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Kiesbergstraße 83: Geschichten aus Darmstadt
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Kiesbergstraße 83: Geschichten aus Darmstadt
eBook552 Seiten6 Stunden

Kiesbergstraße 83: Geschichten aus Darmstadt

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Über dieses E-Book

Bessungen ist ein gewachsener, beschaulicher Stadtteil im Darmstädter Süden mit einer bunt gemischten Bevölkerung. Die Bewohner des Altbaus Kiesbergstraße 83 sind noch etwas bunter. Hier lernen Sie sie kennen und nehmen Teil an ihren Verrücktheiten, ihren Festen und ihren Zusammenstößen mit der Staatsgewalt: Die Russin Anastasia Rabimova, die nicht ist, was sie zu sein vorgibt. Die Griechin Artemis, die Waren verkauft, die dies ebenso wenig sind. Den schwulen Busfahrer Klaus, der früher Balletttänzer war, und die Lehrerin Selma, die über ihm wohnt und ihn mit Ariengesängen um fünf Uhr morgens nervt. Außerdem einen schönen Mechatroniker mit muslimischem Vollbart, eine Yogalehrerin und andere mehr. Sie tratschen und beschweren sich übereinander, die Polizei fährt regelmäßig vor, aber alle feiern sie miteinander Weihnachten - im Mai.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Nov. 2017
ISBN9783743971134
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    Buchvorschau

    Kiesbergstraße 83 - Matthias Schmidt

    1 – Auszug

    Dominik zieht aus!

    Artemis, die neben ihm wohnt, hört es, als er sich am Morgen von seiner Freundin verabschiedet: „Wenn ich erst bei dir wohne, machen wir das anders". Flugs erzählt sie es der ersten Person, die sie im Hausflur trifft; das ist Yvonne. Als sie in deren auf die Botschaft hin feucht werdende Augen blickt, muss sie ganz schnell weiter. Yvonne ist dabei, die Treppe zu schrubben, aber bei dieser Nachricht steht die Welt still. Sie möchte schnell hinter eine geschlossene Wohnungstür, bevor ihr Tränen in die Augen schießen, und hinter der eigenen wäre sie allein. In Dorotheas Wohnung im dritten Stock hört sie Radio-Geschrummel.

    „Trink erst mal ´nen Kaffee, beschwichtigt sie Dorothea. „Ich habe auch Hefezopf gebacken. Mit Quark!

    „Ich will nichts essen!"

    „Hattet Ihr denn etwas miteinander?"

    „Quatsch! Ich hab mich doch grad erst von ´nem anderen getrennt. Aber ich hat noch so viel vor mit dem …"

    „Ich habe Hunger!, krächzt Dorotheas Papagei. „Ich will Austern!

    Die halbe Hausgemeinschaft ist scharf auf Dominik – den schönsten Mann im Haus, groß und schlaksig mit einer rasierten Glatze, wie ´s heute Mode ist, mit großen dunklen Augen und immer flotten Sprüchen und einem coolen Lächeln auf den Lippen. Mechatroniker ist er. Sein dickes Motorrad steht meist in der Einfahrt im Hof. Nie hatte er eine wirklich lange feste Beziehung – bis vor ein paar Wochen. „Mir hat er erzählt, er ist bindungsunfähig. Weil seine Mutter bei ihm so mit Pampers gespart hat, als er ein Baby war".

    „Und mit dem hast du noch viel vor?!"

    Erneuter Tränenfluss. „Heute schon gefickt?", krächzt der Papagei.

    Yvonne ist nicht eben Stadtmeisterin im Beziehungs-Management; das kann man nicht behaupten. Sie gibt sich Mühe, aber dann passt ´s doch nie, mit den Kerlen. Töchterchen Lotte stammt aus einer Ehe vor ihrem Einzug. „Hast du dem seine Freundin mal gesehen?"

    „Die gibt ´s noch nicht lange. Fährt Taxi. Sie wohnt in Aschaffenburg".

    „Ganz schön weit weg. Der zerstech ich die Reifen! Ist sie hübsch?"

    „Kennst du eine Frau, die über eine andere sagt, dass sie hübsch ist?".

    Ach, Dorlis Lebensweisheiten … „Ich hab Hunger!", krächzt der Papagei.

    2 – Haushaltstag

    Bei Martina hat Yvonne nur kurz Rast gemacht nach der Lagebesprechung bei Dorothea. Über Dominik war alles gesagt, und Dorli wechselte zu ihrem einzig wesentlichen Thema, dem Papagei Irene. Yvonne war nicht in der Lage, sich den Erörterungen über Irenes Stuhlgang und Mauser zu widmen. Ein andermal, wenn ihr Kopf freier ist. – Martina, die neben Dorothea wohnt, ist bereit, sich Yvonnes Lamento über Dominiks bevorstehenden Auszug noch einmal ganz von vorn anzuhören, zumal sie selbst gerne mit dem Hübschen flirtet. Nur steht sie dabei auf dem Kopf – was man einer Yogalehrerin im fortgeschrittenen Stadium wohl nachsehen muss. „Lass dich nicht ablenken, ich hör dir zu, erklärt sie, und fordert Yvonne auf: „üb mit, das bringt dich auf andere Gedanken!, während sie die Beine ins Spagat öffnet. Yvonne kann sich bei dem Anblick nur schwer auf ihr Unglück konzentrieren. Kopfstand, das zielt ebenso wie Irenes Befindlichkeiten an ihren momentanen Bedürfnissen vorbei.

