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Warum tust Du Dir das an?: Vom Schiffsjungen zum Starfighter Piloten
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eBook574 Seiten7 Stunden

Warum tust Du Dir das an?: Vom Schiffsjungen zum Starfighter Piloten

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Über dieses E-Book

Diese wirklich nicht alltägliche Autobiographie führt uns durch das wechselvolle Leben des Autors. Von der zunächst unbeschwerten Kindheit während des Zweiten Weltkrieges, der Zeit nach der Flucht von der Insel Rügen und seiner Schulzeit in Celle bis hinein in sein außergewöhnliches Berufsleben werden wir Zeuge dieser einmaligen Zeitgeschichte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Sept. 2015
ISBN9783732359301
Warum tust Du Dir das an?: Vom Schiffsjungen zum Starfighter Piloten

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    Buchvorschau

    Warum tust Du Dir das an? - Wulf "Buddy" Beeck

    Kapitel 1

    Meine Kindheit auf Rügen

    Am ersten Mai 1939 erblickte ich im Kreiskrankenhaus in Bergen auf Rügen das Licht der Welt. Das Kreiskrankenhaus wird im Verlauf meines Lebens keine weitere Rolle spielen. Meine Mutter war hübsch und jung, verheiratet mit einem sportlichen Junglehrer und voller Hoffnung auf ein erfolgreiches Leben. Sie hatte auch Pädagogik studiert und bereits ihr Staatsexamen in der Tasche. Allerdings war das Leben für meine Eltern zu dieser Zeit alles andere als angenehm. Mein Vater hatte gerade den Posten eines Dorflehrers in dem gottverlassenen Nest Breege auf Rügen angenommen. Obwohl: für ihn war Breege bereits eine berufliche Steigerung. Vorher war er Lehrer in Varsnewitz auf Rügen, einem Gutshof mit nur wenigen strohgedeckten Katen drum herum und mit noch weniger Schulkindern. Den Ort Varsnewitz gibt es heute nicht mehr. Er wurde irgendwann zu DDR-Zeiten völlig eingeebnet, nachdem die Gebäude jahrzehntelang ihrem Verfall überlassen worden waren. Nur ein paar große Bäume und wenige Fundamentreste sind bis heute übrig geblieben. Zur Lehrerzeit meines Vaters war die örtliche „Schule" in Varsnewitz eine der damals durchaus üblichen einklassigen Lehranstalten, in denen Kinder vom ersten bis zum vierten Schuljahr in einem einzigen Raum gleichzeitig unterrichtet wurden. Manchmal gab es von einem Schülerjahrgang nur ein oder zwei Kinder. So passten alle Schulkinder dieses einsamen Dorfes in eine Stube.

    Das Schulhaus in Breege war dagegen schon eine echte berufliche Steigerung für meinen Vater. Es gab ein richtiges Klassenzimmer mit Schulbänken, nicht nur eine Stube. Sogar einen Hausmeister gab es dort. Der wohnte oben. Im Schulgebäude lag auch unsere Wohnung. Die war kalt und klein und das Klo war für alle draußen über den Hinterhof zu erreichen. Jedoch sagte das Kaff Breege meiner Mutter nie so recht zu. Sie war in der Stadt Minden an der schönen Porta Westfalika in der „Pionierkaserne" aufgewachsen, wo ihr Vater, also mein Großvater, als Kompaniefeldwebel bei einer Pioniereinheit Dienst tat, und, wie damals beim Militär durchaus üblich, mit seiner Familie in seiner Kaserne auf seinem Flur mit seiner Einheit zu wohnen hatte. Meine Mutter war also eher lange und breite Flure und städtisches Leben gewohnt, als es dieses enge Schulgebäude in Breege auf Rügen zu bieten hatte. Heute beherbergt dieses Gebäude übrigens den örtlichen Kindergarten. Auch dieser Ort Breege, im nordöstlichen Teil der Insel Rügen am gleichnamigen Bodden gelegen, spielt in meinem zukünftigen Leben fast keine Rolle mehr.

    Als der zweite Weltkrieg kurz nach meiner Geburt begann, änderte sich quasi über Nacht alles Bisherige. Mein Vater meldete sich freiwillig zur Wehrmacht. Alte Fotos zeigen ihn anfangs stolz und hoch zu Ross, meine Mutter aber schnappte meinen Bruder Ontje und mich und wir zogen auf Wunsch und Anraten meiner Großeltern von Breege nach Göhren um. Das war gar kein Problem. Göhren liegt auch auf der schönen Insel Rügen und mein Großvater, Hermann Berner, war dort nach seiner Zeit als Feldwebel und später als Postbeamter in Scherfede nun endlich auch Postmeister in Göhren geworden. Seine Dienstwohnung lag über den Räumen des Postbüros und über der großen Schalterhalle. Von der Straße kommend mussten Postbesucher zunächst einige Stufen hinauf auf eine Art Rampe, die zur offenen Seite hin mit einem eisernen Geländer gesichert war. Nach Ersteigen der ersten beiden Stufen konnte man einen außen in die Hauswand eingelassenen, öffentlichen Briefkasten erreichen. Dieser rampenähnliche Vorbau setzte sich ein wenig nach innen zur Hausmitte fort, bildete also eine Art halb „überdachten" Eingangsplatz zu den Räumen. Geschützt vor Regen hingen hier zwei in die Außenmauer eingelassene Briefmarkenspender. Wenn man lange genug an der Kurbel drehte, ich konnte auf Zehenspitzen stehend dort gerade so herankommen, klingelte das so nett. Briefmarken kamen aber wohl schon seit längerer Zeit keine mehr zum Vorschein. Es war ja inzwischen Krieg.

    Die Post in Göhren. Das geöffnete Fenster im ersten Stock gehörte zum Schlafzimmer meiner Großeltern.

