinem Geburtstag geboren. Ob das ein Zufall war?

    Und kurze Zeit später, als der dritte WG-Bewohner auszog, weil er mit seiner Freundin zusammenziehen wollte, bereicherte Marianne Tinas und mein WG-Leben. Marianne war eine Kommilitonin von mir und zweifellos eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen hatte. Sie hatte vom ersten Tag an, als ich sie an der Universität unter den vielen Kommilitonen entdeckt hatte, etwas an sich gehabt, das mich mit Sympathie einerseits und mit Melancholie andererseits erfüllt hatte. Anders als Tina, die mitten im Leben stand und es an den Hörnern packte, wirkte Marianne immer, als schwebe sie über der Welt und als berühre sie niemals etwas wirklich. Sie wirkte so hilflos und verletzlich und gleichzeitig so wunderschön wie ein schwebender Botticelli-Engel, als sie damals ziemlich verloren im Hörsaal stand, dass ich mich bemüßigt fühlte, mich ihrer etwas anzunehmen. Wir freundeten uns wohl aufgrund der bekannten Anziehung der Gegensätze schnell an und es stellte sich heraus, dass Marianne zwar distanziert und unnahbar wirkte, aber auch von einer fast erschreckenden Naivität und Zutraulichkeit war, wenn sie sich entschlossen hatte, die Nähe von jemand anderem zuzulassen.

    Am besten fuhr man mit ihr, das hatte ich in unserem Zusammenleben gelernt, wenn man sie in ihren völlig geistesabwesenden Phasen nicht störte, denn meist grübelte sie dabei über irgendein sich als unlösbar erweisendes Problem nach, und einfach zu warten, bis sie wieder in ihrer sanften, ernsten und freundlichen Art auf die Erde zurückkehrte und sich dann zutiefst darüber wunderte, wenn sie den Rest der Welt durch ihren tagelangen inneren Rückzug, der auch meistens ungespülte Tellerberge bis an die Decke nach sich zog, verärgert hatte.

    Das Zusammenleben mit mir und Tina tat Marianne allerdings mehr als gut. Angesichts der Dramatik in unserem Leben hatten sich ihre autistischen Anwandlungen ziemlich reduziert, denn sie empfand es wohl als allzu schade, dadurch all die aufregenden Geschehnisse in unserer Wohnung zu verpassen, so dass sie sich allmählich der Welt zuwandte.

    Tina behielt übrigens nicht ganz Recht. Es sollte exakt fünf Monate dauern, bis Amors Pfeil einen Schneeball von mir auf die Nase eines höchst attraktiven männlichen Wesens lenkte.

    Dieses denkwürdige Ereignis geschah auf einer bis dahin eher mittelmäßig verlaufenden Feier in der Universität. Auf einmal kam ein Student hereingestürmt und schrie gegen die laute Musik an: „Leute, draußen schneit es! Und wie!"

    Alle rannten aus dem Gebäude und im Nu entstand eine spontane Schneeballschlacht, in deren Verlauf mein besagter Schneeball auf der Nase eines sehr hübschen jungen Mannes landete, der bei dieser Aktion Amors seine Brille verlor.

    „Tut mir wirklich leid", sagte ich zerknirscht zu dem großen Mann mit den sanften grünen Augen und den blonden Locken und half ihm bei der Suche nach seiner Brille im tiefen Schnee auf dem Boden.

    „Es wäre nicht schlecht, wenn wir die Brille wiederfinden würden, sie war nämlich recht teuer", waren die ersten Worte, die Sebastian zu mir sprach, und er sah mich dabei lange nicht so entzückt an wie ich ihn. Er hatte, wie gesagt, seine Brille noch nicht auf.

    Wir fanden die Brille nach einer halben Stunde, in der wir grabend durch den Schnee gekrochen waren, sie war sogar noch heil geblieben. Sebastian setzte sie auf, sah mich lange an und seine Blicke wurden von Sekunde zu Sekunde freundlicher.

