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RunaMania: Zeitsprung im Dom
RunaMania: Zeitsprung im Dom
RunaMania: Zeitsprung im Dom
eBook747 Seiten10 Stunden

RunaMania: Zeitsprung im Dom

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Über dieses E-Book

Die mächtige Herrscherin Runa beeinflusst mit ihren Kräften über Jahrhunderte hinweg die Gedanken und Gefühle der Menschen. So gelingt es ihr, den Mittelalterfreak Simon zu zwingen, eine Frau in Erfurt zu suchen, die er durch eine Zeitreise entführen soll. Als er Maria in Erfurt trifft, ist er so fasziniert, dass Runas Pläne einer Zeitreise ins Wanken geraten.Bei der Stadtführung im Dom kommt es zum Zeitsprung. Mit einem Blitzschlag werden Simon und Maria, in das Mittelalter des Jahres 1525 katapultiert.Den zurückgebliebenen Eltern und Freunden fehlt jede Spur. Zwei Handys im Dom geben nur noch mehr Rätsel auf. Aber was bedeuten die immer stärker werdenden Träume?Als Maria Simons Verrat erkennt, ist es zu spät. Weitab von ihm wird sie gezwungen, ungeahnte Fähigkeiten zu entwickeln. Kann Maria diese neuen Kräfte nutzen, obwohl Runa sie bedingungslos unterwerfen will?Mithilfe mächtiger Freunde keimt in Maria neue Hoffnung auf. Wenn da nur nicht diese Gefühle für den verhassten Simon wären.Durch die Zeitreise im Dom spielt das Fantasy Buch in zwei Zeiten gleichzeitig: in der Jetztzeit und in der Vergangenheit des Mittelalters.
SpracheDeutsch
HerausgeberTelescope Verlag
Erscheinungsdatum6. März 2020
ISBN9783968588483
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    Buchvorschau

    RunaMania - Wolfram Treydte

    Wolfram Treydte

    RunaMania

    Zeitsprung im Dom

    Impressum

    © Telescope Verlag 2019

    www.telescope-verlag.de

    Covergestaltung:

    Manuel Richter | RED RAPTOR www.red-raptor.de

    Ingolf Preu | #IngolfPreu

    André Semm | RED RAPTOR www.red-raptor.de

    Telescope Verlag | www.telescope-verlag.de

    Ragnar Sonntag

    Graphikgestaltung: RED RAPTOR

    Lektorat: Dorothea Kenneweg | www.lektorat-fuer-autoren.de

    Bildnachweise

    Cover und Rückseite: Ingolf Preu, Bertram Beier, mojolo - Adobe Stock

    Autorenfoto: Bertram Müller

    Für Links von Webseiten Dritter wird keine Haftung übernommen, da lediglich auf den Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verwiesen werden kann.

    Der Autor

    Wolfram Treydte, 1956 in Mühlhausen/ Thür. geboren, ist durch das Leben in seiner jetzigen Wahlheimat Erfurt, eng mit der Handlung des Romans verbunden. Der Erfurter Dom und die Altstadt hatten es ihm schon früh angetan, auch wenn ihn sein Chemiestudium erst weit wegführte. Ende der 80er Jahre zog er endlich nach Erfurt. Hier studierte er Marketing/ Management/ Kommunikation und beendete 2020 sein Deutschstudium.

    Von 2005-2007 wagte er das bisher größte Abenteuer seines Lebens. Eine Fahrradweltreise nach Afrika. Mit seiner Frau Katrin fuhr er von Thüringen bis nach Dakar im Senegal.

    In Deutschland wieder angekommen, entstand im gleichen Jahr ihr gemeinsames Buch: „Für immer mit Dir… Ich gehe auf Weltreise. Sein folgendes Buch, über Partnerschaft, Liebe, Kommunikation und philosophische Themen, die „SchokoladenSaiten des Lebens, erschien 2012.

    Doch die Faszination der Erfurter Altstadt, ihre Geschichte und die Mystik, die in all ihren alten Mauern steckte, ließ ihn nicht mehr los. So streifte er immer wieder durch die engen Gassen und folgte den Geheimnissen, die selbst die buckligen Pflastersteine unter den Füßen zu erzählen hatten.

    Und dann geschah es. RunaMania wurde geboren. Es begann eine lange Zeit der Recherche: Zu den Orten des späteren Geschehens, die dann im Roman eine Rolle spielten. Alles, sollte so authentisch wie möglich mit der auch heute noch nachvollziehbaren Realität verbunden sein, ehe das Schreiben beginnen konnte.

    Allerdings gab es ein Problem, ein ernstes Problem: Er konnte nicht schreiben, ohne dabei Mengen an Schokolade zu essen, hochprozentige, mit 85% Kakaogehalt. Zum Glück sorgten seine Frau, sein Sohn und die beiden Enkel, immer wieder für Nachschub.

    Herzlichen Dank

    So ein Mammutprojekt wie dieses Buch wäre nicht entstanden, wenn mich meine wundervolle Frau Katrin nicht immer wieder ermuntert hätte, die unüberwindlich erscheinenden Hindernisse mit der nötigen Gelassenheit zu bewältigen. Ich danke ihr vor allem für die unendliche Geduld, so viele Stunden jeden Tag darauf zu warten, bis ich endlich fertig wurde und wir gemeinsam etwas unternehmen konnten. Für ihre Begeisterung, mit der sie mit mir all die Orte besuchte, Geschichten recherchierte und zahllose Ideen entwickelte. Als liebevoll kritische Erstleserin gab sie mir ein konstruktives Feedback, um den Roman immer weiter zu verfeinern. Vor allem sorgte sie stets für mein Überleben, denn als wild schreibender Autor, vergisst man leicht Essen und Trinken.

    Einen großen Beitrag zum Gelingen des Romans leistete die Lektorin Dorothea Kenneweg. In zahllosen Telefonaten diskutierten wir Handlungsabläufe und optimierten den Erstentwurf von über 800 Seiten, zu dem jetzigen Roman. Ihre Impulse waren unschätzbar wertvoll. Herzlichen Dank dafür.

    Allen, die mit ihren Bildern und Ideen das Cover mitgestalteten, so auch unsere Freundin Jana Scheiding, legten damit den Grundstein, ein echtes Meisterwerk zu erschaffen. Ganz großen Dank.

    Besonders möchte ich auch den Erstlesern danken. Für mich war ihr Feedback, als völlig Außenstehende, sehr wichtig für das Vertrauen in meine Arbeit.

    Last but not least, möchte ich unserem Freund und Verleger Danilo Schreiter vom Telescope Verlag danken. Er ist ein unerschöpflicher Ideenentwickler und ich freue mich sehr, dass er mich auch bei diesem Buch mit seinem Verlag begleitet.

    Kapitel 1

    Während der Zug sich endlich in Bewegung setzte, begann der Regen seine seltsamen Spuren auf der Fensterscheibe zu malen. Mit dem Fließen der Regentropfen kehrten Simons zwiespältige Gedanken zurück.

    ‹Schon verrückt, mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf zu stellen, um in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Wenn nur die Kopfschmerzen nicht wären! Aber am schlimmsten ist diese grausame Stimme in meinem Kopf, die mir die irrwitzigsten Befehle erteilt ohne dass ich eine Chance habe, mich zu widersetzen. Wenn ich nur wüsste, was das heißen soll: Finde Er die Auserwählte und bringe Er sie zu mir. Dann wird das Werkzeug seinen reichen Lohn erhalten: Besitztümer, hohes Ansehen und Reichtum, mehr, als Er sich vorstellen könnte. Versagt Er aber, so wird es sein Ende sein! Und vor allem: Wehe Ihm, sollte Er es wagen, vom Weg abzuweichen. Wir werden ein strenges Auge auf Ihn halten. Vergesse Er das niemals, ich, die Herrin, befehle es! Ich kann nicht glauben, dass die Stimme in meinem Kopf real sein soll. Manchmal denke ich, dass diese Drohungen doch nichts mit meinen Kopfschmerzen zu tun haben, und es irgendetwas ist, was die Ärzte bisher nur nicht feststellen konnten. Andererseits, wer weiß, ob es das andere Leben in der Welt, von der diese Frau in meinen Gedanken ständig spricht, nicht doch gibt. Ich habe es ja schon immer gespürt, dass ich nicht hierhergehöre, dass ich mich von dieser anderen Zeit wie magisch angezogen fühle. Das Mittelalter hat mich schon immer fasziniert. Vielleicht ist es doch möglich, die Barrieren der Zeit zu durchbrechen, auch wenn mir nicht bekannt ist, dass es jemals einem Menschen gelungen wäre. Mutter und meine Ex, Eyleen, haben mich immer wieder gewarnt. Ich sollte mich nicht so sehr mit dem ganzen Mittelalter-Kram beschäftigen. Vielleicht haben sie ja sogar recht. Ich lebe hier, in unserer Zeit, und die Gedanken, die in meinem Kopf herumspuken, sind nur Träumereien? Dieses Hin und Her macht mich ganz krank.›