    Die Briefmarken verkaufte stattdessen drinnen Fräulein Schmidt, eine wirklich liebe und rührende Person, die immerzu lachte und uns Kindern etwas Süßes schenkte, sobald wir im Schalterraum auftauchten. Sie wusste zu der Zeit nicht, dass ich gerade draußen schaufelweise Matsch in den Briefkasten befördert hatte. Das kostete meinen Großvater die nächste Nacht, weil er alle Adressen neu schreiben musste, nachdem er die Briefe erst einmal in der Bratröhre eines Kachelofens in unserer Wohnung getrocknet hatte. Oben in der Dienstwohnung meines Großvaters gab es viel Platz. Wir Kinder, also mein Bruder und ich, hatten sogar ein eigenes Zimmer. Auch meine Mutter hatte einen eigenen Raum. Es sollte letztlich in Göhren eine insgesamt sorgenfreie Kindheit für mich werden.

    Die ersten wirklichen Erinnerungen an Geschehenes stammen aus dem Jahr 1944. Ich war eben erst fünf Jahre alt geworden. Mein Vater hatte Fronturlaub bekommen. Aus diesen Tagen stammen übrigens auch einige wirklich gut gelungene Familien-Portraits, die damals Foto Bitterling in Göhren gemacht hat, und über die ich mich noch heute freue. Typische Bilder aus damaliger Zeit: Eltern, ins rechte Fotolicht gerückt, mit den beiden Söhnen jeweils auf dem Schoß, nett angezogen und brav anzuschauen. Ich bin meinen Eltern sowieso sehr dankbar, dass sie seinerzeit so viel geknipst haben. Sie kennen sicherlich noch diese Miniatur-Schwarz-Weiß-Bilder mit den gezackten Rändern aus Großmutters Zeiten.

    An der Strandpromenade in Göhren. Mein Vater auf Heimaturlaub.

    Ich erinnere mich an folgende Begebenheit: meine Eltern fuhren irgendwann im Sommer 1944, ich war gerade fünf Jahre alt, von Göhren nach Breege, wohl um nach der noch immer vorhandenen Schulwohnung zu sehen, und die dort zurückgebliebenen und größtenteils irgendwie provisorisch verpackten Möbel und Hausratsgegenstände zu inspizieren. Auch waren einige der diversen Kisten voller Bücher meines Vaters zu prüfen. Es war ein wunderbarer Sommer und mein um eineinhalb Jahre älterer Bruder Ontje, einige andere Kinder aus der Nachbarschaft und ich als kleinster Knirps in der Runde, tobten in Breege zum kleinen Fischereihafen hinunter, wo es immer so herrlich nach Teer und geräuchertem Aal roch. Es gibt noch heute Fotos in meinen Bilderalben, auf denen die langen Holzstangen zu sehen sind, die in Stapeln direkt neben dem hölzernen Anleger am Schilf lagerten. Mit diesen langen Stangen errichteten die Breeger Fischer Aalreusen entlang der Boddenküste. Dort unten am Hafen lag damals der beliebteste Spielplatz für uns Kinder.

    Am Steg des Fischereihafens Breege 1944

    Spielplatz Reusenpfähle – Breege –

    Zwar weiß ich nicht mehr so genau wie es geschah, aber dass ich ins Wasser gefallen bin und mit dem Rücken voran so langsam unterging, sehe ich noch heute so vor mir, wie es seinerzeit passierte. Es war ein merkwürdiges und ruhiges Gefühl, so jedenfalls habe ich das in meiner Erinnerung behalten. Ich bin also mit offenen Augen und mit dem Blick hinauf in den blauen Himmel direkt neben dem hölzernen Steg untergegangen. Ich sehe noch heute die durch die Wasserbewegung tanzenden Pfähle über mir so langsam entschwinden. Es war und ist bis dato so eine Art Glückstraum, wenn ich mir diesen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufe. Zerrissen wurde dieses Bild allerdings jäh durch einen Arm, der unvermittelt durch die glitzernde Wasseroberfläche hindurch langte, hinein in meine Unterwasserwelt, mich ergriff und momentan wieder auf den Steg riss. Man brachte mich sofort und pitschnass nach Hause. Ich weiß noch, dass meine Mutter wahnsinnig geschimpft hat. Einer der größeren Jungs hatte mich gerade vor dem Ertrinken gerettet.

    Das Schulgebäude in Breege. Die rechten Fenster gehörten zu unserer Wohnung. Ich wuchs hier zwischen 1939 und 1941 auf. Ab 1941 lebten wir in Göhren.

    Bereits im Jahre 1935 kaufte sich mein Vater eine sogenannte „Kutteryacht". Der Rumpf war aus Holz in Klinkerbauweise gebaut und war typisch für damalige Fischerboote in dieser Gegend. Vielleicht war das vorher sogar einmal ein Fischereifahrzeug gewesen. Mein Vater hatte eine Kajüte aufsetzen lassen, zwar mit spartanischer Einrichtung, aber für längere Törns in den Boddengewässern und hinüber nach Hiddensee war Platz für mehrere Leute an Bord. Mein Vater ist damals viel mit seinen Freunden unterwegs gewesen und später natürlich mit meiner Mutter und uns Kindern. Ich soll schon als Säugling im Kinderkorb mitgesegelt sein. Das Boot lag zum Ende des Krieges in Stralsund und war danach verschollen.

    Der „Störtebeker" meines Vaters.

    An dieser Stelle erlaube ich mir einen kleinen Zeitsprung.