    „Komm, lass uns reingehen und noch ein bisschen tanzen, du bist klatschnass und ich auch. Und dabei können wir uns ein bisschen aufwärmen", schlug er schließlich vor. Und wir gingen hinein und tanzten wie die Verrückten, um uns aufzuwärmen. Neue deutsche Welle: Deine blauen Augen!

    „Du hast blaue Augen, was?"

    „Genau", grinste ich.

    „Warte mal, ich muss sie mir ein bisschen näher angucken. Sebastian kam ziemlich nah an mich heran und sah mir in die Augen. „Ja, sie sind blau, lächelte er dann. „Zweifellos blau. Und so was von blau!"

    Und wir lachten uns an und tanzten wie die Verrückten weiter.

    Wie selbstverständlich begleitete mich Sebastian nach Hause. Es hing etwas Verzaubertes über diesem nächtlichen, tief verschneiten Städtchen Tübingen und wir sprachen nicht viel, während wir durch den Schnee liefen, der im Licht der Straßenlaternen glitzerte wie tausend Diamanten. Jedes Wort hätte den Zauber dieser stillen Nacht ein wenig zerstört.

    „Mir fällt da gerade ein Lied ein, sagte Sebastian auf einmal leise. „Kennst du das?

    Und er fing an, in einem sehr schönen, melodischen Bass zu singen:

    „Der erste Schnee sinkt langsam

    In die Schluchten dieser Stadt.

    Und wir laufen durch Alleen,

    Die das Weiß verzaubert hat.

    Die Kneipe an der Ecke,

    Ist die gestern so wie heut?

    Ist die Welt jetzt eine andre,

    Oder bin ich nur zerstreut?

    Ich such in deinen Augen

    Zu erkennen, was du siehst.

    Und ich gäb was zu erfahren,

    Wie du fühlst.

    Ob dein Lächeln für dich so ist

    Wie der Schnee für diese Stadt,

    Und ob du immer nur die eigne Rolle spielst.

    Weiche Flocken fallen lautlos aus der Nacht,

    Finden Halt in deinem Haar.

    Krönen dich für einen kleinen Augenblick,

    Sind auf einmal nicht mehr da.

    Mist, jetzt fällt mir die zweite Strophe nicht mehr ein! Dabei war die so schön!"

    „Aber mir fällt sie ein" lächelte ich und sang weiter:

    „Ein halber Mond kriecht lächelnd

    Aus einem dunklen Wolkental.

    Und mir ist, ich säh ihn jetzt und hier

    Zum allerersten Mal.

    Laternen heucheln Wärme

    Und du greifst nach meiner Hand.

    Unser Schattenbild vereint sich

    Gegenüber an der Wand."

    Und den Refrain sangen wir gemeinsam, Sebastian im Bass und ich im Alt:

    „Ich such in deinen Augen

    Zu erkennen, was du siehst,

    Und ich gäb was zu erfahren,

    Wie du fühlst.

    Ob dein Lächeln für dich so ist,

    Wie der Schnee für diese Nacht,

    Und ob du immer nur die eigne Rolle spielst.

    Weiche Flocken fallen lautlos aus der Nacht,

    Finden Halt in deinem Haar,

    Krönen dich für einen kleinen Augenblick,

    Sind auf einmal nicht mehr da."

    Unser erstes gemeinsames Duett klang in der Stille der verschneiten Nacht einfach wundervoll.

    „Du kennst Mario Hene?, fragte Sebastian zutiefst erstaunt. „Und ich dachte immer, den kennt außer mir kein Schwein.

    Als Antwort drehte ich mich zu ihm um, ergriff wortlos seine Hand und zog ihn leicht zu mir heran. Und unser Schattenbild vereinigte sich tatsächlich. Gegenüber an der Wand. Unser erster Kuss im tief verschneiten Tübingen war wirklich ungeheuer romantisch.