    «Au, verdammt, immer diese wahnsinnigen Kopfschmerzen! Nicht schon wieder!» Simon schlug sich mit beiden Fäusten so heftig vor die Stirn, wie es nur ging, um das Hämmern, Bohren, Nagen und Wühlen zu betäuben. Vergebens. ‹Dieses Dröhnen, Pfeifen und Quietschen ist nicht auszuhalten. Die verdammten Tabletten helfen schon lange nicht mehr.› Auch diesmal endete dieses Szenarium erst mit der fürchterlichen Drohung, die jedes Mal in seinem Kopf erklang: Wehe dir, wenn du von den Weisungen abweichst. Erschöpft lehnte sich Simon zurück. ‹Wie soll man sich da zurechtfinden? Ist es ein Traum oder Wirklichkeit? Wenn ich nur meinen eigenen Fantasien aufgesessen bin, werde ich wohl irgendwann in der Psychiatrie aufwachen. Ich kann einfach keinen klaren Gedanken fassen. Als ob zwei Geister in mir miteinander kämpfen würden. Und ich stecke mitten drin und habe offenbar keine Chance, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen.› Schon an der nächsten Haltestelle wurde Simon aus seinen Gedanken gerissen, als ein kleiner Junge in das Abteil gestürmt kam.

    «Mama, komm hierher, hier ist Platz.» Ehe Simon die Chance hatte, etwas dazu zu sagen, hatte der Knirps bereits von dem ganzen Abteil Besitz ergriffen. Sofort packte er die Spielsachen aus dem Rucksack, um sie auf allen freien Sitzen gleichmäßig zu verteilen. Seine Mutter, eine Frau um die dreißig, folgte ihrem ungestümen Kind, welches sich den Platz am Fenster gesichert hatte.

    «Sorry, ist hier noch frei?»

    «Äh, ja, kein Problem, natürlich», stammelte Simon, noch immer etwas benommen.

    «Sind das echte Klamotten oder hast du das alles im Secondhand-Shop ergattert?»

    «Nein, natürlich selbst gemacht», antwortete er, allein wegen der Frage beleidigt.

    «Nichts für ungut, ich bin Clarissa, und das ist mein Sohn Tommy.» Der Junge schaute den seltsamen Mann, in seinen abenteuerlichen Sachen, mit großen Augen an.

    «Wie heißt du?», sprudelte es aus dem Kleinen heraus.

    «Ich bin Simon, und wer bist du?»

    «Ich bin Thomas, aber meine Mama sagt immer nur Tommy zu mir. Tommy gefällt mir besser. Bist du auch ein Papa?» Erstaunt schaute Simon ihn an.

    «Nein, warum willst du denn das wissen?» Lächelnd sagte seine Mutter:

    «Ich fürchte, du hast sein Herz erobert.» Sie drehte sich zu Simon und strahlte ihn vielsagend an.

    «Wieso ich fürchte? Was ist denn so Schreckliches daran? Ich dachte immer, ein Herz zu erobern, sei etwas Großartiges.» Sie lächelte nur.

    «Mein Tommy ist eine alte Quasselstrippe, nicht wahr, mein Großer?» Sie schnappte sich den Kleinen und verwickelte ihn in einen Ringkampf.

    «Ist schon okay. Na, warum möchtest du das so genau wissen?» Mit gesenktem Kopf antwortete Tommy.

    «Weil ich auch mal einen Papa hatte, aber der ist jetzt weg.» Ohne lange auf eine Frage zu warten, begann Clarissa zu erzählen, was geschehen war.

    «Sein Vater ist von heute auf morgen spurlos verschwunden. Niemand hat jemals wieder etwas von ihm gehört. Das belastet ihn ungemein. Er hat oft Albträume, wird nachts wach und schläft dann lange nicht wieder ein. Wir waren schon mehrmals beim Arzt und beim Kinderpsychologen, aber niemand kann ihm helfen.» Clarissa wich seinem Blick aus, und Simon beschlich das Gefühl, sie würde ihm etwas Wichtiges verschweigen.

    «Wie kann denn ein Mensch einfach so verschw…» Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. War er doch selbst gerade dabei, sein Leben hinter sich zu lassen und zu verschwinden.

    «Mama, was ist verschw, ist das ein neues Wort?»

    «Ich habe mich nur verschluckt», schwindelte Simon. Wie sollte er dem Kind erklären, dass er im Begriff war, genau das Gleiche zu tun und ebenfalls Menschen zurückzulassen. Zwar keine Kinder wie den kleinen Tommy, aber seine Eltern und Freunde.

    «Ich will, dass mein Papa wiederkommt.» Tommy begann herzzerreißend zu weinen und knallte sein Spielzeug wutentbrannt in die nächste Ecke.

    «Ach, komm mal her zu Mama.» Er verkroch sich schluchzend im Schoß seiner Mutter, die ihn vergeblich zu trösten versuchte. ‹Mann, Mann, bloß gut, dass ich wenigstens keine Kinder habe, das kann man ja kaum mit ansehen.› Doch dann sang Clarissa mit Tommy:

    «Wenn du einmal groß bist, dann bin ich ganz klein.

    Wenn du dann ein Mann bist, werd ich ‘ne Oma sein.

    Du hast viele Muskeln und ich hab’ ein Gebiss.

    Aber du beschützt mich, da bin ich gewiss…», so lange, bis der Kleine wieder mit ihr herumalberte.

    «Bist du aus Bielefeld?»; wollte sie wissen.

    «Ja, und du?» Doch statt zu antworten, alberte sie weiter mit ihrem Sohn herum. Von der ansteckenden Heiterkeit der beiden erfasst, schaute er aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, als er im Augenwinkel eine merkwürdige Veränderung der Frau gegenüber auffing. Es war nur ein Gefühl, eine Ahnung, und es fühlte sich gar nicht gut an. Plötzlich war es totenstill, selbst die Zuggeräusche waren nicht mehr zu hören. Dem schattenhaften Wandel nachgehend, hob er leicht seinen Kopf. ‹Was ist denn jetzt los?› Das bisher so sanftmütige, offene und fröhliche Gesicht der Frau versteinerte sich zu einer fahlen Maske mit eingefallenen Wangen. Mit Lippen wie Rasierklingen und Augen, die ihn zu erdolchen drohten, starrte sie ihn an. Die zusammengezogenen Augenbrauen verstärkten die zu erwartende Attacke dieser, noch vor wenigen Sekunden, so liebreizenden Mutter eines kleinen Jungen. Ein Schrecken durchfuhr ihn, der sich in immer stärker werdendem Maße in körperliche Schmerzen verwandelte. Dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ihr tiefer in die tödlich blitzenden Augen zu schauen, bis ein unausweichlicher Sog ihn in diese hineinzog und ihn verschlang. Als wäre dies nicht schon entsetzlich genug, erblickte er in ihren Augen langsam, aber immer deutlicher, dass ewig verhüllte Gesicht dieser unheimlichen Frau, die er aus seinen zahllosen Albträumen kannte. Trotz des Schleiers erahnte Simon dahinter ein Gesicht, welches an Ebenmäßigkeit, Schönheit und Grausamkeit zugleich mit nichts zu vergleichen war, was er jemals gesehen hatte. Im gleichen Augenblick dröhnte es in seinem Kopf: Wehe dir, weichest du ab von den Weisungen, wehe dir!

    Der eiskalte Schauer auf seiner Haut ließ ihn frieren. Zwischen Verwirrung und panischer Angst taumelte er hin und her. Als er eine Hand am Arm spürte, schrie er vor Entsetzen laut auf.

    «Ist dir nicht gut? Du bist ja ganz blass.» So plötzlich, wie die Vision kam, war sie verschwunden, und die Frau gegenüber war wieder die herumalbernde Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn spielte. Sie streichelte zärtlich über sein Haar, zupfte seine Sachen zurecht, wie Simon es schon so oft bei jungen Müttern beobachtet hatte.

    «Was, was habe ich?», stammelte er, ohne zu begreifen, was passiert war.

    «Du hast gerade laut geschrien, als ob du etwas Furchtbares geträumt hättest.» Tommy schaute ihn ebenfalls verwirrt an. Simon blieb in seiner Starre, bis ihn die junge Frau weiter ausfragte, als ob nichts geschehen wäre.

    «Hast du auch Kinder?»

    «Was?» Er glaubte, seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen zu können. ‹Was fragt sie mich da? Ist das hier ein Psychospiel mit versteckter Kamera? Wird gleich die Tür aufgehen und jemand Das haben Sie toll gemacht rufen? Will die mich ver…?› Um sich zu versichern, dies alles nicht in seinen fantasievollen Tagträumen zu erleben, kniff sich Simon schmerzhaft in die Wange. ‹Aber das kann doch eben unmöglich stattgefunden haben. Dieses immer verdeckte Gesicht aus meinen Träumen in ihren steinernen toten Augen.› Umständlich versuchte Simon sich wieder auf das Gespräch einzulassen.

