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Keine Angst vorm Fliegen: Der Roman
Keine Angst vorm Fliegen: Der Roman
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eBook545 Seiten7 Stunden

Keine Angst vorm Fliegen: Der Roman

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Über dieses E-Book

Achim, ein erfolgreicher Arzt, und Ellen, eine umtriebige Managerin, fühlen sich magisch voneinander angezogen und alles ist fast wie immer, wenn ein Mann und eine Frau sich begegnen. Aber Achim ist 57, Ellen 25, als sie zum ersten Mal aufeinandertreffen. Auf den ersten Blick scheint alles wie pure Klischees: Forever-Young-Syndrom, Torschlusspanik oder gar Vater-Komplex? Doch die beiden lassen sich auf etwas ein, was eine ungeahnte Entwicklung nimmt. Sie lassen alles hinter sich und erleben auf einer Reise um die Welt eine Vielzahl von abenteuerlichen Geschichten, unzählige witzige und emotionale Episoden. Aber vor allem erleben und leben sie eine Beziehung auf Augenhöhe und eine unbeschreibliche, einzigartig tiefe Liebe. Sie überschreiten auf der Suche nach einer neuen Zukunft nicht nur Ländergrenzen, sondern auch Konventionsgrenzen und vor allem die Grenzen des eigenen Bewusstseins.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2015
ISBN9783732359714
Keine Angst vorm Fliegen: Der Roman
Autor

Ellen Kuhn Joachim Materna

Ein Buch - zwei Autoren. Jedes Wort, jeder Satz, jedes Kapitel ist die Fusion der Gedanken und Formulierungen zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts. Ein Paar, das nicht nur das gemeinsame Leben teilt, sondern auch die Leidenschaft zur Literatur und zum Schreiben. Ellen Kuhn studierte Betriebswirtschaft, bevor sie als CSR- und Eventmanagerin in einem international ausgerichteten Unternehmen tätig war. Dr. Joachim Materna studierte Medizin, bevor er als Facharzt für Innere Medizin nach einigen Klinik-Jahren eine eigene Praxis leitete. Alleine und gemeinsam verschlingen sie Unmengen an Büchern bis sie zu dem Schluss kommen, dass auch ihre eigene Lebensgeschichte einen exzellenten und außergewöhnlichen Stoff für einen autobiografischen Beziehungsroman bietet.

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    Buchvorschau

    Keine Angst vorm Fliegen - Ellen Kuhn Joachim Materna

    Teil I

    „Oh Mann, ich kann nicht mehr!"

    Die Worte kamen kraftlos, mehr wie ein hilfloses Stöhnen. Achim saß auf der Bettkante, sein Kopf lag auf Ellens Schulter. Unter dem Gewicht seines nach vorne gebeugten Oberkörpers gerieten wir beide leicht ins Wanken. Vor dem Bett kniend spürte Ellen, dass Achims Kräfte schwanden und es auch ihr zunehmend schwerer fiel, ihn zu halten und dabei noch klare Gedanken zu fassen. Sie versuchte ihn zu schütteln, ihn zu erreichen, ihn vor der drohenden Ohnmacht zu bewahren.

    „Was soll ich tun? Achim, was soll ich tun?"

    Hilflos schweifte ihr Blick durch die Klosterzelle. Die kühle Neonlampe verbreitete ein trostloses Licht in dem kargen, weiß gekalkten Raum. Gerne hätte sie etwas unternommen, etwas getan, um ihm zu helfen, um sein Leiden zu mindern. Es tat ihr weh zu beobachten, wie er sich von Minute zu Minute mehr unter den Schmerzen krümmte.

    Auch sie selbst spürte, wie viel Energie sie die letzten Stunden gekostet hatten. Es muss Mitternacht gewesen sein, als Ellen wach wurde, obwohl Achim versucht hatte, rücksichtsvoll leise zu sein.

    „Ich denke, es ist nur eine harmlose Magen- und Darmverstimmung" hatte er anfangs noch vermutet. Dann aber wurden die Schmerzen zu Krämpfen - Krämpfe, die ihn zwangen, sich wie ein Embryo auf dem klapprigen Bettgestell zu krümmen.

    Auf seinen Wunsch hin hatte Ellen immer mehr Medikamente aus der Notfall-Box geholt, die sie lange vorher für ihre Reise zusammengestellt hatten. Sicher war es jetzt auch die Menge an schmerzstillenden, betäubenden und krampflösenden Mitteln, die ihn in einen Zustand nahe der Apathie gebracht hatten.

    ‚Was würde ich in Deutschland tun?‘, dachte sich Ellen, wohlwissend, dass es nun an ihr lag, möglicherweise lebensnotwendige Entscheidungen zu treffen.

    Sie griff zum einzigen Handy, dass hier oben, fernab jeglicher Zivilisation noch ein bisschen Empfang hatte. Sie wählte die Nummer der deutschen Hotline.

    „Didiid - didiid - didiid - didiid…".

    „Guten Tag, mein Name ist Susanne Uhlmann, wie kann ich Ihnen helfen?"

    Nach der ersten Erleichterung über die schnelle Verbindung kam die Ernüchterung.

    „Ich sitze hier nur in der Zentrale Ihrer Auslandskrankenversicherung. Ihren Beschreibungen nach zu urteilen, sollten Sie möglichst schnell ein Krankenhaus aufsuchen! Aber wirkliche Informationen zu ihrem Land habe ich ehrlicherweise hier nicht vorliegen."

    Jetzt war Ellen endgültig klar, dass es alleine an ihr lag, weitere Entscheidungen über die nächsten Schritte zu treffen, was ihren Adrenalinspiegel auf ein Maximum ansteigen ließ.

    ‚Eigentlich ist das doch mein Alltag’ ging ihr durch den Kopf. Das Meistern von akuten Problemsituationen unter Zeitdruck und das spontane Finden von Lösungen war ihr täglich Brot. Doch jetzt ging es schließlich um den Mann, den sie liebte, nicht um irgendeine berufliche Herausforderung. Und dann auch noch hier. Eingeschlossen in ein Klostergebäude, mitten in den Bergen, draußen eiskalte Nacht, keine Ahnung, auch nicht im Ansatz, wo das nächste Krankenhaus sein könnte - da war ihr ganzes Können an Management gefragt.