    Als Yvonne die Treppe in den ersten Stock runterkommt, in dem ihre Wohnung liegt, sieht sie erfreut, dass Klaus von der Arbeit zurück ist. Sie klingelt. Als sie einzog, hat ihre Mutter, die am Theater in Lübeck einst Kostüme schneiderte, sie auf den Regenbogen-Fußabstreicher vor Klaus´ Wohnung hingewiesen: „Freu dich, Liebchen! Am Theater waren meine besten Kollegen die Schwulen, und von denen waren die Tänzer am lustigsten! Dass Klaus selbst Balletttänzer ist, wusste sie damals nicht. Na ja – war: heute ist er Busfahrer. Klaus ist ein perfekter Nachbar; immer gut für ein Glas Wein oder um Zigaretten zu schnorren, wenn nach Mitternacht der Vorrat aufgebraucht ist, oder um Probleme zu wälzen, die bei ihm schnell zu Problemchen werden. „Wie siehst du denn aus!?, fragt er auch gleich, als Yvonne eintritt.

    Sie hat bei Dorothea genug geheult, deshalb genügt ein tiefer Seufzer: „aach!!! Hast du ´s gehört? Der Dominik zieht aus."

    „Oh! Hat er inzwischen bemerkt, dass er in Wirklichkeit schwul ist, und zieht nach Sitges, wovon er immerzu erzählt??"

    „Er zieht zu seiner Freundin nach Ascheberch."

    „Aschaffenburg! Bayern!; Klaus rümpft abfällig die Nase. „Da feiern sie alle naslang Marienfeiertage. Marie Empfängnis, Maria Verhütung, Maria Verlobung … Alles mit Prozession!

    „Scheint dich nicht sehr zu interessieren".

    Und ob Klaus das interessiert. Er hat ein Hobby: nachts vom Dachfirst, von dem Brett neben dem Schornstein aus, mit dem Feldstecher in Dominiks Wohnung im vierten Stock zu spannen, dessen schräge, ins Dach eingelassene Fenster ansonsten uneinsehbar sind. Doch das muss er Yvonne nicht auf die Nase binden. Wenn die wüsste, wie gut er über Dominik Bescheid weiß!

    Als sie Klaus verlässt, haben sie jeder drei Gläser Weißwein intus und sie einen Schwips. Klaus kam von der Frühschicht, da ist ´s wurscht, und sie hat ihren freien Tag und noch zwei Stunden, bis Lotte von der Schule nach Hause kommt. Klaus´ Sprüche haben ihren Kummer bezüglich Dominiks Auszug etwas vermindert. Es passt ihr gar nicht, dass Sami die Treppe emporsteigt, als sie ihre Wohnungstür aufschließen will. „Hast du getrunken?", fragt er stirnrunzelnd, anstatt einer Begrüßung.

    „Und? Was dagegen?"

    „Es ist noch nicht mal Mittag."

    Es war blödsinnig, vor drei Monaten mit dem Sohn der Nachbarn von obendrüber anzubandeln, das ist Yvonne schon länger klar. Für ein paar Nächte, okay; dabei hätte sie ´s belassen sollen. Sami steht völlig unter dem Kommando seiner Mutter, das ganze Haus bekommt jede Wellenbewegung zwischen ihnen mit, und weder ist es eine Beziehung, noch ist es keine.

    Sami will wie selbstverständlich mit ihr in die Wohnung. „Geht heut nicht, Sami. Ich hab Wäsche und Hausputz, ich muss mich um den Haushalt kümmern."

    „Macht nix, sagt Sami; „Mama hat schon gekocht.

    Das ist der Grund!, denkt Yvonne; deshalb läuft ´s nicht. Statt dass er mal auf irgendetwas beharrt. Wie hat Klaus das ausgedrückt: `der war nie ein richtiger Junge, und der wird auch nie ein richtiger Mann’.

    3 – Troubadour

    Klaus Hammer hat die ganze Woche über Frühschicht, und er möchte Ruhe und eine Stunde schlafen, als er am Donnerstag die Haustüre aufschließt. Aber schon am Briefkasten hört er die Verrückte über sich, die wieder Opernarien schmettert; „Ha ha ha hahahahaaaa, ha ha ha ha hahaha …" `Troubadour`. wie schön; trotzdem wird er dieser Irren den Hals umdrehen. Lehrerin, und dieser Lärm! Besteht darauf, `Fräulein` genannt zu werden, `Fräulein Liebehenschel`. In welcher Zeit lebt die denn. Wenn das noch lange so weitergeht, hat sie gelebt. – Er kocht sich einen Tee und wartet, ob sie zur Besinnung kommt. Passiert gelegentlich. Dann korrigiert sie wohl Klassenarbeiten. Kunst und Religion; was ´ne Mischung!! Ist sie damit fertig, wird sie die Wohnung saugen, mit einem Staubsauger, der der Straßenreinigung zu laut wäre. Heute hat Klaus genug!! – Sie ist zu `Carmen` gewechselt, der Habanera, zu `die Liebe von Zigeunern stammet`. als Klaus die Treppe hinaufstapft und klingelt.

    „Hören Sie augenblicklich auf mit dem Geschrei, Sie Asoziale!! Diesmal rufe ich die Polizei!", droht Klaus, während er bereits wieder die Treppe runterstampft.

    „Und Sie hatten vorgestern Nacht wieder Herrenbesuch!"

    „Eifersüchtig?"

    „Auf Ihre Mafiagestalten? Bei Ihnen piept ´s wohl!"

    Im Parterre geht die Wohnungstür auf mit einem Ruck, bei den Türken neben Fräulein Liebehenschel etwas leiser. „Lassen Sie sie doch mal zeichnen, im Kunstunterricht."

    „Unverschämt! Auch noch alles Ausländer!"

    „Sie wären doch für einen Nordkoreaner dankbar!" Was man sich anhören muss, von dieser Frau! Er wird die Prämie erhöhen, auf 2000.-€; und er wird einen Anschlag am Schwarzen Brett neben der Haustüre anbringen, jawohl: `2000.-€ Belohnung für den Überbringer der frohen, glaubwürdigen Botschaft, dass die Asoziale im 2. Stock auszieht`. Wird er.