    Und eh ich mich versah, war schon wieder ein Mann in mein freies, glückliches und selbstbestimmtes Leben getreten, aber ich sorgte dafür, dass mein Leben einigermaßen frei, selbstbestimmt und glücklich blieb, was mir auch relativ gut gelang, weil Sebastian in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Thomas war. Er war überhaupt nicht karriereorientiert, sondern eher ein Lebenskünstler, der mit den vielen Möglichkeiten, die das Leben ihm bot, gerne jonglierte. Nach zwei Semestern Literatur und Geschichte beschloss er, dass er zum Intellektuellen nicht taugte, und versuchte sich fortan als Biobauer. Und er brachte mich immer wieder zum Staunen und zum Lachen. Er ließ mir alle Freiheiten, die ich brauchte, und engte mich in keiner Weise ein. Über all die Jahre, die wir zusammen waren, leuchteten seine Augen stets auf, wenn er mich sah. Auch wenn ich nicht immer nett mit ihm umsprang. Denn Sebastian hatte den einen kleinen Schönheitsfehler, der eigentlich gar keiner war: Er war zu lieb und setzte mir keine Grenzen. Und Männer, die zu lieb sind und keine Grenzen setzen, verführen eine Frau dazu, genau diese Grenzen mit brachialen Mitteln auszuloten, das ist leider eine Art Naturgesetz. Zwei Jahre lang ging dennoch alles gut. Relativ gut, abgesehen von gelegentlichen kurzen Affären, die ich mir von Zeit zu Zeit gönnte, vielleicht, um mich immer wieder daran zu erinnern, dass ich schließlich ein freies und selbstbestimmtes Leben lebte.

    Kapitel 2: Ein Mann kommt selten allein

    Der Tag, an dem ich Armin kennen lernte, fing bezeichnenderweise damit an, dass, als ich von einer Generalprobe mit den „Psychadelic Rockers halb heiser zurückkehrte und mein Fahrrad aufschließen wollte, an diesem eine Plastiktüte mit eigenartigem Inhalt hing: ein Massagestab und ein Pornoheft mit dem geschmackvollen Titel: „Schwanger und geil. Im neunten Monat geht’s erst richtig ab!

    Natürlich dachte ich zunächst an einen fragwürdigen Scherz meiner mitrockenden Kommilitonen, denn mein Fahrrad war regional bekannt, türkis mit weißen Blümchen, aber meine vier psychadelischen Begleiter waren genauso perplex wie ich. Zuerst wollte ich diese mysteriöse Plastiktüte einfach an ein anderes Fahrrad hängen, aber dann siegte doch mein Voyeurismus. Ich hatte bisher weder ein Pornoheft gelesen noch einen Massagestab in der Hand gehabt und wollte diese günstige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ich tat also so, als ob es ganz normal wäre, dass Derartiges an meinem Rad hängt, winkte dem Rest meiner verwunderten Band noch munter zu und sauste mit Schallgeschwindigkeit nach Hause, wo ich Marianne und Tina mit den ungewöhnlichen Mitbringseln beglückte.

    Marianne hatte das größte Bett von uns, dort pflegten wir an ruhigen Tagen zu dritt fernzusehen und dort bogen wir uns an diesem Tag vor Lachen, bis die Wände bebten. Nachdem ich den Mechanismus des Massagestabs endlich auslösen konnte, waren wir gerade dabei, uns gegenseitig damit in die Rippen zu stechen und zu kitzeln, als auf einmal unbemerkt unser griesgrämiger Vermieter an der Tür stand und das muntere Treiben mit Todesverachtung verfolgte. Unsere Wohnungstür ließ sich nie richtig abschließen. Dass dies ein Manko war, fiel uns allerdings immer erst in Situationen wie diesen auf.