    „Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr! Ich will einfach nur, dass es aufhört." Achim stand mittlerweile über das Waschbecken gebeugt und gab eine große Menge des Abendessens und der eingenommenen Medikamente von sich. Reis und Spinat hatten schon beim Abendessen nicht sehr appetitlich ausgesehen. In der jetzigen Form löste das Gemisch auch bei Ellen sofortige Übelkeit aus.

    „Ich danke Dir für alles, was Du gerade für mich tust. Es tut mir wahnsinnig leid", presste Achim zum wiederholten Male schwach heraus, während er sie mit seinen glasigen Augen hilfesuchend anblickte.

    Ellen griff erneut zum Handy. Ihre Hand zitterte, als sie die Nummer der Oberin wählte. Wie einfach wäre es gewesen, nur vom Gästehaus ins Hauptgebäude hinüber zu gehen, aber wie jede Nacht waren alle Türen verschlossen. Sie hoffte inständig, dass ihr Anruf um drei Uhr morgens wahrgenommen würde. Das Läuten dauerte eine gefühlte Ewigkeit.

    „Didiid - didiid - didiid - didiid - didiid - didiid - didiid…".

    In ihr erstarb jede Hoffnung. Plötzlich das sehr verschlafene, aber erlösende „Hello…, … here is … Ani Phuntsok".

    Die Schritte der nächsten Minuten griffen wie Zahnräder ineinander und waren eine Mischung aus rationalen klaren Überlegungen und automatischen Reflexen - so, wie es nur in Extremsituationen möglich ist. Es war, als ob man als Außenstehender Filmsequenzen an sich vorbei ziehen sieht. Während sich eine Schwester ins Tal aufmachte, um den einzigen Fahrer für den einzigen Geländewagen in der Gegend zu holen, fragte Ellen Oberschwester Ani Phuntsok nach der bestmöglichen medizinischen Hilfe. Mittlerweile hatten sich - geweckt durch den ungewöhnlichen nächtlichen Lärm in den Mauern des sonst so ruhigen buddhistischen Klosters - immer mehr besorgte Schwestern und die einzigen beiden für die Sicherheit der Nonnen zuständigen Männer eingefunden. Begleitet von dieser aufgeregten Gruppe kehrte Ellen ins Zimmer zurück, um Achim zu holen.

    „Kein Problem, ich kann laufen", lallte dieser mit verwaschener Sprache, um schon beim ersten Versuch den Männern in die Arme zu fallen.

    Als sie endlich mit Achim im Jeep saß, hätte Ellen nicht mehr nachvollziehen können, wie sie es geschafft hatten, aus dem Zimmer die vielen steilen Treppen bis zum Hof hinunter zu kommen. Schon jetzt empfanden wir beide große Dankbarkeit für das, was diese Menschen mit ihrer Warmherzigkeit für uns taten.

    Was dann folgte war mehr ein Ritt auf einem Wildpferd als eine Autofahrt. Der Jeep wankte in den scharfen steilen Kurven hin und her, sackte in den von Regenbächen ausgewaschenen Querrillen des Lehmuntergrundes plötzlich durch, um im nächsten Augenblick in Schlaglöcher groß wie Krater hinein zu donnern, was alle vier Insassen gegen die Decke schleuderte. Der Fahrer hatte offensichtlich ernsthafte Absichten, seine Qualitäten als Notarztfahrer unter Beweis zu stellen.

    Erst nach 45 Minuten erreichten wir einen Untergrund, der einer befestigten Straße glich. Im Scheinwerferlicht tauchten vereinzelte Hütten auf. Die ganze Zeit über hatte Ellen Achims Hand gehalten, seinen Kopf gestützt und ihn, so gut es ging, festgehalten, um ihm die schlimmsten Schläge zu ersparen. Auch Ani Phuntsok auf dem Beifahrersitz drehte sich immer wieder besorgt um.

    „Alles wird gut! Wir stehen das gemeinsam durch!", flüsterte Ellen. Achim schenkte ihr dafür ein dankbares, liebevolles Lächeln. Man spürte wie er versuchte, wahrzunehmen und zu verstehen, was um ihn herum geschah.

    Endlich sahen wir alle die ersehnten ersten Häuser von Kathmandu.

    Die Millionenstadt war wie ausgestorben. Auf den Straßen kein einziges anderes Fahrzeug. Für unseren Fahrer wurde ein Traum wahr. Er konnte mit fast 100 km pro Stunde durch das Zentrum seiner sonst so verstopften Hauptstadt rasen. Nur ganz vereinzelt sahen wir im Scheinwerfer des Wagens verhüllte Gestalten auf den Seitenstreifen. Die Stadt lag im Dunkeln. Keine Straßenlaternen. Nur hin und wieder ein paar beleuchtete Fenster oder Hauseingänge.

    Ani Phuntsok schien unsicher und lies den Fahrer mehrfach wenden. Schließlich bogen wir in eine Nebenstraße ein. Zum ersten Mal konnten wir auch Details von Häusern erkennen. Erschreckende Details, denn wir sahen nur heruntergekommene, sehr niedrige Lehm- und Backsteinfronten, oft unverglaste Fensterlöcher, Wellblech-Dächer, kleinere und größere Müllberge vor den Häusern und neben der Straße. Der Asphaltbelag war wieder einer von Schlaglöchern durchsetzten Lehmpiste gewichen. Wenn das Auto langsamer wurde, blickten uns gelegentlich aus dunklen Gassen schwarze Augenpaare entgegen.

    Wir schauten uns an und dachten in diesem Augenblick beide das Gleiche.

    ‚Bitte lass das Krankenhaus nicht hier sein!‘

    Je weiter sich unsere Fahrt hinzog, umso stärker wurde unser inneres Flehen nach einem Wunder. Und irgendjemand schien uns erhört zu haben. Nach einer der vielen Kurven durch die schmalen Gassen in finsterer Umgebung öffnete sich plötzlich völlig unerwartet ein weites Feld, in dessen Mitte ein hell erleuchtetes, sehr modern wirkendes Hospital zum Himmel aufragte. Für uns fühlte es sich an, als wäre ein Raumschiff gelandet.