    4 – Nummer 83

    Wenn im Darmstädter Stadtteil Bessungen im September Kirmes ist und sonntags der Umzug durchs Viertel zieht, passiert es wieder und wieder, dass Passanten in den kleinen Vorgarten des Hauses Kiesbergstraße 83 kommen, wohin die Hausgemeinschaft die Holzbänke aus dem Hinterhof geräumt und Tische mit Kuchen und Getränken aufgestellt hat, und auf Verdacht hin nachfragen, ob eine Wohnung frei ist oder wird – so anheimelnd sieht das Anwesen von außen aus. Und da ist noch nichts über seine Bewohner gesagt: über Dorothea Meinhard, 67 inzwischen, die am längsten von allen hier wohnt, stramm sozialistische Gewerkschaftssekretärin mit ausladenden Rubens-Formen und inzwischen schmerzenden Gelenken, die stöhnen unter den Treppen bis in den dritten Stock. Über die Yogalehrerin Martina Brandt in der Wohnung neben ihr, die Griechin Artemis Koujewetopoulou im vierten Stock, die ein obskures Ladengeschäft in der Innenstadt betreibt, die Kindergärtnerin Yvonne Wählert aus dem ersten, … und all die anderen.

    Die übrigen Häuser des Straßenzuges grenzen direkt an das Trottoir; nur dieses eine hat ein kleines Vorgärtchen, in dem auf einem wild wuchernden Stück Gras eine knorrige alte Eiche steht – der einzige Baum in der ganzen Straße. Er schluckt viel Licht, wächst immer noch und breitet sich aus, aber das Vorhaben, ihn zu fällen, wurde wiederholt von wütenden Protesten der Anwohner abgeschmettert. Über den Rasen ragt der Balkon der Wohnung im Parterre, vollgestellt mit Blumentöpfen, hinter denen eine nicht zu konkretisierende Plastik hervorragt; – oder ist das gar keine Kunst, und kann weg? Das Gärtchen wird eingegrenzt von einer niedrigen Backsteinmauer mit einem verrosteten Zaun darauf. Links davon der Hofeingang, in dem hinter dem Tor in einem Fahrradständer dreimal so viele Fahrräder stehen, wie das Haus Bewohner hat; manche mögen aus Bismarcks Zeit stammen. Regelmäßig beschließt die Hausversammlung, dass aufgeräumt und ausgemistet werden müsse, woraufhin in den folgenden Tagen ein paar der platten Räder aufgepumpt werden. – Dem Fahrradstilleben schließt sich ein schlauchartiger Tunnel an, über dem Klaus Hammers gut besuchtes Schlafzimmer liegt. Am Ende des Hofganges geht es rechts ins Treppenhaus. Geradeaus gelangt man durch ein uraltes, stets offenstehendes Holztor mit gläsernen Butzenscheiben in den großen, ausladenden Garten. Was würden Passanten, die das Vorgärtchen neugierig macht, erst zu diesem Idyll im Hinterhof sagen! Unter einem Mirabellenbaum steht lauschig eine Holzbank mit einem Bänkchen für die Füße, neben ihm ein Kirschbaum, dahinter Holunderbüsche. Der größte Teil des Gartens ist mit wild wucherndem Rasen bedeckt, dazwischen hier ein Beet und da eines, Küchenkräuter, Stiefmütterchen. Ein vor langer Zeit gepflasterter Weg führt zu den Mülltonnen rechts hinten am Zaun, vorbei an einer Einbuchtung in den Rasen, wo sich an zwei großen Tischen, kaum fallen im März die ersten wärmenden Sonnenstrahlen in den Hof, die Bewohner zu allen Tag- und Nachtzeiten begegnen. Yvonne isst gerne hier mit Tochter Lotte zu Abend, Dominik raucht eine Tüte und trinkt eine Flasche Bier, Klaus sitzt hier nachts nach der Spätschicht, vor sich ein Tablett mit einem Wein und Kerzen, und sinnt nach über den vergangenen Tag und die Männer und die Schönheit seines Lebens an sich. Ganz hinten vor der Mauer wohnt in einem langgestreckten Gartenhaus der Sonderling Dietmar Lemke. – Das 1908 erbaute Haus, vom Bombenhagel ´44 verschont, ist solide erhalten und besser isoliert als viele komfortable Neubauten (Klaus, der unter Fräulein Liebehenschel wohnt, hat eine davon abweichende Meinung). Zum chaotischen Charme trägt bei, dass alle Wohnungen unterschiedlich geschnitten sind, manche mit Balkons, die von Martina gar mit einer Terrasse, die oberen Stockwerke mit einem Blick ins Ried bis zum Rhein oder bis nach Frankfurt. Trotzdem hat es natürlich seine Unzulänglichkeiten. Man heizt mit Kohle und Briketts wie in der DDR der 70er Jahre. Der Schornsteinfeger, der das sicherheitstechnisch abnimmt, muss von irgendwoher geschmiert sein. „In Bessungen stehen ungefähr 30 solche Altbauten, erklärte er Yvonne einst, „aber der hier toppt alle. So ein Chaos herrscht nirgendwo. Klaus versucht seit zwei Jahren, im Wohnzimmer den Einbau eines kleinen Kamins genehmigt zu bekommen, aber damit beißt er beim Schornsteinfeger auf Granit. „Was der sich anstellt!, muffelt Klaus. „Ich habe zwei Jahre in Lissabon gewohnt, da hat im Winter bei den vier Heizlüftern im Wohnzimmer mal ein Kabel Feuer gefangen, das lief draußen an der Hauswand entlang. Meinst du, da hätten sie zur Sicherheit gleich das ganze Viertel abgerissen?? Diese beamtige deutsche Gründlichkeit – lächerlich!!