    Da unser Vermieter als Frührentner nicht arbeitete und auch durch seine Ehefrau nicht genügend ausgelastet erschien, hatte er Zeit genug, um sich in schöner Regelmäßigkeit über andere Leute aufzuregen. Im Allgemeinen hing er tagsüber am Fenster hinter der Gardine, da vor dem Haus Parkverbot herrschte, an das sich aber angesichts der mangelnden Parkmöglichkeiten in der Altstadt keiner hielt, und passte auf, dass kein Autofahrer seinen fahrbaren Untersatz vor seinem Haus platzierte. Ungefähr zehnmal am Tag wagte es natürlich doch einer, so dass unser Vermieter Herr Hering dann seinen cholerischen Gelüsten völlig ungehemmt nachgehen konnte. Falls einer doch so frech sein sollte, trotz seines Geschreis das Auto dort stehen zu lassen, pflegte er zur Tat zu schreiten: Er nahm das Katzenklo, das stets griffbereit neben ihm auf dem Fensterbrett stand, und schüttete den Inhalt desselben wüst schimpfend über den todesmutigen Autohalter mitsamt seinem Gefährt aus.

    Dieses ungewöhnliche Hobby, unter dem schon etliche gehfaule Freunde von uns hatten leiden müssen, hatte aber auch sein Gutes: Im Allgemeinen war er davon derart fasziniert, dass er keine Zeit und Energie mehr hatte, sich um die anderen Geschehnisse im Hause zu kümmern. Resigniert hatte er sich damit abgefunden, dass in einem Haus, in dem sich die Toiletten im Treppenhaus auf halber Treppe befanden und die Wohnungen keine Badezimmer hatten, keine ehrbaren Leute, sondern nur chaotische Wohngemeinschaften zu hausen pflegten.

    Aber entweder hatte er an diesem Tag keine Parksünder erwischt und litt unter den entsprechenden Entzugssymptomen, oder aber unsere Lachsalven hatten tatsächlich den üblichen Geräuschpegel um Einiges überschritten. Jedenfalls stand er auf einmal mitten in Mariannes Zimmer und kochte.

    Marianne fiel kreidebleich vor Schreck der Massagestab aus der Hand. Tina stieß einen Schrei aus, der mit einigem Wohlwollen als Angstäußerung zu interpretieren war, jedoch eher nach unterdrücktem Gelächter klang. Ich wurde rot vor Scham und stotterte verlegen: „Herr Hering, Sie müssen es mir glauben, das Ding und dieses Heft da, das hing heute unverhofft in einer Plastiktüte an meinem Fahrrad", woraufhin Tina nur noch wie ein Asthmakranker krebsrot nach Luft schnappte.

    Sein Gebrüll endete damit, dass er uns wutentbrannt fristlos kündigte, zur Strafe Massagestab wie Pornoheft konfiszierte und türenknallend unsere nie verschlossene Wohnung verließ. Wir waren sprachlos vor Schreck. Jeder reagierte auf seine eigene Art und Weise.

    Marianne saß zu Stein erstarrt da und wunderte sich: „Komisch, das hätte ich nicht von ihm erwartet. Was machen wir denn jetzt?"

    Und Tina heulte so laut und steinerweichend, dass binnen Kurzem sämtliche restlichen Hausbewohner in unserer Wohnung versammelt waren: Edgar und Winfried, zwei Medizinstudenten, die über uns wohnten und seit einem Jahr nur noch schriftlich miteinander verkehrten, seit es Winfried gewagt hatte, seine gebrauchte Kaffeetasse auf Edgars Schreibtisch stehen zu lassen. Sie vertrieben sich nun ihre Zeit damit, hasserfüllte Briefe zu schreiben, mit denen sie den anderen fertig machten, kamen oft einzeln zu uns herunter, um sich neue perfide Ratschläge für den nächsten Brief geben zu lassen, und wir verfolgten den eskalierenden Briefwechsel voller Spannung. Edgar begann, Saxophonunterricht zu nehmen, um Winfried zu ärgern, wobei er am liebsten um 3:00 Uhr nachts übte, wenn Winfried gerade seine Tiefschlafphase hatte, während Winfried am liebsten Edgars heißgeliebte antike Kaffeetassen seiner verstorbenen Mutter beim Spülen rein zufällig zerschlug. Die beiden waren wie ein altes Ehepaar der schlimmsten Sorte und befanden sich in einer klassischen symmetrischen Eskalation. Ausziehen wollte keiner von beiden, da keiner dem anderen weder die Wohnung gönnte noch das Vergnügen, ohne den anderen friedlich zu leben, und wir hätten es auch, ehrlich gesagt, sehr bedauert, denn wir mochten beide sehr. Edgar und Winfried wurden später übrigens Psychiater und setzten ihre gewachsene Feindschaft in Form eines Schulenstreits nahtlos fort. Edgar wurde Psychoanalytiker, Winfried als Protest darauf Verhaltenstherapeut und beide waren in ihrem jeweiligen Metier recht erfolgreich.