    „Ja, sagte die Krankenschwester am Empfang. „In der Tat ist das Grand International Hospital erst ein Jahr alt und das modernste Krankenhaus in ganz Nepal. Rettungshelikopter bringen uns Patienten aus dem gesamten nepalesischen Himalaya. Der Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar. Dann wandte sie sich aber wieder Achim zu, der zwischenzeitlich halb entkleidet auf einem weißen Krankenhausbett in der Ambulanzstation lag, um ihren Aufnahmebogen zu komplettieren.

    „Aus welchem Land kommen Sie?"

    „Aus Deutschland, wir sind erst seit drei Tagen in Nepal."

    „Alter?"

    „Neunundfünfzig."

    „Oh, wirklich?", rutsche ihr mit Blick auf seinen muskulösen Oberkörper heraus. Trotz der angespannten Situation schauten wir uns alle drei an und lachten. Wieder ganz die Sachliche fuhr sie fort.

    „Frühere Krankheiten?"

    „Keine."

    „Regelmäßige tägliche Medikamenteneinnahme?"

    „Keine."

    „Allergien oder Unverträglichkeiten irgendwelcher Art?"

    „Keine."

    In diesem Moment wurde neben uns ein bewusstloser nepalesischer Patient eingeliefert, dem es offensichtlich noch schlechter ging. Die Aufmerksamkeit des gesamten Personals richtete sich sofort komplett auf ihn. Dafür hatten wir vollstes Verständnis, zumal Achims Krämpfe sich in den letzten Minuten etwas beruhigt hatten. Zum ersten Mal ergab sich die Gelegenheit, unsere Umgebung zu erkunden. Ein großer heller Raum mit sechs Betten, die alle einen sauberen und technisch gut ausgestatteten Eindruck machten. Die Wartezeit nutzten wir außerdem, um in einen erschöpften kurzen Tiefschlaf zu fallen, Achim in seinem Bett, Ellen sitzend auf dem Stuhl daneben. Ihr Kopf fiel immer wieder auf ihre Brust. Es war mittlerweile fünf Uhr morgens.

    Mit schnellen Schritten wurde der andere Patient schon nach kurzer Zeit wieder aus unserem Raum herausgeschoben. Jetzt hatte der Ambulanzarzt erstmalig die Möglichkeit, sich uns zuzuwenden.

    „Was sind Ihre Probleme?"

    Er machte einen sympathischen Eindruck, war vielleicht Mitte dreißig, Nepali und hatte in Armenien Medizin studiert. Seine gesamte Erscheinung strahlte trotz unübersehbarer Spuren der Müdigkeit Zugewandtheit, Ruhe und seriöse Kompetenz aus.

    „Ich bin in Deutschland Internist, spezialisiert auf Nephrologie und Kardiologie. Meine Anamnese ist völlig leer, ich war mein Leben lang gesund und treibe regelmäßig Sport. Seit etwa vier Stunden habe ich abdominelle Spasmen, die sich seit etwa zwei Stunden kolikartig nach links dorsal lokalisiert haben. Ich vermute eine akute Nephrolithiasis links. Ich habe einen Combur-9-Test dabei. Der war zwar negativ und zeigte keine Erythrozyten, aber die Symptomatik ist ziemlich pathognomonisch. Ich habe bisher sechs Tabletten Butylscopolamin, vier Tabletten Novaminsulfon und zwei Tabletten Paracetamol genommen, leider ohne wesentlichen Effekt. Könnten Sie mir bitte 40 mg Butylscopolamin und 500 mg Novaminsulfon intravenös als NaCl-Infusion geben?"

    Die Verblüffung über dieses medizinische Statement huschte allenfalls kurzfristig über das Gesicht des jungen Mediziners. Dann war er wieder vollständig Profi und begann äußerst kooperativ mit einer sachlichen Untersuchung, die mit einer Blutabnahme abschloss. In sehr netter Form besprachen er und Achim alle notwendigen Schritte.

    Erst in diesem Augenblick realisierte Ellen, dass Ani Phuntsok und ihr Fahrer in der Tür zum Ambulanzraum standen. Eingemummt in ihre rote Nonnenkutte hob sie sich in dieser steril-weißen Umgebung noch mehr ab als sonst. Während die Krankenschwestern emsig die Anweisungen des jungen Arztes umsetzten, ging Ellen auf sie zu.

    „Nochmals vielen Dank für ihre Hilfe. Ellens Augen drückten trotz Erschöpfung tiefe Dankbarkeit aus. „Ich weiß nicht, was wir ohne sie gemacht hätten. Ani Phuntsok ergriff Ellens Hand und streichelte sanft darüber.

    „Das ist für uns doch selbstverständlich! Hoffentlich geht es Achim schnell wieder besser." Sorgenvoll warf sie einen kurzen Blick auf den von weißen Laken umhüllten Achim.

    „Ich glaube, ich bin ihnen eine kurze Erklärung schuldig, wie es im Augenblick aussieht. Das Mediziner-Latein von gerade eben kann ja keiner verstehen. Ein schwaches Lächeln glitt über Ellens bleiches Gesicht. „Achim ist zu Hause Arzt für Innere Medizin und kennt sich vor allem bei Nieren- und Herzkrankheiten sehr gut aus. Was sich die letzten Stunden über in seinem Körper ereignet hat, war eine sehr schmerzhafte Kolik, die durch einen Stein in der linken Niere ausgelöst worden war. Ani Phuntsoks wache Augen drückten aus, dass sie gespannt lauschte und auch alles aufnahm. Also fuhr Ellen fort. „In seiner Verzweiflung hat er leider oben im Kloster eine eigentlich unverantwortliche Menge an Schmerzmittel geschluckt. Aber eigentlich helfen bei Kolik-Schmerzen nur Medikamente, die man direkt ins Blut gibt. Deshalb ist es ein Glück, dass wir jetzt hier sind." Ani Phuntsok schien in der Tat etwas erleichtert und übersetzte ihrem Fahrer den Inhalt des Gespräches auf Nepali. Das stolze Lächeln des nepalesischen Mannes drückte aus, dass er mit seinem ersten Erfolg in seiner neuen Rolle als Notarztfahrer vollauf zufrieden war.

    „Sie müssen aber hier nicht warten. Die Untersuchungen laufen gerade erst an und wir wissen noch nicht, wie es weiter geht." Ani Phuntsok lächelte und streichelte Ellen aufmunternd über die Schulter.