    Durch die Jahre hat das Haus die unterschiedlichsten Allianzen des Sich-Nicht- und Sich-Mögens erlebt. Klaus, genervt von Selma Liebehenschel, ist hingegen seiner Nachbarin Yvonne durch regelmäßigen Kaffeeklatsch-Intimitäten-Austausch recht zugetan. Dorothea und Martina teilen prinzipiell gute Nachbarschaft, die jedoch kriegsähnliche Krisen erfuhr, als Martinas Kater Tick zuerst Dorlis buntgefiedertem Papagei Sigmar im Treppenaus auflauerte und ihn verspeiste und nur Monate später, mit einem olympiareifen Sprung von Balkon zu Balkon, die Nachfolgerin erwischte – die „Mach das Licht aus! und „Komm ins Bettchen! sagen konnte. – „Das ist so in der Natur!, kommentierte Martina ungerührt. „Ein Tier frisst das andere. Hätte sie ihnen mal nicht die Flügel stutzen sollen. Wir sind nicht dazu da, in Gottes Schöpfung einzugreifen. – Dorothea mangelte es vollkommen an Verständnis für diese Thesen, und es brauchte Wochen, bis sie allmählich wieder ein paar Worte mit Martina wechselte. Auf Tick hat sie seitdem ein besonders wachsames Auge. Martinas Golden Retriever hält sie für weniger gefährlich. – Artemis und Martina teilen sich als einzige im Haus eine Putzfrau. „Dieses Treppenhaus liebe ich, kommentierte diese mal. „Wenn ich das schrubbe und mir vorstelle, wer da schon alles rauf- und runtergelaufen ist, und was das alles erlebt hat! Die Kaiserzeit! Hitler! Adenauer!

    „Zarah Leander! Brigitte Bardot!", ruft Klaus aus dem ersten Stock nach oben, denn sein Geschichtsbild orientiert sich an anderen Idolen.

    „Die Friedensbewegung! Die APO!", setzt Dorli hinzu, die Klaus´ Stimme für die von Dietmar gehalten hat.

    So ist immer Stimmung im Haus, vorwiegend gute. Diese Balance hat erst der Einzug von Frau Rabimova und Herrn Kuhnert im Erdgeschoss ins Wanken gebracht.

    5 – Fluchtpunkt Industriegebiet

    Selma Liebehenschel ist sich so gut wie sicher, dass sie gestern Abend mit dem Vater eines Schülers telefoniert hat. Nur: worum ging es, und welcher war ´s? Der Vater von Can wegen der Fünf in Kunst, oder der von Paul wegen der Beschwerde der Englischlehrerin? Oder hat sie gar nicht telefoniert und bildet sich das ein, wie vor zwei Monaten, als sie eine Mutter auf eine Mail ansprach, die dann nirgendwo zu finden war und von der diese nichts wusste? Selma ist dazu übergegangen, keine Schuldgefühle mehr zu akzeptieren wegen dieser Vorkommnisse. Das liefert immer neue Gründe, ein Likörchen zu trinken, und sie möchte eher weniger als mehr davon; ist ihr doch der Satz „Mein ganzes Leben ist ohnehin im Arsch" zu regelmäßig rausgerutscht letzthin – wobei sie es vornehmer ausdrückt, sagt sie es laut.

    Sie ist eine von nur dreien im Kollegium ihrer Schule, die weder eine Festanstellung haben noch beamtet sind; aber sie ist mit 42 die älteste. Und es ist ihre dritte Schule in den letzten neun Jahren. Sie hatte sich fest vorgenommen, dass es diesmal besser laufen sollte mit Schülern und Kollegen; geklappt hat es nicht. Sie wird gemieden von den anderen Lehrern und gemobbt von den Schülern. Obwohl sie sie sich solche Mühe gibt!!, malt großflächige Webeplakate im Stil von `Geiz ist geil` in der Neun und der Zehn und lässt im Religionsunterricht mit verteilten Rollen die Szene nachspielen, wie Calvin beim Konstanzer Konzil verbrannt wurde. Also, ließ; der Pfarrer, mit dem sie sich in die Religionsstunden teilt, hat bei der Gesamtkonferenz ein Riesen-Trara darum gemacht, dass gar nicht Calvin, sondern Jan Hus in Konstanz verbrannt wurde. Die Schüler hatten die Szene trotzdem mit großer Freude aufgeführt!

    Sie hat auch im Haus einen schweren Stand. Bleibt eher für sich, wird nie eingeladen, wenn Yvonne, Martina oder Dominik im Hof zwanglos grillen. Sie haben ihr die Party zu ihrem Master-Diplom nicht verziehen, die sie nach draußen in den Garten verlegte mit Livemusik und allen ehemaligen Kommilitonen, die nach Mitternacht ihre eiserne Ration von fünf Flaschen Johnny Walker entdeckten und erst in den frühen Morgenstunden die Kiesbergstraße verließen. Ja, es stimmt: ihr war die Fete nach drei Uhr morgens über den Kopf gewachsen. Überall Anwohner, die aus den Fenstern hingen und „Ist endlich Ruhe! schrien und „Ist da mal Schluss! Unverschämtheit!!; damit konnte sie nicht umgehen, und hat bald darauf mit einem Freund das Weite gesucht und bei dem übernachtet. Am nächsten Tag erst erfuhr sie von den letzten Gästen, die im Morgengrauen das Lied mit dem Refrain `Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land, hahahahaha` wörtlich genommen hatten. Blöd halt, dass Yvonnes Tochter Lotte, damals zweieinhalb, die erste auf dem Hof war am Sonntagmorgen.

    Ihr Handy klingelt. Das Festnetztelefon hatte sie auf stumm geschaltet nach dem zweiten Anruf ihrer Mutter. War ja klar, dass sie ´s jetzt mobil probiert. „Ich telefoniere auf der anderen Leitung, Mutter. Ich ruf dich zurück."