    Unter uns lebte der dreijährige Markus, der, sobald er krabbeln konnte, sich stets die Treppe zu uns hochstemmte, um mit Tinas Tieren unterschiedlichster Art zu spielen, und bei dem wir anfangs mutmaßten, dass er oral fixiert sein musste, da er beim Anblick jeder Frau zielstrebig deren Brust ansteuerte. Diese Eigenart hatte glücklicherweise etwas nachgelassen, seit seine Mutter Roswitha ihn endlich mit zwei Jahren abgestillt hatte.

    Roswitha war eine Hardcore-Feministin und studierte pro forma Kunst, ging aber mehr in ihren Mutterpflichten auf, schlurfte den ganzen Tag mit bekleckstem Morgenmantel und fettigem Haar durchs Haus, Markus auf den Bauch geschnallt, trank überall einen Kaffee und beschwerte sich über den Erzeuger von Markus, Franz, ein Softie aus dem Bilderbuch, klein, langhaarig, sanft und in der Computerbranche tätig, der, nachdem er seine Funktion als Erzeuger erfüllt hatte, nun nur noch für die Versorgung zuständig war. Hin und wieder knallte Roswitha, wenn sie der Meinung war, ihre Selbstverwirklichung komme zu kurz, ein paar Klumpen Ton zusammen oder ein paar Tuben Farbe auf die Leinwand und wir mussten sie dann mit etlichen „Ahs und „Ohs loben.

    Marianne fand Roswitha schrecklich, weil sie sie an ihre besitzergreifende, überall herumschnüffelnde Mutter erinnerte, ich aber entdeckte durchaus unterhaltsame Seiten an ihr, vor allem wenn sie über die Sado-Maso-Spielchen mit ihrer lesbischen, stotternden Freundin Susanne erzählte, die ebenfalls in der Wohnung lebte.

    Susanne sah man meistens dann, wenn sie in schwarzen Strapsen durchs Treppenhaus auf die Toilette huschte, sie war durchaus flott und ansehnlich, dazu humorvoll und freundlich, und Marianne und ich stürzten uns in unserem ersten Therapiereifer hocherfreut auf unser erstes Versuchsobjekt. Wir bildeten die Hypothese, dass Susanne nur deshalb die Beziehung zu Roswitha eingegangen war, weil sie aufgrund ihres Stotterns Minderwertigkeitskomplexe und Ängste gegenüber Männern entwickelt hatte, und vor allem Marianne legte einen beträchtlichen Missionseifer an den Tag, um Susanne aus den Klauen „dieser schrecklichen Frau" Roswitha zu befreien.

    Seit wir herausgefunden hatten, dass Susanne, wenn sie sang, nicht stotterte, führten wir ein eisernes soziales Training mit ihr durch, zogen mit ihr nach einem exakt ausgeklügelten Desensibilisierungsplan durch sämtliche Einkaufsläden, wo sie von den verdutzten Verkäufern singend 100 Gramm Salami am Wursttresen fordern musste, und übten mit ihr ein, auf eventuelle dumme Bemerkungen mit dem Gesang zu kontern, sie sei eben heute besonders gut gelaunt.

    Das klappte hervorragend. Susanne verlor unter unserer kichernden Gesellschaft sämtliche Sozialängste, ging mit uns sogar in Restaurants, wo sie singend Gulasch mit Salat verlangte, und Marianne und ich wurden immer euphorischer aufgrund unserer sichtbaren Therapieerfolge. Mit Herzklopfen schritten wir bis zur letzten Stufe: Susanne musste nun einen Mann, der sie interessiert ansah, ansingen: „Hallo, wer bist du denn?" Die daran anknüpfende Kommunikation klappte reibungslos bis zur Verabredung, Susannes Galan fand den Singsang ihrer Stimme sogar besonders reizvoll und hinterher fielen wir uns alle drei glücklich in die Arme.