    Nach dem Krieg, etwa 1948/1949 war es meinen Eltern gelungen, mühsam und auf abenteuerlichen Wegen von den Behörden der „Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) eine Einreisegenehmigung nach Göhren zu bekommen. Mein Vater kam allerdings nicht mit. Er hatte Angst vor den Russen und davor, dass man ihn dort verhaften würde wegen seiner Zugehörigkeit zur Wehrmacht. Er war Offizier der SA. Zwei Sommerfahrten also machte ich mit meiner Mutter hinüber in die alte Heimat, um meine Großeltern zu besuchen. „Opa Göhren war noch immer Postmeister. Wir wohnten inzwischen seit 1946 in Celle. Darüber berichte ich noch etwas später. Auf einer dieser Besuchsreisen gab es auch einen Abstecher nach Breege, um einige alte Bekannte aus der Vorkriegszeit zu besuchen und erneut nach den Möbeln und Büchern im Schulgebäude zu sehen. Meine Cousine Ute war auch mit von der Partie. Da sie ja nicht direkt mit meinen Großeltern verwandt war, hätte sie niemals eine Einreisegenehmigung von den ostzonalen Behörden bekommen. Nun hat aber mein eineinhalb Jahre älterer Bruder den seltenen Vornamen Ontje, und für ihn gab es ja eine Genehmigung. Mitgereist ist jedoch meine Cousine Ute, die als „Schreibfehler" auf den Namen Antje hören musste. Das klappte offensichtlich ganz ausgezeichnet.

    Von Breege aus wurde mit einem Pferdefuhrwerk ein Ausflug zum Jagdhaus Juliusruh geplant, wo man den Forstmeister und seine Familie sehr gut kannte. Noch heute höre ich das Ächzen und Stöhnen des offenen Leiterwagens, auf dem wir alle Platz gefunden hatten und der uns bei strahlendem Sonnenschein in Richtung Juliusruh beförderte. Mich hat am meisten der kolossale Hintern des brav ziehenden Pferdes beeindruckt, der unermüdlich vor uns auf und ab wippte und dabei, wie scheinbar den Halt verlierend, nach rechts und links schwankte. Aber immer den richtigen Tritt findend auf dem teils sandigen, teils steinigen Weg gelangten wir voran. Ab und zu hob der Gaul den Schweif, und ohne den Tritt zu verändern ließ er Berge von Äpfeln fallen, und, als sei nichts geschehen, senkte sich der Vorhang wieder. Mich beeindruckte das sehr, wenn es mich auch nicht unbedingt belustigte.

    An die bei schönem Sommerwetter draußen am Forsthaus stattgefundene Kaffeerunde erinnere ich mich noch ganz genau. Sicherlich war es nur Muckefuck, der ausgeschenkt wurde, vielleicht aber auch aus dem Westen mitgebrachter, richtiger Bohnenkaffee. Aber das ist hier unwesentlich. Der Kuchen und die Torten, die ihre Runden machten, waren auf irgendeine abenteuerliche Weise und nur mit besten Zutaten gebacken. Man saß in Grüppchen zusammen. Die eine Gruppe, in der ich als kleiner Junge saß, hatte auf einer langen Holzbank ohne Lehne Platz genommen. Das war eine Bank, wie man sie in Münchener Biergärten findet. Alle Beteiligten genossen die süßen Sachen, sogar Schlagsahne wurde gereicht. So nach und nach stand man dann von der Bank auf, um sich im Garten zu ergehen. Ich blieb letztlich mit Ute alleine auf der Bank zurück. Ute saß am äußersten linken Ende. Als auch ich schließlich aufstand, gab es einen spitzen Aufschrei, Geschirr klirrte, ein tosendes Gelächter hob an und Cousine Ute wälzte sich auf dem grünen Rasen, knapp einem Genickbruch durch die seitlich umstürzende Bank entronnen. Hebelgesetze habe ich später erst in der Schule gelernt.

    Breege war immer gut für Räucheraal. Den gab es zu der Zeit zwar nur unter der Hand, aber immer noch reichlich. In späteren Jahren wurde auch aus anderen Quellen ostzonaler Aal gegen westliches Fischergarn getauscht. Wie viele Pakete den Kontrollen der Zonenbehörden und den späteren DDR Schnüfflern zum Opfer fielen, ist mir nicht erinnerlich. Irgendwann begann meine Oma schließlich aus diesem Fischergarn Gardinen zu häkeln. Der Nachschub an Räucheraal war versiegt. Damals, in den 50ger Jahren, waren diese robusten Gardinen als Fensterschmuck überall willkommen. Heute sind sie aus der Mode. Sie wissen schon, erst wegen der Goldkante, später wegen der Billigimporte.

    Im Moment schreiben wir aber noch immer die Kriegsjahre und die Zeit, in der meine Mutter mit meinem Bruder und mir weiterhin in Göhren bei ihren Eltern wohnte. Meine Oma war eine resolute aber wirklich gutmütige Frau, die ich sehr gerne mochte. Sie wurde leider nur 88 Jahre alt. Mein Großvater, „Opa Göhren, war ein sehr fleißiger und korrekter Mann. Er stand jeden Morgen gegen halb sechs auf, versorgte die Hühner, die hinten auf dem mit Kopfsteinpflaster gedeckten Hof des Postamtes durch einen hohen Maschendrahtzaun am völlig freien Auslauf gehindert werden sollten. Aber es gab in dem großen Holzschuppen in der hinteren rechten Hof Ecke offensichtlich genügend Schlupflöcher für die Hühner, Teilweise bekamen sie auch offiziellen Freigang. Dann pickten sie überall im Hof herum und vernichteten jegliches Grün zwischen den Steinen. Meine Oma hatte es dann leicht, ihre Grünabfälle aus der Küche loszuwerden. Sie öffnete einfach das im ersten Stock gelegene Küchenfenster. Ich höre sie noch immer nach den Hühnern rufen „komm, tuck tuck tuck. Und die rannten dann wie besessen unter das Fenster und von oben regnete es Mohrrüben Kraut, Blumenkohlblätter und klein zerbrochene Eierschalen. Morgens versorgte mein Opa, je nach Bedarf, ein oder mehrere der riesigen Kachelöfen in unserer Dienstwohnung. In jedem der fünf Zimmer stand ein prächtiger Ofen und gereichte, jeder für sich, zur Zierde des Raumes. Der große Kachelofen im Herrenzimmer, wo ein Wandregulator gemütlich vor sich hin tickte, wird später in meinen Erinnerungen noch eine besondere Rolle spielen.