    „Lüg nicht, du telefonierst überhaupt nicht. Du hast abgelegt. Wenn das das Ergebnis unserer Erziehung ist …"

    „Was gibt es denn so wichtiges."

    „Wegen übermorgen. Du hast gesehen, dass ich auf der Einladung `halb vier` geschrieben habe. Pünktlich halb vier, nicht irgendwann nach fünf, wie du es gerne auslegst. Und frag nicht wieder nach einem Glas Wein beim Kaffeetrinken; die Leute denken noch, du trinkst."

    Ihre Mutter wird 75. Selma möchte nicht hingehen, nicht zu diesem Geburtstag und auch nicht mehr zu diesen frühen Abendessen sonntags um halb sechs, auf denen ihre Mutter besteht. Aber bevor sie sich aus diesen Zwängen befreit, hat sie andere, wuchtigere Aufgaben zu lösen. „Bist du noch dran?"

    „Ja, Mutter. Ist Gerd auch da?"

    „Nicht dieses Thema! Die Stimme Wilma Liebehenschels kündigt weinerlich von Verletzung; Selma bleibt unbeeindruckt. „Andere Kinder freuen sich, wenn ihre verwitweten Mütter nach Jahren des Alleinseins ein kleines Glück erleben. Dass du mir das nicht gönnst, hätte mir klar sein sollen.

    „Es dreht sich nicht um dein kleines Glück, sondern um Gerd. Ich mag ihn nicht."

    „Du musst ihn nicht mögen. Begegne ihm simpel mit etwas Respekt und Höflichkeit."

    „Einem ehemaligen Stasi-Offizier, der darauf auch noch stolz ist? Dem soll ich mit Respekt begegnen?"

    „Das reimst du dir zusammen! Eine erfundene Geschichte."

    „Willst du sagen, dass Elena lügt?" Elena ist die zwei Jahre jüngere Schwester, reich mit einem Staatssekretär verheiratet, der außerdem reich geerbt hat. Sie wohnen in einer Villa mit parkähnlichem Garten vor den Toren Frankfurts, in Dreieich-Buchschlag, und Selma bekommt schon Pickel, wenn sie an den großbürgerlichen Reichtum nur denkt.

    „Elena?"

    „Elena hat er seine Stasi-Uniform gezeigt und ihr vorgeschwärmt, wie großartig die Ausbildung in Moskau war, und dass es im Westen nichts Vergleichbares gab. Wird sie ausgerechnet für mich so eine Geschichte erfinden?"

    „Das fantasierst du! Du weißt doch am Sonntag nicht mehr, was du am Freitag erzählt hast."

    „Danke, Mutter."

    „Und zieh dich manierlich an. Frau Hild ist da, und Frau Lesser. Markus Hild soll Kirchenpräsident werden! Nimm nicht so ein aufdringliches Parfum."

    Selma hat genug: „und benimm dich deiner Tochter gegenüber anständig, Mutter! Ich habe es satt, von dir klein gemacht zu werden! Satt, satt, satt!!"

    Das Schluchzgewitter setzt ein: „warum straft mich Gott mit einer Tochter, die nichts im Leben auf die Reihe kriegt und nur darüber nachdenkt, wie sie ihren armen alleinstehenden Mutter eins auswischen kann".

    Selma legt auf. Es muss weit kommen, bis sie sich das wagt. - Bis vor drei Jahren, als Pfarrer Liebehenschel an Darmkrebs starb, war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter auch nicht ungetrübt, aber durch den sprunghaften, unberechenbaren Vater, den Selmas Mutter vergötterte, eher klein dimensioniert. Die Konflikte setzten ein bald nach dem Tod des Vaters, mit Wilma Liebehenschels verstärkten Ansprüchen an den Berufsweg ihrer Tochter, der Unzufriedenheit über deren Nichterfüllung und auch dem Ärger darüber, dass Selma nicht im Traum daran dachte, sich zu verehelichen. Ihre Marotte, auf der Anrede `Fräulein` zu bestehen, ist wohl auch ein Protest gegen Mutters Manipulationsversuche. Aber „Selma und Heiraten … womöglich bleibt mir da eine weitere Enttäuschung erspart, kommentierte die Mutter das in Selmas Beisein Frau Hild gegenüber. Elena, wenn sie denn mal miteinander reden, rät ihrer Schwester dringend zu einer Therapie: „da kannst du all diese Defekte reparieren lassen, Liebes!, als handele es sich bei ihrem Seelenleben um einen ramponierten Automotor.

    Selma gießt sich einen großzügig berechneten Gin-Tonic ein. Sie muss die Klassenarbeiten über Martin Luthers Thesen zur Reformation korrigieren, unbedingt! Die liegen seit zehn Tagen auf ihrem Schreibtisch. Ehe Direktorin Rumpf wieder mosert, weil Eltern sich beschwert haben. Aber … morgen; noch vor der Schule. Jetzt fährt sie erst mal in die Stadt, ins Industriegebiet. Erneut das Handy; eine unterdrückte Nummer. „Ja?"

    „Was hast du mit Mutter gemacht!?"

    „Was soll ich denn mit ihr gemacht haben??!"

    „Sie hat geweint, herzerweichend."

    „Elena: Mutter weint grundsätzlich bei jedem Satz, in dem mein Name fällt."

    „Wirst du eigentlich noch erwachsen, bevor du alt wirst? Hör zu, Rolf und ich haben uns überlegt, Mutter eine Reise zu schenken. Nach Rom. An einem Tag, an dem sie eine Messe mit dem Papst besuchen kann. Zwei …"

    „Spinnt ihr? Mutter ist evangelisch."

    „Und? Sie schwärmt für den Papst, und außerdem findet sie es wahnsinnig spannend, dass Gerd konvertiert … Also … Katholisch geworden ist. Nach der Vergangenheit."

    „Ich möchte diesen Namen nicht hören."

    „Er ändert sich! Und zu Mutters 75stem."