    «Nein, nein, ich habe keine Kinder. Warum fragst du?», stotterte Simon verlegen.

    «Du siehst lustig aus.» Der Knirps zupfte an seinen ledernen Kleidern mit den vielen Fransen und Taschen herum. Am meisten hatte es ihm der Gürtel mit seiner riesigen eisernen Schnalle angetan.

    «Tommy mag dich, daher dachte ich, du hast Kinder. Sag mal, bist du so ein echter Freak, der auf den Märkten herumtanzt und Met trinkt?» Sie belächelte sein merkwürdiges Outfit. Doch Tommy war schwer begeistert.

    «Hast du ein richtiges Schwert, mit dem man den Drachen besiegen kann?» Wie ein echter Ritter antwortete Simon:

    «Na klar, was denkst du denn? Aber das habe ich an einem geheimen Ort versteckt, den niemand auf der Welt finden kann, nur ich.» Jetzt staunte Tommy noch mehr, als seine Mutter plötzlich sagte:

    «Komm, pack deine Sachen zusammen, wir müssen gleich aussteigen.» Mit wenigen Handgriffen hatte sie seine Spielsachen eingesammelt und verstaut. Der Zug hielt, und mit einem kurzen Tschüss waren die beiden wieder verschwunden. Simon sah ihnen lange nach. Bei dem Gedanken an ihren Blick standen ihm immer noch die Haare zu Berge, und das eisige Frösteln kam zurück. ‹Wie kann sich eine Frau plötzlich so vollkommen verwandeln? Eine bösartige Hexe war das doch. Und diese Augen… › Mit zitternden Händen öffnete er schnell eine Flasche. Erst, als das Bier seine Lippen berührte, spürte er, wie trocken nicht nur der Mund, sondern der ganze Hals geworden war.

    ***

    «Haben Eure Durchlaucht noch einen Wunsch?»

    «Leg mir den Mantel um, dann kannst du gehen.»

    «Ja, Eure Hoheit.» Sophie verließ die Gemächer, verschloss die Tür und begab sich in ihre Kammer. Ein langer Tag ging zu Ende. Die Herrin war mal wieder außerordentlich schlechter Stimmung gewesen. ‹Manchmal kann man ihr nichts recht machen. Aber sie ist die Herrin und ich nur ihre Magd. Ich will noch schnell meine Sachen zurechtmachen, bevor ich mich hinlege. Wer weiß, was der morgige Tag bringen wird.› Sie erstarrte. ‹Oh, da ist es ja schon wieder! Dieses merkwürdige Geräusch, als ob eine schwere, eiserne Pforte geöffnet wurde. Was ist das nur? Ich bin mir gewiss, in dem Zimmer befindet sich keine solche Tür. Zumindest konnte ich sie bisher nicht entdecken. Ich habe alles abgesucht, sogar die Wände hinter den Vorhängen, aber da ist nichts. Nur an den Bücherregalen war ich noch nicht. Die Herrin hat mir strengstens verboten, auch nur in die Nähe ihrer Bücher und Schriftrollen zu gelangen. Dabei bin ich längst des Lesens und Schreibens kundig. Selbst das Rechnen ist mir bekannt, zum Missfallen meiner Mutter, die mich stets lehrte, nur eine folgsame Magd zu sein. Wenn sie wüsste, wie oft ich mit dem Mann der Zahlen verkehre. Vor allem, wie begeistert er von meinem kundigen Streben spricht. Nur weil meine Mutter eine Magd ist, muss ich doch nicht auch als Magd enden. Wenn ich nur mehr lernen könnte, dann wäre ich den Mannsbildern ebenbürtig und würde eine bessere Stellung bekommen, als hier als Magd mein Dasein zu fristen. Ich muss es wagen. Bestimmt ist bei der Herrin das Geheimnis versteckt, wie sie zu ihrem okkultischen Wissen gelangen konnte. Ich werde es erfahren, eines Tages werde ich es erfahren und wissen, was sie so Wichtiges zu verbergen hat. Ich muss nur dorthin gelangen, wenn sie nicht in der Nähe ist. Am besten warte ich, bis dieses Geräusch wieder ertönt. Bisher war die Herrin danach jedes Mal für eine längere Zeit verschwunden. Es ist gefährlich, denn sie ist stets unvermittelt aufgetaucht, als ob sie nie weg gewesen wäre.› Sophie verharrte und lauschte: ‹War da nicht eben wieder dieses Geräusch? Ich habe es deutlich vernommen, das typische Klappen einer sich schließenden Tür. Ich muss einfach nachsehen gehen. Jedoch, wenn die Herrin mich entdeckt, wie ich unaufgefordert ihre Gemächer betrete? Sie wird mich sicher schwer bestrafen, wenn nicht sogar für immer verstoßen oder noch schlimmer, in den Kerker werfen lassen.› Unruhig lief Sophie in dem Zimmer auf und ab. ‹Meine Mutter hat mich immer wieder gewarnt: … deine Neugier wird dich noch um Kopf und Kragen bringen. Lass die hohen Herrschaften in Ruhe und begnüge dich damit, dass sie dir einen Dienst anbieten …. Doch heute werde ich nicht auf den Rat der Mutter hören. Zu lange habe ich schon gewartet. Heute lasse ich die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Ich werde diese geheime Pforte finden.› Sophie nahm ihre Kerze, öffnete ihre Kammer und schlich sich zu Runas Gemächern. Auch diesmal war die Tür zu ihrer Verwunderung nicht zugesperrt. Leise, ohne zu atmen, öffnete sie die Tür einen Spalt, um das Licht des Kerzenscheins in das Zimmer fallen zu lassen. Nichts! Die Herrin war verschwunden. Sie öffnete die Tür weiter. Das Feuer im Kamin spendete genug Licht, um alles genau erkennen zu können. ‹Wo kann diese geheimnisvolle Pforte nur sein? Vielleicht hinter den Vorhängen an der Wand? Aber da habe ich beim Säubern der Gemächer nie etwas Auffälliges gesehen.› Sie ging zum Bücherregal, in dem die Schriften standen, die sie niemals auch nur berühren durfte. Sie stellte ihre Kerze auf den Kaminsims und wollte nach einem der Bücher greifen, als sie hinter sich in der Dunkelheit des Raumes eine eiskalt klingende Stimme hörte:

    «Was machst du da?» Sophie blieb vor Entsetzen fast das Herz stehen. Ehe sie etwas entgegnen konnte, fragte ihre Herrin mit eisigem Ton erneut:

    «Was suchst du nachts in meinen Gemächern, du undankbare Dirne?»

    «Ich habe, ich wollte…»

    «Schafft sie hinaus. Ich will wissen, was sie hier gesucht hat und wer sie geschickt hat. Bringt sie zum Reden. Ich will alles erfahren, alles!»

    «Nein, bitte nicht. Gnade, Hoheit, Gnade, bitte…»

    «Dummes Ding! Glaubst du etwa im Ernst, ich könnte dir nicht auf die Schliche kommen? Schafft sie mir aus den Augen!»

    Ehe sie sich versah, wurde Sophie von zwei kräftigen Männern gepackt und fortgezerrt.

    «Schickt nach Johannes. Ich habe mit ihm zu reden.» Der Diener nickte nur beiläufig und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Nachdem Runa sich versichert hatte, dass sie allein war, schloss sie hinter sich die Tür. Diesmal versperrte sie diese sorgsam und überprüfte sogar noch einmal, ob sie fest verschlossen war. ‹Wehe, sollte Sophie auch nur in die Nähe gekommen sein.› Runa ging in die hinterste Ecke des Raumes, zu einem kleinen Regal, welches sonst gar nicht ins Blickfeld geriet. Zu viele alte, unansehnliche Schriftrollen und Gerätschaften waren hier zusammengewürfelt. Ein ideales Versteck. Mit wenigen Handgriffen war das verdeckende Beiwerk beseitigt. Erst jetzt wurde die Öffnung sichtbar, mit der sie das Regal bewegen konnte. Langsam schob sie die im Holz verborgene Verriegelung beiseite. In einem Schrein stand eine kleine, aus massivem Holz gefertigte Kiste. Mit einem Blick wurde ihr klar: Sophie hatte nichts entdeckt. Dennoch sah sie nach, ob alles in Ordnung war. Aus ihren Gewändern entwand sie einen tief versteckten Schlüssel für das geheimste Geheimnis, den größten Schatz. Sollte dieser in die falschen Hände geraten, könnte ihre Macht bedroht sein. Sie holte tief Luft, steckte den Schlüssel in das kleine Schloss und drehte ihn quietschend um. Runa atmete auf, als ihr gewahr wurde, dass alles in bester Ordnung war.

