Tagebuch des Vergessens: Leben mit Demenz
Von Inge Borg
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Buchvorschau
Tagebuch des Vergessens - Inge Borg
Vorwort
Wenn Menschen sich verändern, bewerten wir das unterschiedlich.
Kinder, die sprechen lernen, begeistern uns.
Jugendliche, die ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen, alarmieren uns.
Junge Erwachsene, die Verantwortung in einer Beziehung oder einer Arbeit übernehmen, beeindrucken uns.
Menschen, die ihre Erinnerung verlieren, ängstigen uns.
Epilog
Wenn ich zurückdenke, gibt es eine Begebenheit, mit der ich die Veränderung meiner Mutter verbinde. Wir gehen die Treppen herunter zur Straße und dort parken zwei strahlend weiße Autos. „Die habe ich noch nie gesehen. Haben sich meine Nachbarn neue Wagen gekauft? Ungeduldig erwidere ich:
Nein, die haben sie schon seit einigen Wochen. Das fragst du mich jedes Mal, wenn wir hier lang gehen. Heute schäme ich mich dafür. Mir fehlte das Verständnis für ihre Sicht der Dinge. Ich habe meine Mutter in dieser Zeit viel malträtiert mit Fragen: „Was hattest du heute zu Mittag?
„Hast du den Krimi gestern auf dem Ersten gesehen? „War die Putzfrau am Donnerstag da?
„Kind, frag‘ mich nicht so etwas Schwieriges. Das weiß ich nicht mehr!", war ihre stete Antwort.
Ich habe geahnt, dass etwas an ihr sich verändert. Und glaubte lange meiner Erklärung: sie wird im Alter ein wenig vergesslich. Nichts weiter. Menschen haben die Angewohnheit mit zunehmendem Alter ihre Ansichten zu verfestigen, auf gewohnten Abläufen zu bestehen, um Sicherheit und Beständigkeit darin zu suchen.
Es muss meine Mutter viel Kraft gekostet haben, ihren Alltag zu leben und ihren Wunsch selbstständig zu bleiben zu verteidigen. Auch heute, in ihrem versunkenen Leben, ist die Sehnsucht nach dem was sie war und was sie hatte groß. Dieses Gefühl, fremd zu sein, dort wo man ist und sich zu sehnen nach etwas Vertrautem, einem Stück Heimat, nach dem „zu Hause".
Dieser Weg ins Vergessen ist seit einigen Jahren unser beider Lebensweg. Wo er begann lässt sich nicht einfach festmachen. Doch das Bild der schneeweißen Autos, deren Anblick immer wieder Verwunderung bei meiner Mutter und immer häufiger Erkennen bei mir auslösten, steht für den Beginn unserer gemeinsamen Reise, unseres Tagebuchs des Vergessens.
Agnes (84 Jahre, Oktober 2010)
Das Herbstlaub macht mir viel Arbeit. Es fällt mir schwer, die regennassen Eichenblätter vom Gehweg zu fegen, mich nach ihnen zu bücken, wenn der Besen sie nicht erwischt. Ich habe es gern ordentlich. Meine Nachbarn schätzen meine sauberen Wege rund ums Grundstück.
Solange ich Ordnung halten kann, kann mir keiner etwas. Seit zwei Jahren habe ich eine Putzfrau. Sie kommt immer Donnerstags und reinigt im Wechsel alle zwei Wochen das Erdgeschoss und das Obergeschoss.
Benno und ich haben uns Ende der 60er Jahre einen kleinen Bungalow der „Neuen Heimat" gekauft. Mit vier Kindern waren wir wegen Eigenbedarf gekündigt worden. Keiner wollte eine Familie mit vier Kindern. Also haben wir unsere wenigen Ersparnisse genommen und die Anzahlung für den Bungalow geleistet.Benno hat nicht lange was davon gehabt. Nur vier Jahre im eigenen Haus, dann ist er an Krebs gestorben. Verwitwet mit vier Kindern! Da half kein Jammern.
Ich musste allen zeigen, das ich das schaffe. Und ich habe es geschafft. Ich habe alle groß gezogen.
Mein Rücken schmerzt. Ich gehe jetzt rein und gieße mir einen Kaffee auf.
Inge (46 Jahre, Oktober 2010)
Täglich telefonieren wir miteinander. Schon seit vielen Jahren bin ich es, die abends zum Hörer greift und sich erkundigt, wie ihr Tag war. „Ich habe euch schließlich groß gezogen. Jetzt ist es an euch, sich um mich zu kümmern. Sie sagt„euch
und meint mich.
Einen Versuch hatte ich, mich frei zu strampeln. Direkt nach dem Abi habe ich mir einen Studienplatz und ein winziges, kaltes Studentenzimmer in Münster gesucht. Hauptsache weg von zu Hause, der Kontrolle, der engen Freundschaft, die meine Mutter sich mit mir wünschte. Nach dem Tod meines Vaters machte sie mich zu ihrer engsten Vertrauten. Anfangs war ich darauf stolz. Irgendwann erdrückte es mich. Ohne das ich verstand warum, suchte ich das Weite.
Wieso ich wieder zurückkam? Da gab es viele Gründe. Heute lebe ich mit meiner Familie 10 Autominuten von ihr entfernt, nah genug, um sie jedes Wochenende und mindestens einen Nachmittag in der Woche zu besuchen. Dienstags, wenn die Jungs Musikunterricht haben, fahren wir beide zum Großeinkauf. Neuerdings kauft sie Papiertaschentücher in rauen Mengen. Ich habe festgestellt, dass zwei ihrer Kellerregale voll damit sind.