    Der Ofen im Wohnzimmer besaß eine Bratröhre. In der lag fast immer ein „Puttapfel. Natürlich kamen alle Äpfel aus dem eigenen Garten meines Opas. Der lag gleich neben dem Posthof hinter dem Haus. Solch ein geschmorter Apfel war eine besondere Delikatesse und wurde, während er noch warm war, so aufgeteilt, dass jeder einen Happen abbekam. Diese riesigen, fast deckenhohen Öfen brachten wohlige Wärme. An Brennholz und Kohlen mangelte es uns nie. Ich sehe meinen Großvater täglich Berge von Holz hacken und hinten auf dem Hof fein säuberlich zu großen Holzmieten aufstapeln. Kohlen lagerten im Holzschuppen in der Ecke des Hofes, wo auch die Hühner wohnten und reichlich für frische Eier sorgten. Der Speck und Schinken dazu kam aus Saal von Tante Else, einer Schwester meiner Oma und auch als Frau „Rat bekannt. Ihr Mann, Hans Hass, war Bauer in der „Großen Bauernreihe", die von Saal nach Osten in Richtung Hessenburg führte. Sein Hof war der letzte vor dem großen Gut. Vor und noch während des Krieges war Onkel Hans Landrat seines Kreises. Er war eigentlich viel zu gebildet, um nur als Bauer zu gelten. Eigentlich wollte er Ingenieur-wissenschaften studieren, aber in der Erbfolge musste er schließlich in zehnter Generation den Hof übernehmen. Vom Hof berichte ich später wieder, wenn von Saal in Vorpommern zu sprechen sein wird.

    Lange vor Schalteröffnungszeit saß mein Großvater jeden Tag unten in der Post. Man hörte deutlich das Schlagen seines Stempelhammers in unserer darüber liegenden Wohnung. Er entwertete unüberhörbar die eingeworfenen Briefe der Kurgäste und Urlauber. „Sommergrüße aus Göhren". Überhaupt erinnere ich mich fast nur die schönen, warmen Sommerzeiten an der Ostsee und an die Urlauber-Damen aus Berlin in ihren weißen Sommerkleidern und unter riesigen Sonnenhüten.

    Mein Vater schickte während des Krieges von Norwegen einen „luftbereiften Roller. Das muss auch so im Jahre 1944 gewesen sein. Er war im Krieg dort oben stationiert. Mit diesem Roller sausten wir Kinder abwechselnd ständig die Dorfstraßen rauf und runter, von der Villa Looks bis dort, wo der steile Fußweg zum Strand hinunter führt und bis auf die Promenade am Strand. Anschließend ging es wieder zurück. Mit dem Roller von der Strandpromenade und dem Musikpavillon den Berg wieder hinauf war für uns Kinder ein richtiges Stück Arbeit. Die anderen Jungs aus der Nachbarschaft allerdings waren sehr neidisch auf diesen tollen Roller und einige Male zerstach einer der größeren Jungen mit einem Taschenmesser einen Reifen. Die Rettung brachten die Soldaten einer Horchkompanie, die in einer Villa, schräg gegenüber dem Postamt, Quartier bezogen hatten und irgendwie den betroffenen Reifen immer wieder flicken konnten. Diese „Horchsoldaten hatten in Göhren auf dem hohen Ufer so ein Ungetüm aufgebaut, mit vielen Trichtern daran, nur ungleich größer als die eines Grammophons. Die Soldaten drehten das riesige Gestell hin und her und ich glaube, sie konnten damit hören, wenn in England die Bomber angelassen wurden.

    In dieser Zeit spielten wir Kinder natürlich „Soldaten". Ich bekam ein Gewehr aus Holz und eine Hakenkreuzfahne, mit der wir Jungs durchs Dorf marschierten. Meine Mutter machte die Fotos dazu, Bitterling besorgte die Filmentwicklung.

    Mein Bruder auf dem luftbereiften Roller.

    Hier sieht man die Einfahrt zum Posthof.

    Mit Holzgewehren und in „Uniform". Ich durfte die Flagge tragen. (Winter 1943-1944)

    Aber noch vor der „Endzeit" kam ein weiteres Geschenk aus irgendeiner Kriegsgegend, in der mein Vater inzwischen stationiert war. Wahrscheinlich stammte es aus Holland. Es handelte sich um ein ganz tolles, zweisitziges Tretauto.

    Unser Tretauto. Ich verdiente damit meine ersten Groschen.

    Das Auto „parkte" meist unterhalb der Rampe, die den Eingang zum Postamt in Göhren bildete. Ich musste, wenn ich das Auto besteigen wollte, einfach nur von der Rampe unter dem Geländer durchrutschen, um mich dann bäuchlings über die Rampenkante hinabzulassen. Ein Stück heraus gebrochener Putz an der Rampenseite diente für mich als Zwischentritt. Mit dem nächsten Schritt stand ich schließlich auf dem Sitz des Autos und ich konnte mich hineinsetzen. Es gab regelmäßig kaputte Knie von dem rauen Verputz der Rampe. Mit dem Tretauto machte ich die Fußgänger nervös, wenn ich mit einem Affentempo über die Straße oder auf den Bürgersteigen, laut mit einer Gummiballhupe trötend, entlang sauste, von einem Dorf Ende zum anderen und wieder zurück. Meistens drehte ich vor der Gärtnerei Kagelmacher um, damit konnte ich mir den beschwerlichen Anstieg zum höher gelegenen Ortsausgang sparen. Als eines der letzten Häuser lag dort oben rechts die Villa Looks. Mit diesem Tretauto verdiente ich mein erstes Geld. Andere Mütter baten mich hin und wieder, eines ihrer Kinder mitfahren zu lassen. Ich kassierte pro Fahrt ein oder zwei Groschen und erinnere mich genau, mit einer der Mütter eine Diskussion gehabt zu haben, weil die drei Groschen, die sie mir anbot, alle unterschiedlich aussahen. Es gab zu dieser Zeit nämlich noch alte messingfarbene, aber auch schon blecherne und irgendwie auch Groschen aus Aluminium. Wahrscheinlich konnte ich zu dieser Zeit noch nicht einmal eins und eins fehlerfrei zusammenzählen, aber mit den Groschen hielt ich es nun einmal sehr genau.