    «Wehe dir, wenn dem nicht so gewesen wäre. Du hättest deine Geburt verflucht, das schwöre ich dir.» Sie verschloss ihr geheimes Versteck sorgsam wieder und beseitigte alle Spuren, die allzu Neugierige auf gefährliche Gedanken bringen könnten. ‹Ist Sophie etwa eine Spionin aus dem Rat oder der Legra? Ich muss wissen, wer dahintersteckt. Niemandem darf die Absicht meines neuen, geheimen Planes bekannt werden. Koste es, was es wolle.

    Kapitel 2

    In der kleinen, praktisch eingerichteten Wohnung saßen sich Simons Eltern auf ihren Sesseln gegenüber, wobei jeder seinen Gedanken nachhing. Heike nippte an dem kaltgewordenen Kaffee, während in dem vollen Aschenbecher die nächste Zigarette von Thomas verglühte. Endlich brach Heike das Schweigen.

    «Sag mal, findest du nicht auch, dass sich unser Simon das letzte Mal merkwürdig verhalten hat? Ich versteh den Jungen manchmal wirklich nicht.» Thomas griff nach dem Rest seiner Zigarette, ehe er antwortete.

    «Na ja, er ist eben kein Junge mehr und geht schon lange seine eigenen Wege. Mit zweiunddreißig sollte man das von einem jungen Mann erwarten können.» Fahrig stellte sie ihre Tasse wieder auf den Tisch.

    «Du verstehst mich nicht. Ich habe einfach ein komisches Gefühl. Da stimmt doch irgendetwas nicht, das fühle ich ganz genau.» Er lehnte sich zurück in der Erwartung, ein länger dauerndes Problem zu seinem Sohn zu hören.

    «Schau mal, Heike: Simon hat seine Schule erfolgreich beendet und dann ein Studium absolviert, auch erfolgreich. Das ist doch schon mal was, oder?» Genervt warf sie sich in ihren Sessel zurück.

    «Ja, das weiß ich. Zum Glück ist er mit seiner Ex, dieser Eyleen auseinander. Die hat ihm nicht gutgetan.», eröffnete sie wieder ein neues Thema.

    «Dennoch, ich sage dir, diesmal stimmt irgendetwas nicht. Eine Mutter spürt so etwas.»

    «Meinst du, dass er sich wegen dieser Eyleen verändert hat? Ich glaube nicht. Oder was meinst du, was nicht stimmen soll?» Nachdenklich schaute Heike ihren Mann an:

    «Simon hat sich wirklich merkwürdig verhalten, als er das letzte Mal bei uns war. So, als ob er uns irgendetwas mitteilen wollte, es aber nicht aussprechen konnte. Ich meine, wenn wir ehrlich sind, hat Simon sich doch schon eine ganze Weile nicht mehr wie früher verhalten. Vor allem klagt er immer über diese Kopfschmerzen. Vielleicht ist er ernsthaft krank und traut sich nicht, es uns zu sagen? Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn.» Thomas nahm seine Frau in den Arm, um sie etwas zu trösten. Ängstlich sagte sie:

    «Hast du auch dieses Zucken in seinem Gesicht gesehen?»

    Kapitel 3

    Maria schaltete nach der Vorlesung den Beamer aus und fuhr ihren Laptop herunter, als ihr Steffens umständliches Hin und Her mit seinen Unterlagen auffiel, ohne dass er wohl jemals damit fertig werden würde.

    «Ist noch etwas, Steffen?» Maria bemerkte, wie er sie heimlich anschaute, ohne sich dabei verraten zu wollen.

    «Nein, nein, ich habe nur noch einmal über die Aufgabe nachgedacht. Ich bin schon weg… »

    Verlegen raffte er die Sachen zusammen und verschwand, nachdem er fast seinen Laptop heruntergeworfen hätte.

    «Vielen Dank, Frau Dr. Willhardt, Sie haben mir sehr geholfen. Wir werden das in der Arbeitsgruppe noch einmal im Detail durchgehen.» Maria konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

    «Gut, tun Sie das.»

    «Ja, ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Frau Doktor, bis dann am Mittwoch zur Klausur.» Verstohlen schaute sie ihm nach. ‹Schon süß, dieser Steffen. Schade, dass er ein Student ist. Ob er wirklich in mich verliebt ist? Wenn ich seine Augen so sehe, und wie oft er sich verhaspelt, wenn ich ihm nur eine einfache Frage stelle, dann könnte man es schon vermuten.

    Puh, endlich Wochenende! Die letzten Tage waren extrem anstrengend. Und dazu diese fürchterlichen Albträume. Vielleicht sollte ich doch noch einmal zum Arzt gehen und mich zum x-ten Male untersuchen lassen. Das kann doch nicht normal sein. Immer die gleichen Träume und das schon seit Monaten. Da soll man arbeiten können. Warum finden die nichts? Gut, dass wenigstens Philipp davon nichts bemerkt und in der Schule zurechtkommt. Meine Eltern sind immer für uns da, und besonders für Philipp. Sonst würde ich das alles gar nicht mehr schaffen. Seit ich diese Albträume habe und kaum noch richtig schlafen kann, hat meine Leistungsfähigkeit deutlich abgenommen. Jetzt ist erst einmal Wochenende, dann sehen wir weiter. Hoffentlich haben meine Eltern Philipp schon abgeholt.› Maria packte ihre Unterlagen zusammen und überlegte: ‹Ich könnte mich ja mal wieder mit Georg treffen, vielleicht hat er eine Idee, was meine ewig wiederkehrenden Träume zu bedeuten haben. Schließlich hat er Philosophie und Kommunikationswissenschaften studiert, bevor er sich entschlossen hat, zur Polizei zu gehen. Da müsste er eigentlich auch mit Träumen etwas anfangen können und mir sagen, was dieses furchtbare Durcheinander zu bedeuten hat. Na ja, seine Theorien hören sich ziemlich unwissenschaftlich an, diese fast schon esoterisch klingenden Vorstellungen, wie wir Menschen funktionieren sollen. Vor allem, das ständige Gefasel von der Bedeutung der Gefühle in der gesamten Kommunikation zwischen uns Menschen und der Gestaltung und Auslebung unserer Persönlichkeiten. Das hat doch keine wissenschaftliche Grundlage. Aber diese Albträume sind schon merkwürdig. Es ist, als ob zwei Geister in mir miteinander kämpfen würden. Furchtbar! Ich kann mir ja mal anhören, welche Ideen er dazu hat, vielleicht ist ja doch etwas Brauchbares dabei. Die Tabletten kann ich ohnehin nicht mehr sehen. Vor allem habe ich schon Magenbeschwerden von dem vielen Zeug. Das kann unmöglich eine Dauerlösung sein. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht ist Georg ja doch eine Hilfe.› Schnell verließ Maria das Unigebäude.

    Kapitel 4

    «Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Erfurt Hauptbahnhof. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung links. Sie haben folgende Anschlusszüge…» Es dauerte eine Weile, bis Simon wusste, wo er war. Schnell raffte er seine Sachen zusammen. Als er die Tasche nahm, um das Abteil zu verlassen, entdeckte er ein Päckchen unter dem Sitz, wo die Frau mit dem Jungen gesessen hatte. Er bückte sich, um es aufzuheben. Es stand weder eine Adresse noch ein Absender darauf. Ein Postpäckchen konnte es also nicht sein. Was war es dann? Unschlüssig, was er damit anstellt, ob er es auf dem Bahnhof abgeben oder liegen lassen sollte, drehte er es hin und her, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, der ihm weiterhelfen. Als er es sich dicht vor die Augen hielt, konnte er nicht glauben, was er da sah. Simon schaute, und noch einmal. Tatsächlich: Auf dem Papier war zwar schwer zu erkennen aber dennoch deutlich ein «R» eingraviert! ‹Sollte das etwa für mich sein? Das R, für Richter? Aber dazu müsste ja jemand meinen Namen kennen und auf das Päckchen drucken. Von der Unwahrscheinlichkeit, es hier im Zug, in dem Abteil zu hinterlegen ganz zu schweigen.› Er öffnete das Päckchen in der Gewissheit, dass ihn, nach allem, was ihm heute in den wenigen Stunden hier im Zug schon passiert war, nichts mehr erschüttern könnte. Doch was er jetzt sah, verschlug ihm den Atem: In dem Päckchen lagen Banknoten im Wert von mehreren tausend Euro, in kleinen Scheinen. Beim Betrachten der Geldscheine hielt er das Einwickelpapier zufällig etwas schräg, sodass das Licht in einem Winkel auftraf, der eine leichte Spiegelung erzeugte. ‹Steht da etwas?› Nachdem er die vor lauter Schreck heruntergefallenen Geldscheine wieder eingesammelt hatte, betrachtete er sich das Papier genauer.