    Allerdings hatten wir nicht mit Roswitha gerechnet, die sich unser Treiben bis zur letzten Stufe zwar geduldig angesehen hatte, der aber nun endgültig der Kragen platzte. Sie verbot Susanne rigoros das Singen, Susanne stotterte danach vor Kummer mehr denn je und Marianne war so außer sich vor Wut über den Boykott ihrer ersten Therapieversuche, die so erfolgreich begonnen hatten, dass sie ihre Bettwäsche knallrot einfärbte und zum Trocknen direkt über Roswithas blütenweiße, frisch gewaschene Spezialseidenwäsche für besondere Tage hängte. Die Wäscheleinen in diesem Haus hingen in jedem Stockwerk unter den Küchenfenstern. Als Roswitha nach dieser Freveltat wütend unsere Wohnung stürmte, brüllte Marianne, ganz entgegen ihrer sonstigen sanften, geistesabwesenden Art, sie sei der letzte Spießer und solle sich nicht so anstellen.

    Nach dieser dramatischen Episode war zwischen dem ersten und dem zweiten Stock erst einmal für zwei Monate Funkstille. Roswitha kaufte sich, um ihren Ärger abzureagieren, eine Menge Fitness-Geräte, die sie mit drohenden Blicken die Treppe heraufschleppte, aber als ihr das zu langweilig wurde, besuchte sie uns doch wieder zum regelmäßigen Kaffeeplausch.

    Meist beschwerte sie sich darüber, dass sich Franz, den sie seit ihrer Liaison mit Susanne körperlich nicht mehr ertragen konnte, mit vorwurfsvoller Miene selbst befriedigte, während sie und Susanne sich in dem großen Bett, in dem alle vier einschließlich Markus schliefen, stets neue Spielchen einfallen ließen. Ein weiteres breit ausdiskutiertes Ärgernis war Franzens Geiz, der sich neuerdings weigerte, neben Roswitha und Markus nun auch noch Susanne, die ebenfalls Kunst studierte, mitzufinanzieren. Susanne war insofern gezwungen, sich einen Job zu suchen, sie arbeitete als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus.

    In dieser tragischen Konstellation entwickelte sich auch Markus zum ausgewachsenen Männerfeind und brüllte wie am Spieß, wenn sein Vater ihm zu nahe kam.

    Und nun standen also alle Hausbewohner bis auf die Vermieter ratlos um die aufgelöste Tina, die sich bereits damit abzufinden begann, ihre Zukunft mitsamt ihren Tieren im Park bei den Pennern zu verbringen, während ich eine Beschreibung der vorangegangenen Szene lieferte. Selbst Edgar und Winfried vergaßen unter diesem Eindruck ihre Differenzen und sahen sich zum ersten Mal seit einem Jahr einverständlich und wortlos in die Augen.

    „Herzeleid dauert keine Ewigkeit", sang Markus tröstend und wir waren gerade dabei auszudiskutieren, ob die Hausbewohner geschlossen ihre Solidarität beweisen sollten, indem sie keine Miete mehr bezahlten, bis die Kündigung wieder rückgängig gemacht wurde, ein Vorschlag von Edgar, dem Winfried natürlich sofort heftig widersprach, als die Tür erneut aufging und die Frau unseres Vermieters mitsamt den konfiszierten Corpora Delicti hereinrauschte. Sie war Klempnerin und weitaus tüchtiger und beeindruckender als ihr griesgrämiger Gatte.

    „Was soll das denn?, fragte sie wütend und warf die Utensilien zu Marianne aufs Bett. Der Massagestab kullerte dabei unglücklicherweise direkt vor den oral fixierten Markus, der sofort glückstrahlend hineinbiss, da er ihn für Naschwerk hielt. „Das geht nun eindeutig zu weit. Was fällt Ihnen ein, meinem Mann solche Geschenke zu machen?