    Oben am Postamt befindet sich ein quer über die ganze Breite des Gebäudes reichender Balkon, unter welchem sich der Eingang des Postamtes mit der Rampe befand. Dort oben war ich einige Male, auch mit meiner Cousine Hannelore, der Tochter von Frau „Rat", einer Schwester meiner Großmutter. Hannelore und ich machten uns einen Spaß daraus, von oben auf die Hüte der das Postamt betretenden Damen zu spucken. Wer von uns beiden die größere Trefferquote erreichte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Dass ich dafür von meiner Oma einige hinter die Ohren bekam, sei nur am Rande erwähnt.

    Neben der Roller- und Tretautofahrerei bestand unser Haupttransportmittel aus einem von meinem Opa selbst gebauten Bollerwagen. Dieser Handkarren hatte eine lange Deichsel, die nicht zu Boden fallen konnte, wenn man sie losließ, sondern in der Waagerechten aufgehalten wurde. Dieser Umstand ermöglichte es uns Kindern, den Wagen mit den Beinen zu lenken, indem man die Deichsel zwischen die Füße nahm. Man brauchte nur jemanden, der dann den Wagen schob. Ich als der Kleinste musste meistens meinen Bruder Ontje schieben. Nur selten ließ mich mein Bruder einmal vorne sitzen und selber lenken. Mit von der Partie war fast immer Jürgen Kagelmacher, der Sohn des Inhabers der Gärtnerei. Von der Post bis zu ihm fuhren mein Bruder und ich, dann durchstöberten wir erst einmal die Treibhäuser, in denen es immer so herrlich nach Erde und Blumen duftete und wo es so wohlig warm war. Von der Gärtnerei zogen wir danach zu dritt den Karren hinauf zum Ortsausgang, vorbei an der Villa Looks. Dort oben lag für mich der damals schönste Aussichtspunkt der Welt. Der ist mir als einer der wunderbarsten Fleckchen dieser Erde in Erinnerung geblieben. Ich hätte zu jeder Zeit, selbst heute noch, ein Gemälde erstellen können von dem Ausblick, den diese Anhöhe hinunter ins offene Tal in Richtung Thiessow und Mönchsgut bot. Zur linken, auf einer eigenen Anhöhe, lag ruhig die kleine Dorfkirche mit ihrem unverwechselbaren Kirchturm, aus roten Ziegeln erbaut. Einige Holunderbüsche säumten diesen Hügel. Von der Anhöhe mit der Backsteinkirche zur Bildmitte und weiter nach rechts spannte sich breit und schwer ein Kornfeld vor meinen Füßen aus, das bis weit hinunter ins Tal reichte. Der Wind zeichnete hellere und dunklere Wogen in das Meer der Ähren, so dass es fast ein wenig nach bewegtem Wasser aussah, nur eben goldgelb. Die Schäfchenwolken trieben ihre zarten Schatten über die Köpfe des Getreides, was dem ganzen Bild eine ruhige Bewegung verlieh. Ganz rechts wurde der Ausblick durch den beginnenden Wald eingerahmt, durch den man ein Stück weiter aus dem Dorf heraus eine lange Allee hinab zum Friedhof gelangte.

    Das Bild über das weite Kornfeld und das offenen Tal dahinter aber öffnete sich nun zur Ferne hin mit einem atemberaubenden Panorama. Geradeaus schaute man auf die sanften Hügel, vor denen der Ort Gager lag. Man erkannte leicht rechts davon unten in der Ebene die Landstraße, die von Bäumen gesäumt zu einer Allee wurde. In der Mitte lag, kaum erkennbar, ein erst schmaler, dann wieder sich verbreiternder Landstreifen, der schließlich ganz in der Ferne bis nach Thiessow führte. Den linken Saum dieser Landzunge bildeten zwei in leichtem Bogen verlaufende kilometerlange Strandabschnitte, fast weiß leuchtend. Auf etwa dem halbem Wege zum Thiessower Hochufer, das mit einem dichten Wäldchen abgedeckt war, ragte noch eine kurze Landzunge in die Ostsee und unterbrach den Sandstrand nur kurz. Dort konnte man ganz deutlich von hier oben aus eine niedrige eiserne Schutzwand erkennen, die dort früher einmal gerammt worden war, um die See davon abzuhalten, sich Stücke aus dem Ufer herauszubrechen. Weiter rechts erstreckten sich die sanft rollenden Hügel oberhalb des kleinen Fischerdorfes Gager. Den Ort selber konnte man von hier oben nur erahnen. Das ferne braun-grün der Gager Hügel, schon fast am Horizont, passte herrlich in dieses Gesamtbild hinein. Und, um diesem Gemälde den eigentlichen Schwung zu geben, wurde alles Land, die sanften Tiefen, die goldenen Strände, das wogende Korn und die dunklen Wäldchen eingerahmt vom blauen Meer, das unterhalb des Kirchhügels beginnend um Thiessow herum und rechts hinter den Hügeln wieder erscheinend den ganzen Horizont ausfüllte. Das gesamte Kunstwerk der Natur wurde schließlich noch durch einen weiten, weichblauen Himmel überspannt, dessen warme Sonne alles in friedliches Licht tauchte. Selbst als Vier- und Fünfjähriger war ich wirklich fasziniert von diesem herrlichen Aussichtspunkt und regelmäßig, und ohne uns vorher abzusprechen, hielten wir Kinder stets mit dem Bollerwagen an diesem traumhaften Punkt an und genossen den damals für uns wundervollsten Platz der Erde.