    «Verwende es wohl!», las er.

    ‹Was soll ich wohl verwenden? Das viele Geld etwa? Das gehört mir doch gar nicht. Geld fällt nicht einfach so vom Himmel. Oder sollte es etwa Clarissa hier verloren haben? Was mache ich denn jetzt damit? Soll ich es behalten oder lieber abgeben?› Simon schaute sich um. Weder in seinem Wagon noch auf dem Bahnsteig war eine Menschenseele zu sehen. ‹Gut, dann nehme ich es erst einmal mit. Ich werde mir später überlegen, was ich damit mache.

    «Verwende es wohl!»,

    «Verwende es wohl!», das klingt ja wie in einem meiner Träume. Womöglich ist das Geld wirklich für mich bestimmt.›

    Bei den Recherchen zu seiner Unterkunft in Erfurt fand Simon das Wirtshaus Der Eisenhans, mitten in der Altstadt. ‹Der Preis ist zwar höher als außerhalb des Zentrums, doch hier kann ich leichter einen Bezug zu dieser Stadt aufbauen. So wurde es mir zumindest übermittelt, wenn man Träume überhaupt als eine Art von Informationsvermittlung bezeichnen kann.› Langsam machte er sich auf den Weg. ‹Mist, ich hätte doch mein Handy noch behalten sollen. So kann ich ja gar nicht nachsehen, wo ich hinmuss.› Simon beschloss, sich erst einmal ein neues Smartphone zuzulegen. Geld hatte er ja jetzt genug. Da die Freischaltung der Nummer etwas dauerte, musste er vorerst doch jemanden fragen. Die Verkäuferin erklärte ihm, dass er nur den Straßenbahnschienen zu folgen brauchte, über den Fischmarkt, den er an dem historischen Rathaus und dem Römer erkennen könnte.

    «Diese Statue wurde im Bauernkrieg 1525 bei einer Erhebung gegen Kurmainz auf Geheiß des Oberratsmeisters niedergerissen und am 6. November 1591 vor dem Haus zum Breiten Herd, an dem Sie direkt vorbeikommen, als Mann oder Römer neu erschaffen aufgestellt. Auf dem Fischmarkt biegen Sie rechter Hand in die Rathausstraße ab und kommen über den Benediktplatz zur berühmten Krämerbrücke, einem der bedeutendsten Wahrzeichen von Erfurt. Hinter der Krämerbrücke sehen Sie einen großen Spielplatz. Von dort sind es nur ein paar Schritte bis zum Eisenhans. Falls Sie sich verlaufen, können Sie jemanden fragen. Die Krämerbrücke oder das Rathaus kennt eigentlich jeder Erfurter. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Zeit in unserer Stadt.» Simon war schwer beeindruckt. ‹Wow, hier bekommt man nicht nur eine Auskunft, sondern gleich eine stadtgeschichtliche Beschreibung mit dazu. Das kann ja interessant werden. 1525 war das also. Warum kommt mir diese Zahl nur so bekannt vor. Wegen des Bauernkrieges? Es muss etwas Wichtiges sein, sonst wäre die Zahl nicht so präsent in meinem Kopf. Merkwürdig. Vielleicht fällt es mir noch ein.› Am Anger teilten sich die Straßenbahnschienen wie angekündigt in verschiedene Richtungen. Doch die Hinweisschilder zeigten ihm schnell wieder den Weg zum Fischmarkt, von dem es dann ja nicht mehr weit sein sollte. Die vielen historischen Gebäude um den Anger überraschten ihn. Auch wenn eine Großzahl moderner Gebäude, die allgegenwärtigen Klamottenläden und Restaurants ein buntes Gemisch ergaben, so überwog doch deutlich das altstädtische Flair. An der Schlösserbrücke wehte ihm der Duft von echten Thüringer Bratwürsten in die Nase, die ja ganz besonders schmecken sollen. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein kleines Café, welches seine Bestuhlung auf der Brückenseite direkt am Wasser angeordnet hatte. ‹Jetzt einen Kaffee trinken, das ist eine gute Idee.› Simon nahm an einem Tisch Platz, von dem aus er den Fluss betrachten konnte. ‹Wie viele schöne Frauen es hier gibt! Schon verlockend. Andererseits, bei der kurzen Zeit, in der ich wahrscheinlich nur hier bin, wird sich wohl kaum etwas ergeben. Und wenn, wo sollte es hinführen? Ah, verdammt, diese Kopfschmerzen, schon wieder. So langsam werde ich den Eindruck nicht los, dass sie nicht zufällig auftauchen, um dann genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Als wären sie eine Antwort auf meine Gedanken.› Erschrocken überlegte er. ‹Wann treten sie denn auf? Bei allem, was mit den verrückten Weisungen zusammenhängt. Eigentlich immer nur dann, wenn ich darüber nachdenke, sie nicht auszuführen. Genau dann schlagen die Drohungen mit aller Härte zu. Ich komme mir wie eine Marionette vor, an deren Fäden jemand zieht. Und nicht nur das: Einerseits werde ich ermuntert, diesen verrückten Anweisungen zu folgen und mein gesamtes bisheriges Leben aufzugeben. Andererseits ist da eine Stimme in mir, die mir deutlich und immer wieder sagt: Lass das, es ist zu gefährlich und nicht gut. Mann, diese Frau im Zug, das war ja gruselig. Erst redet sie ganz normal mit mir und dann verwandelt sie sich und es kommt diese Frau aus meinen Träumen zum Vorschein. In ihren Augen, das ist doch verrückt. …wehe, wenn du von dem Befehl abweichst…? Ob sie etwas damit zu tun hat? Ich kann mir das doch unmöglich alles nur eingebildet haben. Wenn ich nicht langsam Konkreteres erfahre, drehe ich noch durch.› Er bezahlte seinen Kaffee mit einem Schein aus dem Päckchen, um dessen Echtheit zu testen, während ein kleines Mädchen

    «Guck mal Mama, ein Ritter» rief. Simon lächelte ihr zu, während sie ihn glücklich anstrahlte. Nach wenigen Schritten war er an dem historischen Rathaus angelangt. ‹Da sind ja der Römer und das Haus zum breiten Herd. Es steht sogar groß dran. Bei uns in Bielefeld gibt es im Verhältnis zu hier fast gar keine historischen Gebäude mehr, das fällt richtig auf. Ich hätte mich doch vorher besser über diese Stadt informieren sollen.› In der Schildgasse bezog er seine Unterkunft. Die Ferienwohnung hatte den Namen Graf von Gleichen. Die anderen hießen: Löbertor, Neues Tor oder Schmidtstädter Tor. Doch ehe er die Sachen ausgepackt, und es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hatte, kam die Hausherrin.

    «Herr Richter, für Sie wurde ein Brief hinterlegt.» Erschrocken sprang er auf.

    «Ein Brief, für mich? Von wem denn?» Die Wirtin schüttelte nur mit dem Kopf.

    «Das kann ich Ihnen nicht sagen, eine junge Frau hat ihn nur abgegeben und ist dann gleich wieder gegangen.» Vor Schreck stotterte er nur herum.

    «Eine junge Frau, hat sie keinen Namen hinterlassen oder sonst irgendetwas?» Genervt antwortete die Wirtin.

    «Nein, sie hat nur darum gebeten, Ihnen den Brief zu übergeben, wenn Sie dann angekommen sind. Sie müssen sie doch kennen, wenn sie wusste, dass Sie heute hier sind.» Prüfend schaute sie ihn an.

    «Nein, ich kenne sie nicht. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer das sein sollte. Ich bin doch gerade erst hier angekommen. Wie sah sie denn aus?» Die Wirtin überlegte kurz.

    «Nicht groß, schlank, so um die Dreißig, eine nette junge Frau mit einem kleinen Jungen.» Verdutzt fragte er nach.

    «Sie hatte einen kleinen Jungen bei sich, so sieben Jahre alt?»

    «Ja, das könnte hinkommen, er war ungefähr in dem Alter. Der Kleine war ein richtig aufgeweckter Kerl. Also, kennen Sie die Frau doch?» Entschieden wehrte er ab.

    «Nein, ich bin nur im Zug hierher ein Stück mit einer Frau gefahren, die einen kleinen Jungen bei sich hatte und dann ausgestiegen ist. Wahrscheinlich war das aber nur ein verrückter Zufall. So etwas soll es ja geben.» Zögerlich nahm Simon den ominösen Brief entgegen.