    „Wir wollen euch ganz schnell gesund im Kloster wieder sehen. Wir werden für euch beten." Bevor sie den Ambulanzraum verließ, huschte sie ganz schnell zu Achim und drückte seine Hand.

    Als die Infusion langsam tropfte und die Schmerzen weiter nachließen, fielen wir beide erneut in tiefen Schlaf. Nur gelegentlich wurden wir geweckt, wenn plötzlich unbekanntes Pflegepersonal vor unserem Bett stand und uns anstarrte. Einmal schreckten wir durch den Blitz eines Fotoapparates auf. Stillschweigend und ohne ein Wort der Erklärung verschwanden die Besucher wieder.

    Irgendwann drehte Achim seinen Kopf Ellen zu. Als er sah, dass sie wach war, begann er zu reden.

    „Ich muss Dir etwas sagen. Ich habe mit dem Kollegen besprochen, dass wir gleich eine Ultraschalluntersuchung und eine Computertomographie durchführen werden. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier die Möglichkeit dazu gibt. Danach werden wir wissen, wo der Nierenstein sitzt. Wenn er irgendwo ungünstig eingeklemmt ist, könnte dies eine Operation notwendig machen."

    Uns beiden war klar, was das am dritten Tag unserer seit mehr als einem Jahr geplanten viereinhalbmonatigen Weltreise bedeuten würde. 72 Stunden nach dem Start in Frankfurt bereiteten wir uns jetzt innerlich auf einen Rückflug nach Deutschland vor. AUS, ENDE, VORBEI - bevor alles überhaupt richtig begonnen hatte.

    7 Uhr Sonographie, 9:30 Uhr Computertomographie. Während der Auswertung der Untersuchungen saßen wir wieder gemeinsam in dem uns schon so sehr vertrauten Ambulanzraum. Ellen beugte sich über Achims Bett und küsste ihn.

    „Egal, was passiert und was herauskommt, wir werden gemeinsam das tun, was für deine Gesundheit am besten ist!"

    Wir hielten uns an den Händen und warteten.

    16. August, 13:10 Uhr

    Betreff: Kurse

    Lieber Carlos,

    ich danke Dir für das positive Feedback nach meiner Spinning-Probestunde gestern Abend, die vielen Lorbeeren ehren mich doch sehr!:-) Die Stimmung in der Gruppe und die Atmosphäre in Deinem Studio haben mir auch sehr gut gefallen.

    Ich habe nochmals über unser kurzes Gespräch und deinen Kurs-Vorschlag nachgedacht. Da ich sehr gerne Rad fahre, würde ich Spinning ganz gerne weitermachen, aber wenn Du im Augenblick keinen Bedarf hast, mache ich gerne auch Dienstag Abend Fit-Mix, vielleicht ergibt sich ja im Laufe der Zeit die Möglichkeit für eine Erweiterung.

    Trotz meiner 23 Jahre unterrichte ich schon seit 8 Jahren in den unterschiedlichsten Vereinen und Studios die ganze Palette von Hip-Hop über Step-Aerobic, die ganzen Kräftigungskurse, Spinning und sogar auch Yoga - ja ich weiß, eher alles seltene Kombinationen, aber daher ist auch Fit-Mix für mich kein Problem. Aber nochmals zur Info: das alles ist und war immer Nebenjob und muss, wie gestern bereits erwähnt, meinem Hauptjob untergeordnet werden. Als CSR-Managerin (ich sehe noch Dein fragendes Gesicht von gestern Abend vor mir:-)…das ist die Abkürzung für Corporate Social Responsibility und bedeutet Gesellschaftliche Verantwortung und Nachhaltigkeit) bin ich manchmal auch im Event-Bereich tätig und das bedeutet leider, dass ich auch kurzfristig manchmal abends verhindert bin. Ich hoffe, wir finden in diesen Fällen eine Vertreterin.

    Über den Stundenlohn werden wir uns sicherlich noch einig:-).

    Ganz liebe Grüße - Ellen

    Da saßen wir also.

    Ein Liebespaar auf Weltreise. Eigentlich doch beneidenswert, oder? Ja, eigentlich. Aber in Wirklichkeit boten wir gerade ein Bild des Jammers. Nicht nur wegen der Aufregungen der Nacht und unserer übermüdeten Gesichter, die im Neonlicht des Ambulanzraumes noch fahler und eingefallener wirkten, als sie es ohnehin schon waren. Auch nicht wegen des Gewichts, das wir beide im Laufe der Kloster-Zeit schon verloren hatten. Vor allem Achim gelang es nur mit harten Vernunftargumenten seinen Kopf und seinen Geschmackssinn davon zu überzeugen, dass drei Mal pro Tag zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Spinat mit Reis doch enorm nahrhaft und unstrittig gesund waren. Nicht ohne einen gewissen Futterneid beobachtete er regelmäßig die beiden Wachhunde des Klosters, die gehacktes Fleisch mit Haferflocken bekamen und er überlegte sich von Tag zu Tag mehr, ob er sich mit den beiden nicht irgendwie anfreunden könnte.

    Nein, all das war es nicht, was uns in diesen miserablen Zustand gebracht hatte.

    Es waren die Monate und Jahre vor unserer Reise, die unsere Körper langsam aber sicher wie eine schleichende Krankheit geschwächt hatten. Wir brauchten in diesem Augenblick niemanden, der sich mit erhobenem Zeigefinger vor uns hin gestellt hätte, um uns die Litanei unserer Sünden vor Augen zu führen. Wir hatten zu lange Zeit systematisch daran gearbeitet, unseren Organismus zu zerstören und jetzt kam die Rache. Das misshandelte Universum von Körper und Seele schlug zurück.