    An dieser Stelle lag der höchste Punkt unserer Fahrtroute mit dem Bollerwagen. Nun ging es zu meiner Erleichterung nur noch bergab. Erst noch ein Stück parallel zur Autostraße, dann links hinein in die Waldallee, die zum eisernen Eingangstor des Göhrener Friedhofes führte. Unmittelbar vor dem Tor bog nach rechts eine Art Trampelpfad ab, es ging durch eine Bodenvertiefung und dann weiter über einen schönen Waldweg. Man konnte, geschicktes Lenken mit den Beinen vorausgesetzt, mit voller Fahrt dort hinunterdonnern, bekam nur ab und zu einen ordentlichen Schlag, wenn es über ein Stück Baumwurzel ging. Anschließend aber führte ein glatter Feldweg weiter hinab und zur Försterei, wo unser gemeinsamer Freund Hubert Dräger wohnte. Dort, auf dem Gelände der Försterei, konnten wir herrlich spielen. Es gab einen Hund, viele freilaufende Hühner, einen riesigen Schuppen mit sauber aufgestapeltem Brennholz und allerlei Gerätschaften darin. Frau Dräger machte uns immer etwas zu Trinken. Auf dem Schuppendach gurrten Tauben. Eines Tages haben wir mit einer Fischkiste, die an einem Ende mit einem Holzstock hochgestellt war und unter der Futter ausgestreut lag, eine Dohle eingefangen. Der Stock wurde im richtigen Moment mit einem Bindfaden wegzogen. Die Dohle, so erinnere ich mich, wurde zunächst im Wintergarten eingesperrt, dort gefüttert und gepflegt, bis sie irgendwann ganz handzahm war. Einige Male saß sie auch auf meiner Schulter. Später gehorchte sie aufs Wort und kam auf Zuruf vom Schuppendach heruntergeflogen und landete auf unserem Arm oder Kopf.

    Mit meiner Oma gingen wir im Sommer regelmäßig an den Strand. Jedes Jahr hatte sie für die ganze Saison einen Standkorb fest angemietet. Der stand immer ein Stück links von der Seebrücke Richtung Baabe. Kein Sandstrand der Welt war schöner als der weiße „Piepesand" in Göhren. Wenn man Barfuß über den Strand lief, gab es bei jedem Tritt ein piependes Geräusch, weil sich die feinen Steinchen aneinander rieben. Der Sand war sicherlich fein genug, um durch eine Eieruhr zu rieseln. Zu dieser Zeit war es noch große Mode, riesige Strandburgen zu bauen und mit Muscheln und Fähnchen zu schmücken.

    Strandleben in Göhren. Links mein Bruder.

    Es waren die letzten Hakenkreuzfähnchen, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben. Nach dem Baden in der tollen Brandung rannten wir über den wahrlich breiten, von der Sonne heiß gebrannten Strand in Richtung Wald. Vor dem zog sich ein genügend breiter Gürtel aus feinsten Sanddünen hin. Man konnte hinter Dünengras und niedrigen Büschen herrlich Versteck spielen. In diesen Dünen wärmten wir uns nach den immer viel zu langen Aufenthalten in den schäumenden Wellen erst einmal wieder auf. Das Dünengras selber hat mich damals schon zum Nachdenken angeregt. Diese halbkreisförmigen Muster, die von den scharfkantigen und doch feinen Blättern in den Sand gezeichnet wurden, während der Wind sie unermüdlich hin und her schwang, hatten es mir angetan. Und so auf dem Bauch im warmen Sand liegend, schaute ich mir das bewundernd an und verfolgte nebenbei die mühseligen Versuche eines manchmal vorbeikommenden schwarzen Käfers, der sich einen Weg den Sand hinauf erzwingen wollte. Bei jedem Tritt eines seiner sechs Beinchen rutschte der Sand nach unten, eine ganz kleine Sandlawine auslösend. Der stets nach unten wegrieselnde feine Sand machte es dem Tier unmöglich, richtig voran zu kommen. Immer wieder löste sich so ein ganz kleiner Erdrutsch, und der arme Käfer kam nie weit von der Stelle. Oft fiel ein Käfer auch auf den Rücken. Ich schaute seinen zappeligen Beinchen zu, bis er sich mühsam wieder aufgerichtet hatte und das Spiel erneut versuchte. Es dauerte nicht lange, bis die Haut von der Sommersonne getrocknet war und ich den nun trockenen Sand ohne Mühe vom Körper abreiben konnte. Entweder wir Kinder sausten gleich noch einmal ins Wasser, oder wir meldeten uns bei Oma am Strandkorb, wo sie für uns Stullen und etwas zu trinken auspackte. Einen riesigen Spaß machte es, wie besessen durch die vielen Sandburgen hindurch quasi Slalom zu laufen, wobei wir die nicht besetzten Strandburgen bis zu deren fein säuberlich glattgestrichenen oberen Kanten hinaufstürmten. Deren Besitzer hatten dann nach ihrer Rückkehr zu ihrer Burg wieder etwas zu Schaufeln und konnten über uns ungezogene Gören meckern.