    ***

    Im spärlichen Schein der flackernden Kerzen blätterte Runa gedankenversunken in ihren geheimen Pergamenten. Obwohl sie die Schriftrollen und Bücher mit größter Sorgfalt hütete, sendeten diese einen leicht modrigen Geruch aus. Zu allem Ungemach hatte Runa die unentwegt tropfenden Kerzen von den Pergamenten fernzuhalten. Nach der lautstarken Auseinandersetzung mit Sophie war im ganzen Haus kein Laut mehr zu vernehmen. Runa liebte diese Einsamkeit, um sich ihren geheimen Studien und Zeremonien zu widmen. Dennoch fühlte sie ein großes Unbehagen. ‹Wenn ich nur wüsste, was die neugierige Gans hier gesucht hat. Dieses Ding war mir ohnehin zu aufgeweckt für ein Weib aus der Gosse. Vor allem, da es mir nicht gelang, ihre Gedanken zu lesen. Allein dafür verdient sie die Folter. Ich werde es erfahren, und wenn ich sie in Stücke zerreißen lassen müsste.› Nach einer Weile versteckte Runa ihre Unterlagen wieder und setzte sich an den wärmenden Kamin. ‹Wenn mein Herr Vater ahnte, wie begierig ich seine Unterweisungen verfolge, wie schnell ich gelernt habe, was diese Sprüche und Formeln zu bedeuten haben, hätte er mich sicherlich nicht eingeweiht. Doch Mutter hatte mir bereits die geheimsten Dinge anvertraut, die kein Mann jemals erfahren wird. Wie weit ich ihm damals schon überlegen war, als er immer noch glaubte, die Macht in der Legra zu besitzen! Jetzt ist er nicht mehr als ein geduldeter Handlanger. Seit Mutters Tod ist er ein gebrochener Mann. Seine Machtstellung in der Legra hat er mir ja fast freiwillig abgetreten. Wie dem auch sei. Jetzt gebe ich diese Stellung, meine Macht nicht wieder her. Im Gegenteil›, donnerte es bedrohlich in ihrem Kopf. ‹Vielleicht sucht Sophies Auftraggeber einen Schwachpunkt oder er will wissen, wie ich meine Macht erhalten und ausbauen konnte, um sich ebenfalls dieser Fähigkeiten zu bemächtigen. Das würde wiederum auf Kreise innerhalb der Legra schließen lassen. Ich muss unbedingt mit Johannes darüber sprechen. Außerdem muss er wissen, dass der Auserwählte sich auf dem Weg befindet und alles Weitere vorzubereiten ist.› Nachdem sich Runa einen wärmenden Mantel umgeworfen hatte, nahm sie sich eine Lampe, öffnete die Geheimtür, die Sophie so dringend erkunden wollte und schloss sie leise hinter sich. Der kühle feuchte Geruch des unterirdischen Geheimganges zwang sie, sich die Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. Im Dämmerschein des flackernden Kerzenlichtes konnte sie die glitschigen und unregelmäßig ausgetretenen Stufen nur schwer erkennen. Runa tastete sich vorsichtig an den Wänden entlang, die mit eingravierten Zeichen den Weg beschrieben.

    «Wenn ich etwas hasse, dann sind es diese Viecher hier unten! Schlimm genug, in der stickigen Luft kaum atmen zu können, da muss man auch noch aufpassen, nicht ständig auf eines dieser widerlichen Biester zu treten. Aaaah, schon wieder! Jetzt hat mich das Mistvieh gebissen! Verdammt, das muss mir Johannes sofort behandeln, damit sich kein Wundbrand bilden kann.» In der Pergamentergasse endete der Gang. Runa verschloss den Eingang auf eine Weise, die nur ihr das Öffnen erlaubte. Selbst wenn jemand zufällig an diese Stelle gekommen wäre, so wäre er dennoch nicht in der Lage gewesen, den Eingang zugänglich zu machen. Auf diese Weise schützte die Legra ihre geheimen und unzugänglichen Gänge unterhalb der Stadt. So konnten ihre Mitglieder unerkannt an die vereinbarten Orte gelangen. Mit wenigen Schritten erreichte Runa über die Michaelisgasse St. Michaeli. Während der Nachtwächter die elfte Stunde ausrief, schlüpfte sie unbemerkt durch die rechte Seitentür in das Haus neben der Kirche hinein. Johannes erwartete sie bereits, entzündete ein paar Kerzen, legte Holz im Kamin nach und stellte den Wein zurecht.

    «Herrin, Ihr habt nach mir schicken lassen. Ich eilte, so schnell ich konnte.» Ungeduldig fuhr sie ihn an.

    «Zuerst müsst Ihr mich behandeln. Ich bin wieder von einem dieser ekelhaften Biester im Gang gebissen worden.» Runa legte ihr Bein frei, und Johannes betrachtete die Wunde, holte seine Reinigungsmedizin und Verbandsmittel, um die Rattenbisse sauber abzudecken.

    «Mein Verdacht hat sich heute bestätigt.» Begann sie ohne Umschweife.

    «Sophie?»

    «Ja, ich habe sie ertappt, wie sie sich in mein Gemach einschlich und sich an meinen geheimen Büchern zu schaffen machen wollte. Der Kerkermeister wird sich um sie kümmern und mir alles berichten, was er aus ihr herausbekommen hat.» Sie lachte gehässig.

    «Was meint Ihr, verehrter Johannes. Hat sie jemand beauftragt oder ist sie nur zu neugierig? Ich brauche Euren Rat und Eure Erfahrungen in diesen Dingen.» Johannes hielt sich jedoch zurück.

    «Habt Ihr bereits einen Verdacht, um wen es sich handeln könnte?» Runa platzte heraus.

    «Der Graf von Lehnhardt macht immer mal wieder Andeutungen, die zwar nicht den Codex verletzen, aber in ihrer Mehrdeutigkeit nicht zu überhören sind. Es wäre denkbar, dass er etwas plant: ein Komplott oder die Absicht, an mein geheimstes Wissen zu gelangen, um mir die Macht zu stehlen. Wie seht Ihr das? Ihr habt doch einen guten Kontakt zu dem Grafen.» Johannes hielt sich abermals zurück.

    «Ihr wisst, wie verschlossen der Graf ist, was seine Interessen angeht. Es gibt möglicherweise einen Weg, es herauszubekommen.» Neugierig schaute sie ihn an.

    «Nun sprecht frei heraus!»

    «Der Graf hat eine lebenslustige Tochter, die junge Adele. Sie pflegt das Gebot der Keuschheit recht großzügig auszulegen. Unser Pfarrer Andreas nimmt der Grafentochter regelmäßig die Beichte ab. Ich könnte mit ihm sprechen und ihn dazu bewegen, dass er etwas herausbekommt. Was seinen Preis hat, wie Ihr wisst.» Unwirsch schaute sie ihn an.

    «Ihr werdet es regeln!»

    «Sehr wohl», antwortete Johannes gelassen.

    «Es gibt einen anderen, wichtigeren Grund, weshalb ich Euch sprechen muss.»

    «Ist er auf dem Weg?» Johannes setzte sich auf einen Stuhl und wartete, bis Runa endlich weitersprach.

    «Ja, er ist in seiner Zeit gerade aufgebrochen. Ihr wisst: Nicht das Geringste darf misslingen.»

    «Seid Ihr denn gewiss, verehrte Runa, dass er den Anweisungen Folge leisten wird?» Genervt antwortete sie.

    «Ja. Ich erhielt Kunde, dass er nicht vom Weg abzuweichen wagt. Außerdem habe ich ihm durch die Botin eine milde Gabe zukommen lassen, die ihn gewogen stimmen dürfte.»

    «Eine kleine Gabe? Oh, wie großzügig von euch.» Missbilligend blickte sie ihn an.

    «Nun, für ihn ist alles soweit bereitet, nur für die Auserwählte fehlen noch Gewänder und Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die erst beschafft werden können, wenn sie hier ist. Ich muss dazu mit Magdalena sprechen, die sich um alles Nötige kümmern wird.»

    «Gut, dann tut es, aber schnell.»

    «Seid gewiss, es wird zu Eurer Zufriedenheit geschehen. Noch etwas? Sonst würde ich Euch für den Rückweg eine Tinktur mitgeben, welche die Plagegeister in den Gängen abhält, damit Ihr unbeschadet ankommt. Ich bitte Euch jedoch, größte Vorsicht walten zu lassen, die Wunden sind gefährlich, und ich könnte Euch nicht sofort die nötige Hilfe angedeihen.» Johannes übergab Runa ein Gefäß. Als Runa es öffnete, strömte ihr ein widerlicher Gestank entgegen.

    «Und das soll die Biester vertreiben?» Angewidert verschloss sie schnell das Gefäß.

    «Ihr werdet es sehen, auch wenn es natürlich keine vollständige Gewissheit gibt. Gott mit Euch.» Runa wandte sich zum Gehen.

    «Gott mit Euch, verehrter Johannes. Und lasst mich wissen, wenn Ihr neue Kunde vom Grafen habt.» In dem geheimen Gang öffnete Runa sofort die kleine Flasche, tränkte damit ein an einem Stock befestigtes Tuch und hielt es weit vor sich. Wieder einmal war sie von Johannes› Kenntnissen und alchimistischen Fähigkeiten beeindruckt. Wo er doch als der Mann der Zahlen galt, der eng mit Adam Ries zusammenwirkte, um neue Rechenwege zu erdenken. Runa kostete die Genugtuung aus, dass sie einen Gelehrten wie ihn an ihrer Seite wusste.