    Wir waren sprachlos. Markus kaute ärgerlich an der Plastikspitze herum.

    „Auch wenn Sie beide angehende Psychologinnen sind, und dabei fixierte sie mich und Marianne, „unser Sexualleben geht Sie nun wirklich überhaupt nichts an!

    „Aber Frau Hering, entgegnete ich verwundert, „wir haben diese Dinge Ihrem Mann doch nicht geschenkt. Ob Sie es nun glauben oder nicht: Ich habe sie heute Nachmittag in einer Plastiktüte gefunden, die an meinem Fahrrad hing, bin dann nach Hause gefahren, habe sie meinen Mitbewohnerinnen gezeigt und wir haben uns gerade darüber amüsiert, als Ihr Mann hereinkam, sie uns abnahm und uns fristlos kündigte.

    Bei den letzten Worten zitterte meine Stimme und Tränen traten in meine Augen. Bei allen Aufregungen liebte ich doch dieses alte Haus heiß und innig.

    „So! Frau Hering richtete sich entrüstet auf. „Und mir hat er erzählt, Sie hätten es ihm zur Bereicherung unseres Liebeslebens geschenkt. Na warte! Er war nämlich so versunken in das Heft, dass er gar nicht merkte, wie ich nach Hause kam. Der kann was erleben! Mich so anzuschwindeln! Sie rauschte majestätisch zur Tür. „Das mit der Kündigung können Sie natürlich vergessen. Das ist doch nun wirklich kein Grund!", meinte sie im Herausgehen.

    Wir fielen uns jubelnd in die Arme. Tina ging in die Küche, um zur Feier des Tages für alle Kaffee zu kochen, ich holte Kuchen und wir analysierten noch ein Weilchen die Beziehungsdynamik in der Ehe unserer Vermieter, bevor jeder wieder in seine eigene Wohnung verschwand und wir Markus endlich den angekauten Massagestab entreißen konnten, von dem er sich nur laut heulend trennte.

    „Was machen wir nun mit dem Ding? fragte Tina ratlos. „So ramponiert, wie er jetzt ist, kann man ihn sicher nicht mehr benutzen, dabei hätte ich ihn zu gerne mal ausprobiert. Man soll ja blitzschnelle und gigantische Orgasmen davon bekommen!

    „Pfui Teufel, wer weiß, wer ihn vorher benutzt hat!", ereiferte sich Marianne, die die Reinlichste von uns dreien war, als mir die zündende Idee kam.

    „Wir dübeln ihn in die Diele als Kleiderhaken!", rief ich und wir bogen uns vor Lachen über diesen Einfall. Ich wischte mir die Lachtränen aus dem Gesicht, Tina lag gekrümmt vor Lachen auf dem Boden und schrie nur noch. Nach bestandenen Aufregungen waren wir immer besonders albern.

    Der Massagestab machte sich so prächtig als Kleiderhaken in der Diele, dass Tina sofort ihren Freund Peter anrief, der die neueste Errungenschaft in unserem Haushalt etwas pikiert begutachtete. Wir beschlossen, diesen ereignisreichen Tag mit einem Fest an der Universität ausklingen zu lassen, warfen uns ausgiebig in Schale und zogen los, alle drei in schwarzen Cocktailkleidern mit Federboas um den Kopf.

    Es war ein aufregender, aber nicht etwa ungewöhnlicher Tag in jenen Zeiten gewesen. Nichts, aber auch gar nichts sprach dafür, dass ich an diesem Abend den Mann kennen lernen sollte, der meinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflussen würde.