    Was hatte dazu geführt? Wenn dieser Moment nicht dazu geeignet war, sich diese Frage zu stellen, wann dann? Klar hätte man es jetzt auf das rein Faktische reduzieren können, das rein analytisch-wissenschaftliche Denken: Kalzifikationen in den Harnwegen als Folge zu hoher Konzentrationen an Natrium, Calciumoxalat und Calciumphosphat. Aber damit hätten wir nur das Symptom, nicht die Ursache betrachtet und nicht unseren Lebensbedingungen ausreichend Rechnung getragen. Was war es sonst? Die gnadenlose Arbeitswelt? Das deutsche System von Arbeiten bis zum Umfallen ohne zu Klagen und ohne Schwächen zu zeigen? Von oben nach unten durchgereichter Leistungsdruck, um auf dem hart umkämpften Markt bestehen zu können, besser zu sein als andere? Machten wir es uns hier nicht zu einfach? Nein, immer sind und waren wir es selbst, die nach Anerkennung und Selbstbestätigung gierten und wie so viele die Arbeit als Kompensationsmittel gegen ein schwächelndes Ich nutzen. Die Folge war, immer beschäftigt zu sein, keine Zeit, inne zu halten, keine Zeit zu hören, was der Körper an Notsignalen sendete. ‚Stopp!‘ ‚Halt!‘ Das wollten wir nicht hören. Es kamen neue, noch intensivere Signale hinzu in Form flüchtiger Krankheiten, Erkältungen, Blasenentzündungen und andere vermeintlicher Bagatellen, egal, es zählte nicht. Und wieder: ‚Hey, ich kann nicht mehr!‘ Und was taten wir? ‚Doch du kannst, du musst!‘

    Und dann kamen unsere Familien, unsere Freunde und Kollegen und sagten: „Passt auf euch auf! Das ist zu viel, was ihr da tut! Und wir lächelten überheblich und sagten im besten Fall „Danke und machten aber genau so weiter wie bisher. Wie die meisten Menschen.

    Spät, oft zu spät, erst, wenn man selbst aus sich heraus die Einsicht gewinnt, dann ist die Motivation endlich groß genug, um etwas zu verändern. Durch reine Kontemplation ohne einschneidende Ereignisse geschieht das leider bei den wenigsten, vielleicht allenfalls, wenn sie wie Buddhisten den Edlen Achtfachen Pfad beschreiten oder als Christen dem Gebot der Selbstachtung Folge leisten. Wie oft verhallen aber diese religiösen, schulmedizinischen oder naturheilkundlichen Appelle zur Gesunderhaltung im leeren Raum. Fast immer ist es leider erst der größtmögliche Leidensdruck, der uns wach rüttelt. Beim einen ist es vielleicht ein Herzinfarkt. Und bei manchem ist eine Nierenkolik notwendig - und das als Nephrologe, Nierenspezialist - welche Ironie des Schicksals.

    Aus diesen Überlegungen heraus glaubten wir zu Beginn unserer Reise in einem buddhistischen Kloster aus unserem bis dahin hochtourig laufenden Hamsterrad am schnellsten aussteigen zu können - aber genau damit blieben wir unserem Denken wie immer treu, von einem Extrem ins andere. Nicht langsam herunterkommen, nein, Vollbremsung. Mit einem eigentlich schon fahruntüchtigen Auto gegen die Wand gefahren.

    Mit „Die Resultate sind da wurden wir von dem nepalesischen Arzt aus unseren Gedanken gerissen. „Bitte folgen Sie mir. Die Tatsache, dass sich ein deutscher Arzt mit einer Nierenkolik im Haus befand, schien sich in Windeseile herumgesprochen zu haben. Vor der Schautafel für die Bilder der Computertomographie wimmelte es vor Weißkitteln, die uns erwartungsvoll entgegenblickten. Offensichtlich sahen sie Achim als seltene Koryphäe an und öffneten respektvoll eine Gasse nach vorne. Mit dem geschulten ärztlichen Screening-Blick ließ er seine Augen über die Schnittbilder gleiten, um zur entscheidenden Aufnahme ziemlich weit unten zu kommen. Seine Gesichtszüge entspannten sich und man merkte ihm seine Freude an, als er seinen Kopf drehte und über all die neugierigen Anwesenden hinweg Ellen anstrahlte.

    „Der Stein ist in der Blase! Keine OP! Nur viel trinken!"

    Von unserem Herzen fiel mehr als ein Stein, es war ein ganzer Felsbrocken. Sichtbar erschöpft und müde, aber voller neu gewonnener Zuversicht wollten wir auf dem schnellsten Weg zurück ins Kloster. Den gut gemeinten Vorschlag zur weiteren Beobachtung noch etwas zu bleiben, lehnten wir freundlich, aber bestimmt ab. Wir bedankten uns bei allen, die uns in dieser Nacht geholfen hatten. Diese medizinische Qualität und vor allem die Freundlichkeit, Geduld und Zuwendung hätten wir nie zu erhoffen gewagt. Und zum Schluss wie immer und überall die Rechnung. Man verlangte 178 €. Für alles? Wir schauten zwei Mal auf den simplen Papierausdruck. Zu dieser frühen Stunde hätten wir in einer deutschen Notfall-Ambulanz für das gleiche Geld vermutlich allenfalls einen warmen Händedruck des genervten Chefarzt-Vertreters bekommen.

    „Wenn mich in Deutschland mal wieder jemand fragen sollte, wo er günstig und gut einen medizinischen Ganzkörper-Check durchführen lassen kann, werde ich das Grand International Hospital in Kathmandu empfehlen", meinte Achim schmunzelnd, als wir ins Taxi Richtung Kloster stiegen.

    22. Oktober, 13:23 Uhr

    Betreff: Wo warst Du gestern????

    Hey Klausi,

    irgendwelche Probleme mit dem Terminplan oder andere „wichtige Pflichten" gestern Abend? Da fehlst Du einmal im Spinning und da gibt’s gleich News: wir haben eine neue Spinning-Trainerin. Durch Dein Fehlen und durch ihre echt geile Musik war das Spinning-Niveau deutlich höher als sonst… ;-). Wahrscheinlich kennst Du sie sogar. Vor ca. einem Jahr hat sie schon einmal ne Probestunde gegeben. Heißt Ellen oder Hellen, ziemlich jung, aber echt fit. Mal sehn, ob sie auch so schnell aufgibt, wie ihre vielen Vorgängerinnen…

    Sieht man sich die Woche noch mal?

    Wann gedenkst Du Deinen jetzt noch größeren Trainingsrückstand wieder reinzuholen? Vielleicht bekommen wir sogar noch eine gemeinsame Trainingseinheit hin? Lass uns phonen.

    A.

    P.S. bei mir sieht’s wie immer ziemlich mies aus. 3x lange Dienste von 7 -19 Uhr Montag, Mittwoch und Freitag, am Donnerstag Abend Fortbildung, am Samstag wieder Dienst von 7:30 - 14 Uhr und den Rest des Wochenendes Bereitschaftsdienst…:-( naja, schaun wir mal.