    Im Strandkorb meiner Oma habe ich selten gesessen, mir war es dort zu heiß und zu langweilig. Der kühlende Wind fehlte besonders dann, wenn der Korb mit dem Rücken zum Wind stand. Wenn es uns Kindern in der Sonne zu heiß wurde, sausten wir bis an den immer feuchten Strandsaum direkt am Wasser, wo wir dann riesige Löcher gruben, so tief unsere Arme gerade noch hinablangen konnten. Faszinierend, wie das Wasser von unten langsam aufstieg und zunächst das innere des Loches weiter aushöhlte, bis das ganze Gebilde in Zeitlupe vom Rand her in sich einbrach, wenn nicht vorher schon eine besonders lang auslaufende Welle von oben hineinschwappte und dem ganzen Bauwerk ein vorzeitiges Ende bescherte. In meiner Erinnerung gibt es aus dieser Zeit nur solche wunderbaren Sommer.

    Im Herbst und im Frühjahr machte mein Opa mit mir lange Spaziergänge. Diese Ausflüge wurden stets mit etwas Nützlichem verbunden. Von den Wald-Spaziergängern brachten wir Kienäpfel mit, weil die großen Kachelöfen eben mit diesen Tannenzapfen gut vorgeheizt werden konnten. Erst dann wurden Briketts nachgelegt. Im Herbst brachten wir Körbe voller Blaubeeren mit nach Hause. Der Bollerwagen diente nun als Transportmittel. Wenn meine kleinen Beinchen weh taten vom langen Laufen, zog Opa mich auf dem Wagen nach Hause. Die Spaziergänge an der Küste entlang, mal oben und mal unten ums Göhrener Höft, dem Nordpeerd herum, sind mir deshalb so sehr gut in Erinnerung geblieben, weil ich von dort oben einen so herrlichen Ausblick über die Ostsee hatte. Ich fand es faszinierend, wenn ein Schiff am Horizont langsam seine Bahn zog. Unten ums Höft herum musste man teilweise klettern. Es gab dort eine große Mole aus gebrochen Granitsteinen, die das Steilufer bei winterlichen Stürmen vor dem Weggespült werden schützen sollte. Diese Steine sollten angeblich aus einem Steinbruch in Schweden stammen. Eine viel ältere Mole war noch stellenweise zu sehen und auch teilweise zu begehen, aber die bestand aus runden Findlingen, auf denen man nicht so gut laufen konnte. Die neue Mole hatte oben abgeflachte Steine, auf denen es sich ganz gut lief. Ich fand das toll, fast ein wenig unheimlich, wenn die Wellen unten durch die Steine glucksten. Manchmal musste Opa mich über eine Stelle hinweg heben, die ich nicht bezwingen konnte. Stürme rissen immer wieder den einen oder anderen Stein aus der Mole. Wir gingen stets vom Südstrand ums Höft herum zum Nordstrand, niemals in die umgekehrte Richtung. Wenn man, vom Südstrand kommend, auf der Steinmauer weit genug herum gelaufen war, konnte man die bewaldete Landspitze von Binz erkennen und an klaren Tagen hinten am Horizont sogar die weißen Kreidefelsen, die gleich rechts von Saßnitz anfingen und im Sonnenschein vom Horizont her leuchteten. Auf dem Wege zum Hauptstrand kam man unterhalb der ungeschützten Steiluferpartie an heruntergestürzten alten Waldbäumen vorbei. Solche, die schon Jahre ganz unten am Strand lagen, waren vom Salz hart und weiß geworden. Der steinige Strand direkt unterhalb des Abbruches wurde langsam sandiger, je weiter man Richtung Badestrand vorankam. Die Schuhe zogen wir an dieser Stelle immer aus, und am besten lief es sich dort, wo der Sand gerade noch feucht war. Man sank dort nicht so sehr ein bei jedem Schritt. Kurz vor Erreichen des Strandkaffees hielten wir meist noch an einem unter hohen Buchen fast versteckt liegenden Steinhaus. Das hatte zur Wasserseite ein großes Holztor. Wenn Opa mich anhob, konnte ich durch die schmutzigen Scheiben ein wirklich riesiges Ruderboot auf einem Wagen stehen sehen. Später wurde mir klar, dass dieses ein lange nicht mehr benutztes Strandrettungsboot war, das früher in einem Seenotfall mit Pferden aus der Halle bis ins Wasser gezogen wurde, um dann mit Manneskraft vom Wagen ins Wasser geschoben zu werden. Von vielen kräftigen Rettungsmännern gerudert, versuchten diese dann zu einem Havaristen zu gelangen. Solche Boote gab es früher an allen deutschen Küsten. Aber dieses Boot hatte schon lange kein Wasser mehr unter seinem Kiel gehabt.

    An Winter in Göhren kann ich mich nicht recht erinnern, außer an den einen. Da habe ich die vom Eisgang fast vollständig zerstörte Seebrücke gesehen. Ich bin überhaupt wohl nur einmal mit meinen Großeltern auf dieser Brücke gewesen. Das war aber in einem Sommer. Vorne am Brückenkopf lag dort ein Schiff der Kriegsmarine. Es muss wohl am letzten abgehaltenen „Tag der Wehrmacht" vor dem Kriegsende gewesen sein. Wir haben das Schiff sogar besichtigen können. Später wurde die Göhrener Seebrücke dann allerdings für immer gesperrt, und nach einem weiteren schweren Eiswinter war sie schließlich total zerbrochen.