    Kapitel 5

    Simon war noch immer damit beschäftigt, sich in seinem neuen Zuhause einzurichten, obwohl er begierig war, zu erfahren, was in diesem Brief stand. Vor allem wollte er wissen, von wem er sein könnte. ‹Wie kann jemand hier für mich einen Brief hinterlegen? Warum wurde er überhaupt persönlich abgegeben, haben wir keine Post mehr, die Briefe zustellt?› Als er den Umschlag umdrehte, wurde ihm klar, woher das ungewöhnliche Gewicht kam: Der Brief war mit einem dicken Siegel versehen, wie man es nur aus Museen oder alten Filmen kannte, um Geheimnisse vor dem Zugriff anderer zu bewahren. Oder aber, um damit nachzuweisen, dass die Nachricht wirklich von dem angegebenen Absender stammte und keine Fälschung sein konnte. ‹Was soll das denn?› Er betrachtete das Siegel genauer. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu sehen, alles war so winzig klein, dass man es kaum erkennen konnte. Er holte seine Lupe aus dem Rucksack, um das Siegel genauer zu untersuchen. ‹Das kenne ich doch. Das habe ich doch schon mal irgendwo gesehen!›

    «Das ist doch nicht etwa… ?» Schweißgebadet suchte er den Bogen Papier heraus, in dem das Geld eingewickelt gewesen war, riss es aus dem Rucksack und faltete es mit zitternden Händen glatt, um das Zeichen besser erkennen zu können.

    «Tatsächlich, genau das gleiche R. Nur einmal als Wasserzeichen und jetzt als Siegel auf dem Brief. Ich werd’ verrückt.» Kopfschüttelnd ließ er sich auf sein Bett fallen. ‹Überlegen wir mal in Ruhe: Die Frage ist erst einmal, ob dieses R ein Hinweis auf mich ist, oder ob es etwas anderes bedeutet. Warum sollte jemand ein Siegel verwenden und den Buchstaben in das Papier prägen lassen, wenn es dabei um eine ganz andere Person geht? Vielleicht ist es doch nur ein reiner Zufall, dass dieses R mit dem Anfangsbuchstaben meines Namens zusammenfällt? Namen, die mit R beginnen, gibt es schließlich genug. Aber warum bekomme gerade ich das Geld und den Brief, noch dazu mit genau dem gleichen Siegel? Und der Text: Verwende es wohl.› Endlich brach er das Siegel, riss den Umschlag auf, doch er konnte den Brief gar nicht lesen. Die Schrift kannte er zwar von seinen Großeltern, aber er hatte nie gelernt, sie zu entziffern.

    «Was soll dieses blöde Versteckspiel? Können die Idioten nicht Klartext schreiben? Vor allem: Welchen Sinn soll es haben, mir einen Brief zu schicken, in einem versiegelten Umschlag, den ich gar nicht lesen kann? Langsam habe ich dieses Theater aber gründlich satt.» Wütend knallte er den Brief in die Ecke, rannte im Zimmer hin und her, schaute aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Er stellte das Radio laut, in der Hoffnung, durch die Musik auf andere Gedanken zu kommen, doch die Unruhe ließ sich nicht vertreiben.

    «Ich muss hier raus, ich muss an die Luft.» Ohne darüber nachzudenken, hob er den Brief wieder auf, steckte ihn ein, schnappte sich seine Jacke und war schon fast auf der Straße, als ihm Frau Schlüter über den Weg lief und sich erkundigte, ob alles so in Ordnung sei. Simon griff die Gelegenheit beim Schopf.

    «Ja, alles bestens, aber, Frau Schlüter, vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich habe ja diesen Brief bekommen, nur kann ich die Schrift nicht lesen. Ich weiß, meine Oma konnte so schreiben, aber ich habe das nie gelernt.» Frau Schlüter musste ihren Kopf verdrehen, da er den Brief so hielt, dass die neugierige Frau zwar die Schrift gut erkennen, den Inhalt aber nicht lesen konnte. Doch sie wehrte ab.

    «Oh, da müssen Sie meinen Chef fragen, der kennt sich mit alten Schriften gut aus. Aber der ist jetzt die nächsten vier Wochen erst im Urlaub und dann unterwegs zu Kongressen und Schulungen, soviel ich weiß. Der kommt so schnell nicht wieder. Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.»

    «Danke trotzdem, vielen Dank, auf Wiedersehen.» Mit wenigen Schritten war er aus der Tür, um im nahegelegenen Gasthaus Roter Elephant zu verschwinden. Simon suchte sich einen Platz im Obergeschoss, welches mit seinen dicken, grob gerissenen Balken ein urtümliches Flair verströmte. Die Tische und Bänke waren in der gleichen altertümlichen Weise gestaltet worden. Eine nette junge Studentin, die sich hier noch ein paar Euro dazuverdiente, kam an seinen Tisch.

    «Na, wo kommst du denn her?», spöttisch lächelnd schaute sie auf sein doch außergewöhnliches Outfit. Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, bestellte er sein Bier und hing weiter seinen Gedanken nach. ‹Ich muss jemanden finden, der sich mit solchen Schriften auskennt. Wer weiß, was in dem Brief steht. Bisher ist alles doch sehr vage: das Geld im Zug, die merkwürdige Frau mit dem kleinen Tommy, die offensichtlich diesen Brief abgegeben hat, und das Geld. Verfolgt mich etwa jemand auf Schritt und Tritt? Wer sollte das tun? Und warum? Vielleicht sind ja diese Weisungen doch nicht so absurd, wie es erscheint, und das Geschehene ergibt durchaus einen Sinn? Ich kann ihn nur noch nicht verstehen, weil ich nur ein winziges Bruchstück des Ganzen erkenne. Allein die Frau im Zug und den Brief so zu koordinieren, erfordert schon einen enormen logistischen Aufwand. Ich hätte ja auch einen Tag, eine Woche oder nur eine Stunde früher losfahren können, dann wäre weder der Brief rechtzeitig in der Pension gewesen, noch hätte ich die Frau im Zug getroffen. Woher konnte nur irgendjemand wissen, was ich vorhabe, und vor allem, zu welchen Zeiten ich wo sein werde?› Er nahm einen kräftigen Schluck und überlegte weiter. ‹Okay, mal völlig absurd gesponnen: Ich bin gar nicht zufällig aufgebrochen, sondern unbemerkt genau einem Plan gefolgt. Diesen Weisungen, wie es immer heißt. Aber das wäre ja gruselig. Das würde ja bedeuten, dass über meine Träume, Fantasien, mein ganzes Tun manipuliert wurde. Ja sogar die Kopfschmerzen das Ergebnis bewussten Handelns sein könnten. Damit wäre ich wie eine Marionette im Netz. Ich muss da raus, ich muss da sofort wieder raus!› Entschlossen ergriff er sein Glas.

    «Ahhh, verdammter Mist, wollen die mich umbringen?» Simon erfassten so heftige Schmerzen, dass ihm die Luft wegblieb. Er schrie auf, rang nach Luft, fiel mit dem Kopf auf den groben Holztisch, verdrehte die Augen und gab nur noch unverständliche Laute von sich. Die eilig herbeigerufene Kellnerin war gerade im Begriff, den Notarzt anzurufen, als Simon wieder zu sich kam.

    «Nein, danke, ich brauche keinen Arzt. Mir geht es schon gut, vielen Dank.» Er fuchtelte unkontrolliert in der Luft herum, als wollte er unsichtbare böse Geister vertreiben.

    «Könnte ich ein großes Glas Wasser bekommen?»

    «Ja, sofort, ich bringe es gleich.» Die freundliche Studentin warf ihm einen zweifelnden Blick zu, bevor sie davoneilte.

    ***

    In dem dunklen Gewölbe, wo jedes Wort metallisch hart von den kahlen Wänden widerhallte, warfen die Fackeln und Kerzen nur ein spärliches Licht. Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, verharrten die vermummten Gestalten um den sich in der Mitte des Raumes majestätisch erhebenden Schrein.

    «Zeigt Euer Antlitz und gelobt der Herrin der Legra Eure unverbrüchliche Treue und Ergebenheit. Seid gewiss, jedem Verrat folgt grausame Bestrafung», sprach die erhaben wirkende Gestalt von der Empore herab.

    «Ja, oh Herrin der Legra, unsere Treue sei Euch gewiss.»

    «So sei es denn. Ich habe gute Kunde zu geben.» Die einsetzende Stille dehnte sich durch das monotone Klatschen der Tropfen auf den Steinboden zur Ewigkeit. Selbst der Atem erzeugte einen unwirklichen Hall. Jeder spürte die durchdringenden eisernen Blicke, die Gedanken lesen und jede noch so feine, ungewollt scheinende Abweichung registrieren könnten. Wer Arges im Sinne führte, sollte seine Gedanken hier im Zaum halten. Endlich ward das Schweigen gebrochen.