    In der tiefstehenden Sonne tauchte allmählich das bunte, in unendlich viel Grün eingebettete Ani Gumba vor uns auf. Das Kloster thronte majestätisch oben auf dem Berghang über dem gesamten Kathmandu-Tal - eine Atmosphäre voller Ruhe, Erhabenheit und Schönheit. Mit seinen gelben Ornamenten, der in rot und weiß gehaltenen Fassade und übersät von im Wind wehenden tibetanischen Gebetsfahnen - rot, grün, blau, gelb, weiß - strahlte es viel Freundlichkeit und Leichtigkeit aus. Was für ein Unterschied zu den Eindrücken der letzten Nacht.

    Schon am Tor erwarteten uns eine Handvoll Nonnen im Kindesalter, die den Wagen die Serpentinenstraße hatten heraufkommen sehen. Da standen sie in ihren weiten, weinroten Kutten, unter denen gelbe Unterröcke und Unterhemden hervorblitzten und winkten uns entgegen. Mit ihren kahlgeschorenen Köpfen hätte man sie auf den ersten Blick

    für Jungen halten können. Trotz dieser äußeren Uniformität hatten wir in den letzten Tagen die Gesichtszüge der einzelnen Nonnen differenzieren und ihre sehr individuellen Charaktere schätzen gelernt. Neugierig und voller aufrichtiger Anteilnahme wollten sie jedes Detail unseres Hospitalerlebnisses wissen. Sie waren immer und ständig an allem interessiert. Des Öfteren hatten sie uns in unserem Zimmer besucht, durchstöberten all unser Gepäck, nahmen alles Unbekannte in die Hand, stellten Fragen oder spielten einfach nur damit herum.

    „Gong - Gong - Gong", schallte es durch die Anlage, so wurde das Abendessen um 18:00 Uhr wie jeden Abend angekündigt. Es hatte kaum dafür gereicht, uns auf dem Zimmer etwas zu erholen. Wir nahmen unsere zwei Blechteller und -Tassen sowie zwei Löffel, die uns als einzige Utensilien bei der ersten Ankunft ausgehändigt worden waren und strebten mit allen Nonnen der Küche zu.

    Unsere Augen hatten anfangs Mühe, in dem nur spärlich durch zwei schwache Glühbirnen ausgeleuchteten Raum Umrisse auszumachen. Im Zentrum stand ein großer Holzofen-Herd, in dessen offener Tür klobige Holzscheite knisterten. Dunkelheit, Herd und schwarzer Lehmboden muteten wie eine Szene aus dem tiefsten Mittelalter an. Im Schneidersitz auf dem Boden sitzend blickten uns zwei nepalesische Frauen an, tiefe Falten durchzogen ihre dunkelbraunen Gesichter. Ihre balancierte und positive Ausstrahlung, die wir auf der Reise noch bei so vielen nepalesischen Frauen wiedertreffen sollten, machte auf uns starken Eindruck und wir ertappten uns dabei, dass wir sie um diese Ruhe und Gelassenheit sogar beneideten. Vor ihren Füßen standen zwei riesige blecherne Kochtöpfe. Aus dem einen schöpften sie mit einem Teller weißen Reis, aus dem anderen mit einer großen Schöpfkelle eine grünbraune Masse, die wir sofort und untrüglich identifizierten. Es gab wieder Spinat. Wir reihten uns in die Schlange der Nonnen ein.

    Unser „Dhanyabad! - Danke!" zauberte in die von der Witterung und der harten körperlichen Arbeit gezeichneten Gesichter der beiden Küchen-Nonnen ein freundliches Lächeln.

    Mit dem Sonnenuntergang war nicht nur die Nacht, sondern auch die unerbittliche Kälte zurückgekommen. Keiner der Räume im Kloster hatte eine Heizung - wir vermuteten zwischenzeitlich, dass es dieses Wort in der nepalesischen Sprache gar nicht gab. Wir, die wir zu Hause oft überlegten, ob wir unser Heizkörperthermostat noch um 0,1 °C höher drehen könnten, waren nun mit einer Außentemperatur von insgesamt maximal - 0,1 °C konfrontiert und das Nacht für Nacht, sobald die wärmenden Sonnenstrahlen hinter der schneebedeckten Gebirgsketten des Himalaya verschwanden. Und für die Temperatur im Kloster galt: außen gleich innen. Der Holzofen in der Küche war bereits mit den großen Kochtöpfen mehr als überfordert, so dass er im Raum keine nennenswerte Wärme mehr verbreiten konnte. Wir erschienen zum Abendessen in einem Outfit, mit dem wir ohne Erfrierungen an Extremitäten eine Nacht in einem Biwak am Mount Everest überlebt hätten: eine doppelte Lage Ski-Unterwäsche, drei Paar Wandersocken, Wanderstiefel, über allem Thermojacke und -hose dazu die superwarme Wollmütze. Da das Besteck ohnehin nur aus einem Löffel bestand, waren die ultradicken Fausthandschuhe nicht hinderlich. Mit einer Mischung aus Respekt und Fassungslosigkeit betrachteten wir die Kleidung der Nonnen, die fast alle an ihren Füßen nur Flip-Flops trugen. Höchstens ein Schal war ein Indiz dafür, dass sie über eine Art von Temperaturempfindung verfügten.

    „Hallo Helena, hallo Cathy, hallo Matt! Wo ist Thomas?", fragte Ellen in die Runde.

    Während die Nonnen sich mit ihren gefüllten Tellern wieder in ihren Schlafgemächer zurückzogen, saßen wir Gäste auf einer einfachen Holzbank am einzigen Tisch im Küchenraum. Aus dem Schlaftrakt der Nonnen drangen Gelächter und so mancher bronchitischer Hustenanfall zu uns herüber.