    Ich saß auf einem der harten grauen Plastiktische und beobachtete lächelnd, wie Marianne tanzte. Tina hatte sich bereits mit Peter verabschiedet. Wie so oft waren die Vorbereitungen für dieses Fest an der Universität, in deren Verlauf wir uns lebhaft plaudernd gegenseitig geschminkt und in der Kleiderfrage beraten hatten, weitaus unterhaltsamer und spannender gewesen als das Fest selbst. Etliche träge und blasse Studenten hingen gelangweilt in der Mensa herum, mit Jeans und fleckigen T-Shirts, in einer Hand das unvermeidliche Bier, alle so jung und doch schon an das konsumierende Leben aus zweiter Hand gewöhnt: Musik wurde akustisch, Bier oral und Frauen optisch konsumiert und jeder beobachtete mit frustrierter Miene, ob nicht vielleicht doch einmal etwas Aufregendes passierte.

    Marianne war so schön mit ihrer langen, dünnen Gestalt, dem hautengen Cocktailkleid, ihrem schmalen, empfindsamen Gesicht mit den geistesabwesenden braunen Augen und ihrem fast bis zu den Hüften reichenden blonden Haar, dass sie sich äußerst angenehm von den restlichen herumhüpfenden Gestalten abhob. Sie wirkte zwischen ihnen wie ein schwebender Engel, als sie mit ihrer üblichen ruhigen Grazie tanzte. Ihre langen Haare hoben sich für einen kurzen Moment von ihrem Körper, um sie kurz darauf wieder zu umfangen und dann wieder loszulassen, in spielerischer Eigenliebe, ihre Hände malten Kreise in die Luft und ihr Gesicht zeigte wie immer in größerer Gesellschaft eine fast madonnenhafte Starre und ein leichtes Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte.

    Nachdem ich Mariannes Eltern kennen gelernt hatte, verstand ich sie wesentlich besser. Ich ertappte mich dabei, dass ich im Gespräch mit diesem freudlosen, gramgebeugten, ständig kränkelnden Ehepaar auch allmählich abschaltete, da sich ihr Interesse ausschließlich um Krankheiten und um Sorgen aller Art drehten und trotz Bemühungen meinerseits einfach kein erfreulicheres Thema auf den Tisch kommen konnte.

    Tina und ich waren davon wie gelähmt vor Entsetzen und in der Folgezeit brachten wir Marianne das Lachen bei, vorsichtig und behutsam, aber es klappte. Auch wenn Marianne natürlich nie so lachen konnte wie Tina, so mischte sich doch unter Tinas übliches Gebrüll hin und wieder Marianne wie ein kleines Silberglöckchen. Sie wurde etwas frecher, etwas verwegener, etwas schlagfertiger und manchmal bekamen ihre Augen einen glücklichen Glanz, wenn sie das starre Über-Ich ihrer moralischen Eltern ablegen konnte, um irgendwelche harmlosen Dummheiten zu treiben. Aber man durfte sie keinesfalls in ihren Fortschritten auf dem Weg zur Lebensfreude loben, denn dann zog sich sofort wieder in sich selbst zurück.

    Marianne weinte oft. Nachdem sie sich entschlossen hatte, sich der Welt wieder etwas zuzuwenden, stellte sich heraus, dass sie zu empfindsam dafür war. Sie hatte keinen Schutzmantel des Humors wie Tina und ich und auch keinerlei andere Abwehrmechanismen entwickelt, um in dieser Welt angstfrei leben zu können. Vertrauensvoll und offen wie ein Kind nahm sie Kränkungen zu ernst. Oft stiegen ihr die Tränen in die Augen, wenn wir zusammen in der Küche saßen, plauderten und lachten, und sie sagte dann wehmütig: „Ich habe es nie gelernt, so wie ihr einfach nur zu leben, ach, ich wünschte, ich könnte es!" Aber wenn sie das vergaß, dann konnte sie es auch, zumindest in der tolerierenden und angstfreien Umgebung unserer Wohngemeinschaft.

    Marianne war mit ihrer sanften Schönheit, ihrer Geistesabwesenheit, ihrer Unnahbarkeit und dem fehlenden Funken Lebensfreude in den Augen der Prototyp der unerreichbaren Frau, der entsprechend strukturierte Männerherzen zum Glühen brachte. In der Regel wurde sie von ihren

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