    An einen Ausflug in die Hügel bei Gager kann ich mich auch noch vage erinnern. Bei diesem Ausflug nämlich saß ich als kleiner Junge zum ersten Male in einem Segelflugzeug. Ich konnte nicht hinaussehen, dafür war ich noch zu klein. Die Gager Hügel müssen offensichtlich hoch genug gewesen sein, um bei günstigem Südwind Segelflug betreiben zu können. Ich glaube, dass die Hitlerjugend dort das Fliegen erlernen konnte. Die Jungen, die dort im Gummiseilstart in den Himmel katapultiert wurden, haben in einem Zeltlager unten am langgestreckten Thiessower Strand gewohnt. Ich erinnere mich deutlich daran, wie meine Mutter mich in den offenen Führersitz hob und ich die ein oder zwei Instrumente bewunderte, ohne zu wissen, was sie bedeuteten und ohne zu ahnen, dass ich in meinem späteren Leben tausende von Flugstunden von solchen Instrumenten abhängig sein würde. Ich muss damals so um die vier Jahre alt gewesen sein.

    Die Göhrener Seebrücke. In einem der folgenden Winter wurde sie durch Eisgang völlig zerstört.

    Mein Vater kam nach meiner Erinnerung nur ganz selten auf Heimaturlaub nach Göhren. Ich bekam zur „Begrüßung immer eine Tracht Prügel. Selbst bis heute weiß ich nicht, warum. Aber es muss wohl in unserer Familie so üblich gewesen sein, dass dem Familienoberhaupt alles berichtet wurde, was wir Kinder während seiner Abwesenheit für dumme Geschichten angestellt hatten. Und dafür gab es, wenn auch noch Monate später, eine Tracht Prügel. Nun war mit der Prügelstrafe nicht nur Schmerz, der vergeht irgendwann wieder, sondern auch eine schaurige Zeremonie verbunden. Mein Vater, ich besitze noch die Bilder, auf denen er in Reiteruniform der Wehrmacht hoch zu Ross daherkommt, nahm sich dafür vom Wandkleiderhaken einen Siebenender. Der hing dort immer, vielleicht sollte das während seiner Abwesenheit vor Bubenstreichen abschrecken. Wie auch immer, dieser Siebenender bestand aus einem Holzgriff, wie an einem Kehrblech, aber vorne waren mehrere Lederriemen befestigt, in die einige einfache Knoten geflochten waren. So ein Marterinstrument benutzte man wohl damals zur Pferdedressur beim Militär. Bei uns allerdings wurde dieses Gerät auf meinem Allerwertesten ausprobiert. Ich sehe noch immer meine Mutter weinen, wenn mein Vater sich an mir austobte. Überhaupt empfand ich meinen Vater als völlig Fremden im Haus. Das lag sicherlich an seinen langen Abwesenheiten an der Front und den nur sehr kurzen Heimaturlauben. Ich hatte nie eine richtige Beziehung zu ihm, auch in späteren Jahren nicht. Er war einfach nicht so nett wie mein Großvater, auf dessen Schoß ich stundenlang sitzen durfte und der mir Geschichten vorlas oder erzählte. Mein Vater hat mich nie in den Arm genommen oder gar gestreichelt, meine Mutter allerdings auch recht selten, zumindest erinnere ich mich nicht daran. Aber in großer Not konnte ich mich immer zu meiner Mutter flüchten. Mein Vater allerdings wurde so eine Art Schrecken für mich. „Wehe, wenn Dein Vater das erfährt, waren die einleitenden Worte für die nächste ausstehende Tracht Prügel. Später, nach dem Krieg, hat mein Vater zur Züchtigung Kleiderbügel benutzt. Da wurden erst die Haken herausgeschraubt und am Ende der Lektion war meist der Kleiderbügel zerbrochen. Ich erinnere mich daran, dass irgendwann nicht mehr genügend Bügel für seine Anzüge im Hause waren. Kleiderbügel waren nach dem Krieg rar, es gab sie nicht wie heute gratis beim Anzugkauf dazu.

    2. Kapitel

    Besuchsreisen zu Oma und Opa nach SAAL

    Während des Krieges fuhren „Oma Göhren, meine Mutter, mein Bruder Ontje und ich regelmäßig nach Saal in Vorpommern, wo die Eltern meines Vaters und unser Onkel Hans Hass und Tante Else wohnten. Sie bewirtschafteten in zehnter Generation auf der „langen Bauernreihe einen Bauernhof. Tante Else war eine Schwester meiner Göhrener Oma. Eine Reise von Göhren nach Saal war stets ein Tagesunternehmen. In der Wohnung über der Post in Göhren konnte meine Oma am Pfeifen der Lokomotive hören, wo sich der Zug gerade befand. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof, wenn die Kleinbahn bei der Abfahrt in Baabe pfiff. So kamen wir immer rechtzeitig unten am Bahnhof an und der „Rasende Roland brachte uns pünktlich durch die wunderschöne Landschaft „meiner Insel Rügen nach Putbus. Rattatat – rattatat - rattatat - rattatatatt machten die Räder auf den schmalen Schienen und die Puffer unter den Plattformen der Waggons wackelten im Rhythmus des Klackerns nach rechts und links. Reisende standen gerne draußen auf den Plattformen. Man musste sich nur vor den Funken und dem Ruß der Lokomotive in Acht nehmen. Die Lokomotive qualmte besonders heftig, wo die Bahntrasse in einer ziemlichen Steigung ums Jagdschloss Granitz herum und durch die herrlichen Wälder führte. Enorme Rauchschwaden aus der fauchenden Lokomotive verteilten sich dann durch die Blätter der Bäume.

    In Putbus mussten wir schließlich in die „Großbahn umsteigen, die uns dann bis nach Stralsund brachte. Von dort gab es zwei Möglichkeiten, nach Saal weiterzureisen. Entweder wieder mit einer Kleinbahn über Barth nach Saal, oder mit der „Großbahn Richtung Rostock über Ribnitz-Damgarten. Wenn wir die erste Strecke über Barth nutzten, konnte man schon eine Station vor Saal aussteigen, um zum Hof von Tante Else und Onkel Hans zu gelangen. Diese Station hörte auf den Namen „Staben". Es war nur ein einfacher Haltepunkt mitten auf freiem Feld. Man konnte von dort ringsum ungehindert bis

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