„Davon hast du reichlich zu Hause", erinnere ich sie bei unserem heutigen Einkauf.
„Du hast keine Ahnung, was ich zu Hause habe. Oder schnüffelst du in meinen Schränken herum?" Erbost wendet sie sich erneut dem Stapel an Großpackungen zu. Nimmt eine weitere, legt sie in ihren Wagen, wirft den Kopf in den Nacken und schiebt energisch weiter.
Agnes (November 2010)
Inge hat gerade angerufen. Sie muss länger arbeiten und kann heute nicht kommen. Ich bin ganz geknickt. Diese langen, grauen Novembertage machen mich traurig. Sie erinnern mich an die Zeit kurz vor Bennos Tod. Wir hatten gehofft, dass ein neues Medikament ihm helfen würde. Fünf Tage vor Weihnachten ist er in seinem Bett gestorben und ich habe nicht begriffen, dass er schon tot war, als er sich frühmorgens schwer auf die Matratze fallen ließ. Er hatte seine Augen auf und starrte ruhig an die Decke.
„Ich rufe den Arzt," flüsterte ich ihm zu, weil ich Inge nicht wecken wollte, die in unserem Bett schlief. Die Leitung zu unserem Telefon war bei Erdarbeiten tags zuvor beschädigt worden, also warf ich mir den Morgenmantel über und lief zu unseren Nachbarn.
Der ärztliche Notdienst war morgens um 7.00 Uhr schwer von Begriff. „Muss ich wirklich kommen? Ich schrie in den Hörer. „Herr Doktor, mein Mann stirbt!
Zwei Tage vor Weihnachten und einen Tag nach meinem 47. Geburtstag habe ich Benno beerdigt. Das ist jetzt 40 Jahre her und jeden Winter fürchte ich mich vor den Erinnerungen; lähmt mich die Angst und lässt mich innerlich erstarren.
Meine Ärztin hat mir etwas gegen die Depressionen verschrieben. Manchmal frage ich mich, wer mich überhaupt noch braucht.
Inge (Dezember 2010)
Wir gehen heute gemeinsam zur Hausärztin. Direkt nach der Arbeit fahre ich hin und begleite sie zur Praxis. Die Ergebnisse der Blutwerte sind da und meine Mutter möchte mich gern dabei haben. „Ich verstehe die Ärztin nicht, die nuschelt immer so!"
Im Behandlungszimmer schaut sie sich um. Schüttelt den Kopf.
„Also die Bilder an der Wand, die gefallen mir gar nicht."
„Die Ärztin hat ein Fable für Miro, einen spanischen Künstler. Kunst ist Ansichtssache. „Wenn ich sage, ich mag die bunten Striche nicht, dann mag ich sie nicht.
Beleidigt wendet sie mir ihren Rücken zu.
Die Hausärztin begrüßt zuerst mich, dann meine Mutter. Das irritiert mich. Es hat etwas Verdrehtes. Sie hält einen Vortrag über Agnes‘ mäßige Blutwerte. „Das Cholesterin ist zu hoch. Nehmen Sie regelmäßig Ihre Tabletten? Mutter nicht eifrig. Sie denkt kurz nach und meint dann erklärend: „Ich hatte gestern Bratwurst mit Pommes Frites.
„Die Blutabnahme ist aber ein paar Tage her.", erklärt die Ärztin.
Sie zieht mich an die Seite: „Haben Sie Einsicht in die Arzneimitteleinnahme ihrer Mutter?" Ich schüttele den Kopf.
„Kaufen Sie sich in der Apotheke eine Dosierungshilfe für die Wochentage und teilen Ihrer Mutter die Medikamente nach einem Plan ein, den ich Ihnen ausdrucken werde."
Mutter wird ungeduldig. „Lass‘ uns jetzt gehen; deine Kinder warten doch!" Ich beruhige sie, denn tatsächlich sitzen Simon und Erik zu Hause vom Computer. Und haben es gar nicht gern, wenn ich früher nach Hause komme als erwartet.
Agnes, (85 Jahre, Weihnachten 2010)
Mein Weihnachtsbraten war wieder ein Genuss. Gestern brachte mir Metzger Brander die 7 Kg schwere Pute vorbei. Ich habe meinen schwarzen Bräter aus dem Keller geholt; für die Füllung Zwiebeln, Äpfel und Speck geschält. Den heiligen Abend habe ich damit verbracht, die Pute zu braten. Habe mich darüber gefreut, wie das Geflügel knusprig braun wurde.
Der Tipp: immer wieder mit dem Fettsud übergießen, damit die Haut nicht trocken wird. Inge habe ich das Rezept aufgeschrieben. Sie meinte:Mama, wenn du nicht mehr bist, muss ich wissen, wie dir diese wunderbare Pute gelingt!
Wenn ich nicht mehr bin…..
Aber ja, ich bin vor drei Tagen 85 geworden. Ich bin es gewohnt, allein zu leben. Ich bin stolz darauf, dass ich noch alles bewältige. Das muss mir in meinem Alter jemand nachmachen. In meiner Nachbarschaft haben schon etliche die Segel gestrichen. Viel hat sich verändert in den letzten Jahren.
Ines hat nach dem Tod