    „Vater würden die Haare zu Berge stehen."

    „Vater ist tot."

    „Sein Leben lang hat er gegen jede Art politischer Diktatur angekämpft, das DDR-System eingeschlossen. Und außerdem von der Ohlystraße als unserem Erbe gesprochen. Und dann kommt dieser Kerl daher. Mutter heiratet den noch."

    „Das gönnst du ihr nicht, was?"

    „Diesen Fettwanst?"

    „Magersucht ist auch kein ästhetischer Anblick."

    „Ich bin nicht magersüchtig."

    „Nein, magersüchtig nicht. Und jetzt hör zu, ich habe keine Zeit für diese unsinnigen Gespräche. Der Vorschlag ist, wir wollten dich mit ins Boot nehmen. Flug und drei Nächte, schönes Essen, ein Ausflug ans Meer nach Ostia. Was Mutter halt Freude macht. Für die zwei zusammen. Wir fliegen mit, Rolf und ich. Vielleicht Miriam auch, aber damit hast du nichts zu tun, das zahlen wir natürlich."

    „Das meinst du nicht im Ernst!"

    „Du willst also nicht. Hätte ich mir denken können. Warum hab ich gefragt. Bis Samstag dann." Und es klickt in der Leitung.

    Selma braucht noch einen Gin-Tonic. Sie schüttelt sich. Trotzdem, vielleicht hat Elena Recht, und sie sollte eine Therapie machen. Das ist kein Zustand, dass sie schon am frühen Nachmittag trinkt. Wenigstens ist Elena nicht noch einmal auf das Thema `Erbe` eingestiegen, wie beim letzten Mal: „wo nimmst du diese Idee her, dass Eltern eine Verpflichtung haben, ihren Kindern zum Abschied Geld übrig zu lassen!? Die hat gut reden! Haus und Garten, in dem sie wohnt und in dem ihre Miriam `so unbelastet vom Lärm der Großstadt, den Abgasen und den Gefahren, die dort lauern` aufwächst, „übrig gelassen von Herrn Staatssekretär Senior!! Sie ist gar nicht so wild auf die Wohnung der Eltern in der Ohlystraße, zehn Minuten Fußweg von ihr, und das Grundstück drum rum. Aber Vater hatte immer davon als dem `Erbe der Mädchen` gesprochen; und das soll sich unwidersprochen dieser Gerd unter den Nagel reißen? – Sie geht ins Bad, um sich zu schminken. `Du bist alt geworden`. hat eine Bekannte neulich ganz sachlich festgestellt, wahrscheinlich ohne es böse zu meinen. Selma gibt ihr fast Recht, als sie in den Spiegel schaut. Ihr scharf geschnittener schwarzer Pagenkopf, der gefällt ihr. Aber diese harten Falten rechts und links vom Mund und um die Augen nicht. Und sie ist auch zu dünn geworden, ausgemergelt. – Jetzt fährt sie erst mal ins Casino im Industriegebiet. Die Spielhalle in der Eschollbrücker Straße wäre ihr lieber, die ist nicht so weit, dahin könnte sie sogar laufen. Aber wenn sie da auf Schüler trifft … Nee! Echt nicht.

    6 – Wetten dass?

    Auf der Darmstädter Schwulenszene war Klaus Hammer früher ein wilder Feger. Er wäre das heute noch; es gibt bloß keine Darmstädter Schwulenszene mehr. Seine 60 Jahre sieht man ihm nicht an. Beim Duschen rasiert er sich routinemäßig eine Glatze, was ihn bulliger und männlicher erscheinen lässt, als er ist, und wodurch das verräterische Grau in den ausfallenden Haaren verschwindet. Seine Zwangsneurose, mindestens drei Mal die Woche Sport treiben zu müssen, unterstützt ebenso sein noch jugendliches Image. Bedenkt ihn eine Verkäuferin bei `Henschel` mit einem gutgelaunten „Wir werden schon was für Sie finden, junger Mann", hört er selbst keine Ironie heraus und frönt ungebremst seinem Faible für Orange und Gelb. Und die Busfahrer-Berufskleidung triggert den schwulen Uniform-Fetischismus. Kurz: er hat auf freier Wildbahn immer noch einen Stein im Brett. Im Haus ist er als Schwuler integriert und empfand sich selbst nie ungewöhnlicher als jemand, der rote Haare hat oder über 1,95 groß ist. Er liebt es, schwul zu sein!!, und stets bat er Gott darum – als er noch an ihn glaubte, es im nächsten Leben wieder sein zu dürfen. Er hatte längere Beziehungen, zwei davon hier in der Kiesbergstraße, wo er mit Dorothea und Dietmar zu den Ureinwohnern zählt; doch scheint das Single-Dasein für ihn passender.

    Mit seinem besten Freund Dynamite-Daisy sitzt er letzte Woche bei ein paar Gläsern Wein und verkündet: „das klappt heute noch genau wie früher: vier verschiedene Männer in jeder Woche sind immer noch drin." – Diese Freundschaft gibt es seit den lange zurückliegenden Balletttänzer-Tagen. Dynamite – Daisy heißt im wirklichen Leben Sven Bunk und ist eine platinblonde, schrille Tunte.

    „Gib nicht so an, Herzchen, nicht vor mir. Du überschätzt dich."

    „Wetten dass?"

    „Jede Woche vier andere Kerle? Vielleicht zweimal im Jahr! Aber nicht als Standard!"

    „Ich schwör ´s dir. Vier in der Woche, 16 im Monat. Locker. Eher mehr."

    „Wetten wir um einen Abend im Tigerpalast, dem Frankfurter Varieté, schlägt Sven vor. „Mit Dinner und Sekt.

    „Dafür mach ich mir den Stress nicht. Um was richtig Großes."

    „Ein Wochenende in London. Flug, Hotel, eine Musicalaufführung. Mir egal. Ich gewinne sowieso."