    Helena aus Australien lebte schon seit drei Monaten im Kloster und unterrichtete Englisch. Da sie mit der längsten Anwesenheit aufwarten konnte und sowohl die Abläufe wie auch die meisten Nonnen sehr gut kannte, hatte sie freiwillig die Mutterrolle für uns Neuankömmlinge übernommen. Äußerlich hatte sie sich mit einem weiten alternativen Hippie-Look ein Stück weit an die Kutten der Nonnen adaptiert. Beim Essen saß sie vorzugsweise im Schneidersitz auf dem Boden und aß mit ihren Händen. Kurz vor ihrem Studium strebte sie eine Auszeit in Nepal an, landete aber letztendlich länger als geplant im Ani Gumba. Sowohl die zierliche Cathy aus Kansas/USA als auch der wohlgenährte Matt aus Kanada wollten es ihr in den nächsten Wochen als Englischlehrer gleich tun. Und dann war da noch Thomas aus München. Eigentlich wollte er im Kloster nur eine besondere Art von Urlaub verbringen, ein bisschen über Buddhismus lernen und viel fotografieren. Aber er wurde zu Helenas (Um-)Sorgenkind. Vom Charakter her herzensgut, freundlich, aufmerksam und voller Wahrnehmung für seine Umgebung und Mitmenschen, litt er unter chronischer zeitlicher und örtlicher Desorientiertheit, die man landläufig als Schussligkeit bezeichnet. Aber gerade das machte ihn für alle noch liebenswerter.

    „Thomas?" Helena blickte auf, aber allgemeine Ratlosigkeit. Da öffnete sich die Tür und der Gesuchte steckte seinen Kopf herein.

    „Ach hier seid ihr! Ich saß gerade in einem Raum mit 15 Franzosen, aber irgendwie kam mir das dann doch komisch vor. Ich habe mich gewundert, warum es dort gar nichts zu essen gab." Alle rückten zusammen, um für Thomas auf der Holzbank Platz zu schaffen.

    „Manchmal kommen auch größere Reisegruppen für eine Nacht ins Kloster, klärte ihn Helena auf. „Die werden aber schon nach dem Morgengebet wieder abreisen.

    Natürlich war vor allem unser nächtlicher Ausflug ins Krankenhaus heute das Hauptthema.

    „Oh mein Gott!, meinte Thomas. „Was musst Du für Schmerzen gehabt haben, Achim. Da bist du ja auf den letzten Drücker im Krankenhaus angekommen, oder?

    Achim überlegte kurz, bevor er antwortete.

    „Wisst ihr, was ich glaube? Die Schlaglochpiste ins Tal war Gold wert, das war meine eigentliche Therapie. Der Stein wurde schon unterwegs in Richtung Blase geschüttelt. Zu Hause lassen wir Patienten mit festsitzenden Nierensteinen tagelang Treppen hinunter hüpfen."

    Wir konnten im Gesicht von Thomas sehen, dass ihn die nächtliche Situation noch beschäftigte.

    „Wie war das für Dich, Ellen? Das muss ja ganz furchtbar gewesen sein. Ich glaube, ich hätte mir überhaupt nicht zu helfen gewusst."

    „Die letzte Nacht war schlicht und ergreifend ein Horrortrip! Für uns beide! Man glaubt gar nicht, wozu man in der Lage ist, wenn du nicht weißt, ob es vielleicht um Leben und Tod geht." In Ellens Gesicht war wieder die Anspannung der Nacht zu erkennen.

    „Ich denke, man versetzt sich in solchen Situationen immer gedanklich zuerst in den Kranken, aber für den Partner, der das mit anschauen muss, ist das oft noch viel schlimmer!", entgegnete Thomas nachdenklich und voll Anteilnahme.

    Erstaunlich, wie ein Mensch so viel Feinfühligkeit besitzen konnte, um so treffend unsere Gefühlslage nachzuempfinden. Dass er dabei auch an Ellen dachte und dann auch noch schaffte, dies zu artikulieren und das als Mann - ‚Respekt!‘ - dachten wir.

    Eine lange Sitzung wurde das Abendessen nie. Dafür waren die Temperaturen einfach zu unwirtlich und der Zeitpunkt, an dem die Pforten zum Haupt- und Gästehaus abgeschlossen wurden, war nicht verhandelbar.

    Nach den letzten 24 Stunden waren wir beide aber auch froh, uns in unser Zimmer und in die Zweisamkeit zurückziehen zu können. Es spielte schon keine Rolle mehr, wie karg die Einrichtung und wie kalt es auch hier drinnen war. Auf dem brettharten Untergrund unseres Bettes, vergraben in unsere warmen Schlafsäcke, dicht aneinander gekuschelt, mit der Gewissheit, endlich hier und jetzt Zeit füreinander zu haben und vor allem keine gesundheitlichen Beschwerden zu spüren - das reichte uns, ja machte uns heute Abend noch glücklicher als sonst.

    Der Handy-Wecker. Es war kalt, sehr kalt. Es war dunkel, sehr dunkel. Und vor allem war es früh, sehr früh. Frühe 4 Uhr und 45 Minuten. In den Schlafsäcken steckten nicht nur wir, sondern auch alle Kleider. Unsere Heizung namens Körperwärme hatte sie für uns über Nacht auf einer akzeptablen Temperatur gehalten. Gestern Abend war unser Vorsatz, am Morgengebet der Nonnen teilzunehmen, noch schier unerschütterlich. Als wir uns langsam aus den Schlafsäcken schälten, begann sich dieses Vorhaben allmählich, nein eher sofort, zu pulverisieren. Aber die Erinnerung an die wohltuende Atmosphäre der Zeremonie gewann die Oberhand.