    «Die Macht der Legra steht vor einem neuen Zeitalter. Alles verläuft so, wie ich es bisher verkündet habe», mit diesen Worten ließ Runa ihren Blick von einem zum anderen schweifen.

    «Graf von Lehnhardt, Ihr wagt es, zu zweifeln?» Der Angesprochene zuckte zusammen, während sich die stechende Stimme wie ein Stilett in seine Eingeweide bohrte. Ihm war bewusst, was mit jenen geschah, die sich der Herrin der Legra widersetzten.

    «Nein, keine Zweifel, oh Herrin der Legra, ich bewundere die Kühnheit Eures Tuns», erwiderte er hastig, um sich schnell aus der Affäre zu ziehen. ‹Wie war es nur möglich, sich meiner Gedanken so unmittelbar zu bemächtigen? Ich hatte sie ja nicht einmal zu Ende gedacht, ich hatte eigentlich gar nichts gedacht. Sollte sie wirklich über diese mystischen Kräfte verfügen, von denen man nur hinter vorgehaltener Hand unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit spricht?›, las sie heimlich seine Gedanken.

    «Ja, Lehnhardt, so ist es. Und hütet Euch, ich habe Euch scharf ins Auge genommen.» Mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab, um fortzufahren.

    «Erfüllt Euer Tagwerk, es gibt noch viel zu tun. Das gemeine Volk muss auf die Ankunft der unbekannten Fremden vorbereitet werden. Ich verkündete Euch schon mehrfach die Bedeutung und Wichtigkeit der Ankömmlinge, mit denen ich meine Macht auf eine Weise ausdehnen werde, die jede Eurer armseligen Vorstellungskräfte sprengen dürfte. Verfahrt wie befohlen. Unter keinen Umständen darf es erneut misslingen. Gregorius, Senator, wie weit ist die Beschaffung der fremdartigen Gewänder vorangeschritten? Das Volk muss an die Andersartigkeit gewöhnt werden. Es darf kein Aufruhr entstehen, der unseren Delinquenten wieder in den Kerker und fast als Ketzer auf den Scheiterhaufen bringt, wie es bei diesem Matthias geschah.» ‹Wie konnte ich nur so dumm sein, ein Mannsbild für meine Pläne auszusuchen. Solch ein Fehler darf mir nicht noch einmal passieren.› Sie schaute in die Runde. «Antonius, wo ist dieser Kerl abgeblieben?»

    «Oh, Herrin der Legra, ich habe keine Kunde mehr von ihm, seit er unsere Stadt verlassen hat. Dem Vernehmen nach hält er sich mit einigen anderen Abtrünnigen in den Ruinen der Wachsenburg versteckt. Wie Euch bekannt, ist die Gegend für uns nicht mehr zugänglich. Seit die Bauernunruhen immer stärker geworden sind, haben wir keine Kontrolle mehr über das Gebiet, oh Herrin der Legra.» Harsch unterbrach sie ihn.

    «Ja, ich weiß, diese Bauerntölpel werden immer dreister. Wir kümmern uns zu gegebener Zeit darum.» Sie wandte sich an einen anderen der Männer.

    «Das ist wohl eine Folge Eurer neuen Geistlichkeit, Hewolan?», griff sie den Angesprochenen scharf an.

    «Ich hoffe, Ihr behaltet die Entwicklungen unter Kontrolle, sonst muss die Legra einschreiten.» Dr. Hewolan regte sich, um Widerstand zu äußern, doch ein Blick, der keine Zweifel ließ, zwang ihn innezuhalten.

    «Gregorius, wie werdet Ihr verfahren?», erhob sie donnernd erneut das Wort.

    «Oh Herrin der Legra, wie befohlen, wird in den nächsten Monden vielerlei fahrend Volk in die Stadt kommen. Sie werden Gewänder fremder Kulturen tragen und fremdländische Worte den Ohren nahebringen, um das Volk der Stadt und Umgegend, auf die zu erwartenden Fremden vorzubereiten. Tuche, wundersame Dinge und sogar ein paar Wilde, die aus der Neuen Welt mit herübergebracht wurden, werden Teil des Spektakels sein. Die befohlene strengste Verschwiegenheit ist gewahrt, da niemand die wahren Hintergründe all dieser Vorgänge kennt.» Zufrieden nickte die Herrin.

    «So sei es denn. Doktor Hewolan, spreche er zum Stand der neuen Geistlichkeit sowie deren Verbreitung. Wir müssen genau erfahren, ob die neu geschaffene Wahrheit die erhofften Wurzeln schlägt. Die Zeit der uneingeschränkten Herrschaft des Klerus muss ein Ende haben. Spreche er!» Der Angesprochene erhob sich, drehte sich, ohne sie, die Herrin, gebührend zu würdigen, zu den Anwesenden, um seine Rede zu beginnen.

    «Die von mir vertretenen und der Allgemeinheit kundgetanen Bekenntnisse werden trotz allen Widerstandes weiterverbreitet und heftig debattiert. Dank der neuen Drucktechnik konnten auch meine Thesen in viele Hände gelangen.»

    «Ihr sprecht zu mir, Hewolan, vergesst das nicht!», unterbrach die Herrin donnernd seine Worte.

    «Ich war es, die Euren Schutz auf der Burg befahl und ausführen ließ, und ich befinde auch darüber, ihn zu widerrufen!» Obwohl er diese Zurechtweisung provoziert und damit erwartet hatte, erschreckte ihn die Schärfe ihrer Worte. Wusste er doch zu genau um seine Abhängigkeit von der Legra. Auch wenn ihm die Untertänigkeit zutiefst verhasst war, musste er sich der Herrin beugen, wollte er nicht seine körperliche Unversehrtheit gefährden. Er wäre nicht der Erste, der ihre Stärke zu spüren bekommen hätte.

    «Oh Herrin der Legra, ich bitte untertänigst um Vergebung. Ich weiß um Eure Macht und Güte und werde mich hüten, Euch Ungemach zu bringen. Vergebt Eurem treuen Diener der Legra.» Mit einer verbeugenden Geste des Gehorsams ging er einen Schritt zurück, um seine Worte an die Herrin zu richten.

    «Insbesondere die öffentliche Verbrennung meiner Bann-Bulle zeigte: Ich werde der Macht nicht nachgeben. Dieser Akt hatte eine signalgebende Wirkung auf viele Studenten, Geistliche und selbst auf Teile des Adels. Aus Gründen der Geheimhaltung sind weitere Schriften anonym verfasst, die Botschaften aber umso deutlicher. Meine Thesen werden nicht ignoriert werden können. Der neue Geist hat die Köpfe und die Herzen zu vieler Menschen ergriffen, als dass sie wieder untergehen könnten. Dessen bin ich mir sicher, Hoher Rat der Legra.» Die Herrin nickte gnädig.

    «Senator, wie steht es um das Aufbegehren des Bauernpöbels, welchen Einfluss haben dieser Pfeiffer und der Müntzer, sprecht!»

    «Oh Herrin der Legra, die steigenden Steuern, Abgaben, Ablassbriefe und die Verluste der Missernten der letzten Jahre haben zu großem Leid und Unzufriedenheit unter den Bauern geführt. Viele können ihre Familien nicht mehr ernähren, sodass sie in ihrer Verzweiflung zu den Waffen greifen. Die Aufstände der Bauernhaufen haben bereits das ganze Land erfasst. Sie brandschatzen, belagern, plündern und zerstören Burgen und Klöster. Pfeiffer und Müntzer sind dabei aufwieglerische Rädelsführer, die die Bauern mit dreisten Forderungen weiter anstacheln und zum Widerstand gegen die von Gott gewollte Obrigkeit aufhetzen. Aber das Gefährlichste an ihnen ist der Versuch, die noch immer einzeln kämpfenden Bauernhaufen zusammenzuschließen, um eine einheitliche Streitmacht mit Waffen und schwerem Kriegsgerät zu schaffen. Teilweise ist es ihnen sogar schon gelungen, Soldaten und erfahrene Kriegsführer für ihre Sache zu gewinnen und in ihre Haufen aufzunehmen, um von ihnen die Kriegskunst zu erlernen. Die Lage wird zunehmend ernster, auch wenn es bisher stets gelungen ist, ihre geheimen Pläne in der Beichte zu erfahren und so zu durchkreuzen.»

    «Wir werden dies im Auge behalten, verehrter Senator.» Sie nickte ihm gnädig zu.

    «Philippus, haben wir die Gedanken und die Gefühlswelt des Volkes fest unter Kontrolle?»

    «Oh Herrin der Legra, wie bereits berichtet, begehrt

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