    „Für zwei."

    „Für uns zwei. Der Verlierer zahlt. Also du. Darauf freu ich mich! Aber es wird nicht geschummelt! Ein Foto als Beweis, bei jedem Akt; mit Datum. Einen Monat lang. Auf dem Handy."

    „So machen wir ´s. Bist du auch dabei? Wettest du das gleiche dagegen? Einen mehr?"

    „Mmh … Sven lehnt sich mit eleganten, weit ausholenden Armbewegungen in seinem Stuhl zurück. „Ich bin heutzutage eher das Hausmütterchen. Mach du mal. Wetten wir beim nächsten Mal, wer die bessere Ananas-Marzipanbuttercremetorte bäckt.

    „Ab Montag."

    „Und keine Tricksereien!"

    Vor 20 Jahren wäre es keinerlei Problem gewesen! Da traf man sich im Herrngarten, im Hauptbahnhof und am Marktplatz. Im Pornokino. Regelmäßig ergaben sich Kontakte im Hallenbad unter der Dusche. Und heute?? Das Netz!! Nichts als das Netz! Nicht mal eine provinzielle Schwulenkneipe hat sich in Darmstadt gehalten, und im Nordbad hat er seit Jahren mit niemandem mehr angebandelt.

    Über `Planet Romeo` chattet er in den ersten Tagen der Wette mit dem einen und dem anderen Mann und wird mit einem Kerl aus Mainz handelseinig. Der Typ möchte den ganzen Weg nach Darmstadt rüberkommen. Klaus findet den Aufwand schräg und ist skeptisch, aber er hat telefoniert mit einer sichtbaren Nummer, und das scheint Klaus vertrauenswürdig. Ein grauhaariger, lockiger Ehemann, der auf seinen Profilbildern rund und wohlgenährt in die Kamera lächelt, durchaus Klaus´ Geschmack. Aber was kann man erwarten von diesen Dating-Profilen, auf denen man bis ins Detail anklickt, was man sexuell zu tun bereit ist, und dann die Person dafür sucht. Ein sexueller Pizza-Service, `extra scharf und Rucola statt Salami` eingeschlossen. Klaus ist dankbar, dass er dem Mainzer das Prädikat `Schon gar nicht sooo schlecht` erteilen kann; in seiner Ballettausbildung war das die optimalste Bewertung, die einer der russischen Lehrerinnen vergab.

    Und er hat nicht vergessen, den Bub zu fotografieren.

    Ein Blick vom Dach in Dominiks Reich wird aufregender sein, denkt er bei sich, und zieht eine weite Windjacke über seinen Trainingsanzug, in deren Tasche das große Fernglas Platz hat. Er schleicht auf Zehenspitzen durchs dunkle Treppenhaus; hinter der Holztür neben Artemis` Wohnung führt eine Stiege zu einer Dachluke, die sich direkt vor einer schmalen Bank neben dem Schornstein öffnet – seinem nächtlichen Lieblingsplatz. Man kann von hier aus auch in Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen, in das des schwarzen Studenten von der Elfenbeinküste; aber die Wohnung zu seinen Füßen ist seit Monaten sein persönlicher Favorit.

    Dominik hat nichts an außer einer knappen, wildgemusterten Unterhose. Er skypt an dem Bartischchen mit dem hohen Hocker davor, an dem er manchmal einen Kaffee trinkt und dazu eine Kippe raucht. Der große Rechner auf dem Schreibtisch ist ebenfalls eingeschaltet. Auf dem Laptop erkennt Klaus Dominiks Freundin Johanna. Sie giggeln und kichern; einmal steht Dominik kurz vom Hocker auf und dreht sich um, zieht die Unterhose runter und zeigt seinen Hintern in die Kamera. Mist!!!!, das kam so überraschend, dass Klaus mit dem Fernglasschwenken nicht schnell genug nachkam. – Johanna wird bald darauf mit Küsschen und anderen Liebesbeteuerungen verabschiedet. Klaus registriert, dass sie nicht bemerken konnte, dass Dominik auch auf dem großen Rechner skypt. Er schaltet den Laptop aus und wechselt augenblicklich nach drüben. Klaus kann auch diesen Schirm einsehen: abwechselnd zwei bärtige Typen, eindeutig Araber, dazwischen Bilder von verschiedenen LKWs. Dominik spricht englisch, lauter als mit Johanna. Klaus hört ihn gut durch das offene Fenster im Dach, doch ist sein Englisch ist nicht gut genug, um etwas zu verstehen. Er hegt seit Wochen einen vagen, furchtbaren Verdacht!!, angestoßen von einem bärtigen Araber, der Dominik mehrmals besucht hat und den er in der Woche drauf zweimal an einem Stand in der Innenstadt hat Korane verschenken sehen, zusammen mit zwei anderen Vollbärtigen, die arabische Jellabas trugen und weiße Käppis, und mit den Passanten diskutieren wollten. Diese großen arabischen Schriftzeichen quer über dem Bildschirm erhärten seine Vermutung. Dominik trägt seit geraumer Zeit ebenfalls einen Bart; Vollbart!! Das ist inzwischen Mode selbst bei `Lidl`. Auszubildenden, klar; nur liegt eben dieser Koran neben dem Rechner. Für Klaus riecht das verflucht nach … Sie warnen immerzu davor, in Talkshows!, und zeigen junge Männer aus Dortmund und aus Kreuzberg, die im Irak mit schweren Waffen rumballern! Man muss doch nur zwei und zwei zusammenzählen, und es kommt Salafismus heraus! Islam! Terror! Klaus scheint es, dass er einem gruslichen Geheimnis auf der Spur ist: dieser niedliche Dominik … auf dem Weg in einen nahöstlichen Krieg?? Er lässt das Fernglas sinken. Ihm wird ganz seltsam.