    Zehn Minuten später schlichen wir durch das Haupttor des Gebetsraumes, wo die Nonnen schon sangen und beteten. Unmerklich setzten wir uns neben Matt und Helena auf die roten Stoffkissen an der seitlichen Außenwand. Sofort stieg uns der wohlige Duft von Räucherstäbchen in die Nase. Fünfzehn Nonnen saßen sich im Schneidersitz auf roten Gebetskissen beiderseits des breiten Mittelganges gegenüber. Ihre Gebetsbücher und Blasinstrumente hatten sie auf schmalen, niedrigen Holzbänken vor sich abgelegt. An der Stirnseite thronte eine überlebensgroße goldene Buddha-Figur, die mit Erhabenheit und Güte in eine unergründliche Ferne lächelte. Obwohl der Raum nur durch einige Kerzen erleuchtet wurde, war er doch durch die Reflexion des Goldes so hell, dass man an den Wänden farbenfrohe mythologische Szenen aus dem Buddhismus erkennen konnte. Es waren nicht alle Nonnen anwesend, aber es genügte, um den Gebetstempel mit Mantra-Gesängen zu erfüllen. In einer konstanten, mittleren Tonlage rezitierten sie in gleichbleibenden ruhigen Rhythmen buddhistischtibetanische Gebete. Ihre Körper schaukelten wie in Trance. Vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Nach kurzer Zeit ertappten wir uns dabei, wie sich die gesamte Atmosphäre auf uns übertrug und wir begannen, in die Wipp-Bewegung der Nonnen mit einzufallen. Vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Es fiel uns ganz leicht, uns von dieser meditativen Stimmung mittragen zu lassen. Vielleicht hätten auch wir ein langanhaltendes Stadium der Trance erreicht, wären wir nicht von Zeit zu Zeit durch laute Instrumente in die Gegenwart zurückgeholt worden. Mit dick aufgeblasenen Wangen stießen zwei Nonnen in die langen Gyaling-Trompeten. Ohne, dass für uns eine Melodie erkennbar gewesen wäre, wurden in kurzen Abständen die großen gebuckelten Becken aneinander geschlagen, oft gefolgt vom süßen hellen Klingen der Stielhandglocken. Der tiefe Ton der in der Mitte in einem Holzrahmen hängenden Doppelfell-Trommel hatte etwas Würdevolles und hallte noch lange Zeit in die wiedereinsetzenden Mantra-Gebete hinein.

    „Klick, klick, klick…" Blitzlichtgewitter. Zwölf durch das Hauptportal hereinstürmende Franzosen mit ihren teuren Spiegelreflexkameras holten uns vollends ins irdische Sein zurück.

    „Klick- Buddha in Großaufnahme. „Klick - die kleine singende Nonne vorne links aus einem Meter Entfernung. „Klick" - eine Profilaufnahme der im Gebet versunkenen Ani Phuntsok.

    Mit den Franzosen drang von draußen das erste Licht des neuen Tages in den Raum. Auf Zehenspitzen schlichen wir hinaus und setzten uns unweit des Gebetsraumes eng aneinander gekuschelt auf eine kleine Holzbank. Vor uns lag das Kathmandu-Tal im Dunst des frühen Morgens. Es war als würden wir auf eine Riesengebirgslandschaft von Caspar David Friedrich blicken. Strukturen wie die Details der riesigen Metropole Kathmandus und die unendlichen Gebirgsketten in der Ferne waren zunächst durch den Dunst und das schwache Licht nicht auszumachen. Es dominierten stimmungsvolle Pastellfarben, die aus der Nähe bis zum Horizont eine immer blasser werdende Abstufung erfuhren, wie wir es in Nepal zum allerersten Mal in unserem Leben so fein und fließend wie durch einen Schleier gesehen hatten. In den nächsten Minuten wandelte sich das Bild mit jeder Sekunde. Die schnell aufsteigende Sonne veränderte die Lichtverhältnisse und damit die Farbtöne in jeder Ebene dieses Landschaftsbildes. Immer mehr Details kristallisierten sich für unsere Augen heraus. Bereits wenige Minuten danach erstrahlte der knallgelbe Sonnenball am Horizont.

    26. August; 14:03 Uhr

    Betreff: Spinning-Ausflug zum Weindorf

    Hallo Spinner,

    der Tag der Tage rückt näher! Nächsten Donnerstag ist unser Weindorf-Abend und damit das erste gemeinsame Outdoor-Event der Indoor-Cycler.

    Wir als Vollblut-Sportler sind in der Regel (wenige Ausnahmen sind mir gelegentlich zu Ohren gekommen…) bei unserer asketischen Lebensweise den weit verbreiteten Gefahren der Völlerei, Schlemmerei und billiger Rauschmittel nicht ausgesetzt.

    Damit wir nicht unvorbereitet sind, spüre ich die innere Verpflichtung, für uns alle einige Verhaltensregeln zusammenzustellen:

    -    auch wenn wir als Gruppe auftreten, ist es nicht notwendig, dass sich alle ständig an den Händen halten

    -    das Erscheinen im Rad-Dress ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht, wird allenfalls billigend in Kauf genommen

    -    Wein enthält unterschiedliche Mengen einer chemischen Substanz namens Alkohol. Dieser birgt einige Risiken und Nebenwirkungen in sich. Fragt anwesende Ärzte und Apotheker, solange diese noch antworten können.

    -    Teilnehmer, die unter dem Einfluss wesensverändernder Substanzen glauben, bisher unbekannte Tanztalente auf Tischen und Bänken ausleben zu müssen oder sich sogar bemüssigt sehen, zwecks des besseren künstlerischen Ausdrucks sich Teile ihrer Kleider zu entledigen, müssen damit rechnen, dass ihre Zugehörigkeit zur Gruppe strikt geleugnet wird.

    -    Teilnehmer, die in Gewahrsam des Deutschen Roten Kreuzes oder der Polizei landen, darf man getrost als gut aufgehoben ansehen und können nicht damit rechnen, vor dem Wochenende ausgelöst zu werden.

    -    wer ansonsten am Ende des Abends Rot- von Weißwein unterscheiden kann, steigt in die Kategorie „Weinkenner" auf. ;-)))

    Nach soviel Blödsinn (nein!- mir ist nicht langweilig… Ja!-ich habe genug zu tun…) noch das folgende (das einzige) Ernstgemeinte:

    ich werde direkt nach Fit-Mix und Spinning ab Studio mit dem eigenen Autos fahren (mein eigener Konsum wird sich erwartungsgemäß wie immer eher im Mikroliter-Bereich bewegen) und kann deshalb drei Mitfahrplätze anbieten.

    Stellt Euch einfach in die Warteschlange bei dem Mercedes R(ost)-Klasse.

    CU

    Achim

    Klosteralltag. 5:00 Uhr „Gong Gebet - 6:30 Uhr „Gong Frühstück - 7:00 Uhr „Gong Studium und Meditation - 9:00 Uhr „Gong Vormittagstee - 11:30 Uhr „Gong Mittagessen - 12:00 Uhr „Gong Studium und Meditation, 15:00 Uhr „Gong Nachmittagstee, 17:00 Uhr „Gong Gebet, 18:00 Uhr „Gong Abendessen, 19:00 Uhr „Gong Studium und Meditation, für uns Nachtruhe.

    Struktur, Routine, Ordnung, Korsett oder vielleicht

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