    Dominik macht sich beim Skypen Notizen auf einem Schreibblock neben der Tastatur. Klaus weiß nicht, was er davon halten soll. Per se … Er hatte mal was mit einem Kerl, der am gleichen Nachmittag aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Er ist großzügig mit den Randerscheinungen des Lebens. Aber ein Terrorist, und noch dazu ein Nachbar!! Am liebsten möchte er sofort von seinem Hochsitz runtersteigen und Yvonne alles brühwarm erzählen. Aber dann müsste er die Quelle preisgeben; das käme nicht gut. – Er ist nicht mehr so gespannt darauf, Dominik aus der Unterhose steigen zu sehen. Und der lässt sich heute sowieso Zeit damit; betätigt stattdessen intensiv einen Taschenrechner und schreibt Summen auf einen Block. Könnte gut sein, dass die Araber Bomben bestellen, mutmaßt Klaus, und er soll sie liefern; in alten Autos versteckt. Das ist ein Haus! Er fährt sich nachdenklich mit einer Hand über seine Glatze. Eine Nachbarin aus dem Reich des Zaren, eine die mit Bauteilen des Eiffelturms handelt, und jetzt ein Bombenbauer. Man macht schon was mit. Wenn er bloß nicht plant, sich selbst in die Luft zu sprengen! -

    Am Dienstag hat Klaus Frühschicht und ist groggy danach. Drei Unfälle auf dem Cityring, keine Ruhepause, zwei Busse ausgefallen und seiner ewig proppenvoll … Am Theater war ´s echt schöner! Er schläft eine Stunde nach der Arbeit. Dann drängt die Zeit, die Wette zu gewinnen; also wieder `Planet Romeo`. Zwei Stunden dusseliges Rumchatten mit unentschlossenen Huschen; nervt!! Schließlich lässt er sich ein auf `Lederboy, versatile, 36`. Als der Kerl die Treppe raufkommt, würde er am liebsten schnell die Tür zuschmeißen. Nicht eines der Fotos im Netz hat entfernt Ähnlichkeit mit diesem magersüchtigen Hungerhaken im Ringelpulli mit einer von Elton Johns Margeriten-Sonnenbrillen. Klaus versucht, die Aktion gleich im Flur zu tätigen. Er will die Wette nicht schon am zweiten Tag kicken. Hinterher duscht er ausgiebig und möchte es schnell vergessen; schnell!! Aber: er hat ein eindeutiges Foto; mit Datum!!

    7 – Die Hausmeisterwohnung

    Die Parterrewohnung war von jeher für einen Hausmeister vorgesehen. Als der letzte starb vor sechs Jahren, stellte sich das Paar Rabimova/Kuhnert händchenhaltend und lächelnd für diesen Posten vor. – „Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe! Herr Schymanski von der Verwaltung in Regensburg hatte seine Zweifel. „Sie wären Ansprechpartner für Schornsteinfeger und Handwerker und müssten eventuelle neue Mieter betreuen, und Hof und Garten müssen wöchentlich gefegt werden und Schnee geschippt im Winter. Ein Blick auf Ekkehard Kuhnert, der Mitte der 50 sein mochte, und dessen Goldkettchen, das altrosa Hemd und die Sankt-Pauli-Kappe zeugte von Herrn Schymanskis Skepsis. Die sehr viel ältere Frau an seiner Seite in dem grauen Schneiderkostüm mit der Vogelnestfrisur, die geschminkt war wie für eine Fernsehgroßaufnahme mit dicken schwarzen Balken über den Augen, steigerten seine Zweifel.

    „Schauen Sie nicht auf meine Mann; ich mache alles. Bin ich starke Frau. Mein Vater war Partisan in Krieg; Onkel gleiche. Ich kann bauen Kleiderschrank und hacken Holz. Alles. – Ich werde in diese Haus für Ordnung sorgen!" Letzteres äußerte sie zwei Wochen später; da war der Mietvertrag schon unterschrieben.

    „Darauf hat das Haus gewartet, kommentierte Klaus´ Freund Dynamite Daisy. „Alle freuen sich darauf.

    Anastasia Rabimova gönnte sich keine Atempause und ging die Aufgabe unverzüglich an. Ab sofort war das Hoftor um 19 Uhr verschlossen. Fahrräder mussten in Reih und Glied aufgestellt werden, sonst verbog sie die Vorderräder zu Achtern. Martinas Hund verjagte sie mit Steinwürfen aus dem Garten, und ging Besuch an ihrer Wohnungstür im Parterre vorbei, öffnete sie ihre Türe und kommentierte alle Fremden. Jede Concierge aus einer französischen Filmkomödie der 50ger war ein Friedensengel im Vergleich zu ihr, sodass das Paar ihren verantwortungsvollen Posten bald wieder verlor und das Haus Kiesbergstraße 83 ohne Hausmeister weiterwerkelte – und auch nicht unterging. Die Vereinbarung, die die im großen Ganzen friedvolle Hausgemeinschaft traf, war der Hausbesetzerszene der wilden 70ger entlehnt und hieß `Jeder ist für alles verantwortlich`. übersetzt: keiner tut irgendetwas. Die Mülltonnen wurden geleert, die Treppen zuweilen geputzt, für den Mirabellenbaum und die Rosen hinten im Garten übernahm Dorothea das Patronat, das sie auch vorher schon mit selbsternanntem Mandat innehatte. Ansonsten hätte Pipi Langstrumpf ihre Freude an dem Anwesen gehabt. Die zweimonatige Rabimova-Diktatur war überstanden. Die Generalin selbst sann hinter ihren Tüllgardinen auf Rache.

    Das ging so ein Jahr lang, in dem Anastasia Rabimova das Treppenhaus mit Hirschgeweihen dekorierte, Martinas Katze Tick entführte und an einer Tankstelle an der Heidelberger Straße aussetzte, wo

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