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Der Blaue Salon und andere Torheiten: Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre
Der Blaue Salon und andere Torheiten: Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre
Der Blaue Salon und andere Torheiten: Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre
eBook633 Seiten8 Stunden

Der Blaue Salon und andere Torheiten: Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre

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Über dieses E-Book

Mit den Augen eines aufgeweckten und sensiblen Jungen schildert Vernon Katz Szenen aus seiner Kindheit in den 1930er-Jahren in Schötmar, heute Teil von Bad Salzuflen. »Der Blaue Salon und andere Torheiten« ist ein lebendiges, authentisches Dokument kleinstädtischen jüdischen Lebens in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg und des verzweifelten Kampfes einer jüdischen Familie um ihr Überleben.
Mit seiner ausgeprägten Beobachtungsgabe nimmt der heranwachsende Junge nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die schrittweisen Veränderungen im Alltag der Familie, in der Nachbarschaft und in der Schule deutlich wahr, deutlicher als seine Eltern, wie der Autor rückblickend anmerkt. Mit trockenem Humor, ironischer Distanz und mit kritischer Reflexion berichtet Vernon Katz von seinen Erlebnissen.
Der Titel des Buches spielt auf die Unfähigkeit der Eltern an, in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft die Gefahren zu erkennen, die ihnen als Juden drohen. Sie sind in ihrer deutschen Heimat tief verwurzelt, haben gemeinsam eine erfolgreiche Bürstenfabrik aufgebaut und glauben, dass die neue politische Situation nicht von Dauer sei. Als die Repressionen des Nazi-Regimes drastisch zunehmen – endgültig nach den Schrecken der Pogromnacht 1938 –, wird der Familie klar, dass sie nur durch Emigration ihr Leben retten kann.
Die Geschichte des elfjährigen Vernon Katz ist eine fesselnde und zutiefst berührende Lektüre, die über ihren bedeutenden lokalhistorischen Bezug weit hinausweist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Juni 2023
ISBN9783739515113
Der Blaue Salon und andere Torheiten: Eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland der 1930er-Jahre

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    Buchvorschau

    Der Blaue Salon und andere Torheiten - Vernon Katz

    Der dicke Siegfried und seine Fräulein Töchter

    Kapitel 1

    Siegfrieds Abschied

    Dezember 1935

    Die Nachbarn schauen zu. Die dicke Frau Dreier, Großmutters Mieterin im Haus gegenüber, steckt ihren großen, grauen Kopf zwischen die Vorhänge. Über der Wohnung von Tante Alma schaut die noch dickere Frau Prophet von oben zu. Die elegante Frau Doktor Lux, hager und nervös, kommt aus ihrer Tür und tut so, als würde sie uns nicht bemerken. Pietzrick, der Lebensmittelhändler, ein kleiner, verhutzelter Mann, tritt mit einem Kunden aus seinem Laden und mustert uns mit winzigen Augen. Seine Tochter muss drinnen die Kundschaft bedienen. Vielleicht fischt sie gerade Salzheringe aus dem großen Holzfass. Von Kordmöllers Bäckerei kommen Leute mit Brot oder Kuchen vorbei. Ich wette, sie sagen: »Was für eine Judenschule.« Schon vor den Nazis, als ich noch sehr klein war, wurde jede ungeordnete Versammlung »Judenschule« genannt.

    Die Nachbarn beobachten die Männer in ihren langen Mänteln und Homburgern, die vor unserem Haus in der Schülerstraße in Gruppen dicht zusammenstehen. Es sind unsere Verwandten und Freunde, die sich lebhaft unterhalten. Wir Jungens haben uns in unserer eigenen Gruppe versammelt. Niemand beginnt, sich zum Trauerzug aufzustellen.

    Die Männer beobachten die Zuschauer von der Seite. Sie fühlen sich nicht mehr zu Hause in ihrer Heimatstadt. Nimm Vater. Selbst Vater, der mit seiner aufrechten Haltung, seinem kurz geschnittenen Haar und seiner Disziplin als preußischer Offizier auf Urlaub durchgehen könnte und der von Anfang an gesagt hat, die Nazis würden bald zur Vernunft kommen und einsehen, dass sie die Juden brauchten, selbst Vater schaut nicht mehr geradeaus auf die Welt. Auch ich nicht, mit meinen achteinhalb Jahren. Ich blinzle. Viel hat sich verändert, seit vor drei Monaten die ersten Nürnberger Gesetze in Kraft traten.

    Die Augen der Pferde quellen aus schwarzen Masken hervor. Schwarze Quasten hängen an ihren Seiten herunter. Ihr dampfender Atem steigt in der kalten Luft auf. Sie scharren mit den Hufen. Diese Pferde sind nicht so geduldig wie unser Zugpferd Hektor.

    Endlich stellen wir uns auf. Ich fühle mich wichtig, da ich mit meinen Cousins und meinem Onkel Walter direkt hinter dem Sarg gehe. Vater folgt in der Reihe hinter uns. Ich habe meinen guten Matrosenanzug und Mantel an, mit der Matrosenmütze, die Mutter so gerne mag. Onkel Walter lässt sein dunkelgraues Jackett und seinen Mantel trotz der Kälte offen. Er ist sehr groß und trägt seine Hosen sehr hochgezogen. Sein Bauch und meine Augen sind auf gleicher Höhe.

    Wir sind noch nicht weit die Schülerstraße¹ entlang gegangen, als hinter einem Zaun ein schlaksiger, rothaariger Rüpel seinen Daumen in die Nase steckt und mit hoher Stimme ruft: »Ich habe einige Zinken in meinem Leben gesehen, aber noch nie so etwas wie diese!«

    Cousin Walter, Onkel Walters ältester Sohn, sagt ruhig: »Der Dreckskerl hat Glück, dass er hinter dem Zaun steht. Ich würde ihm gern eine auf die Schnauze hauen. Dann wäre sein großes Maul zu, und er würde ein, zwei Wochen an mich denken.« Das ist keine bloße Prahlerei. Walter hat Mut. Er ist kein Feigling wie ich.

    Wir kommen am Süßwarenladen von Urbans in der Nähe der Schule vorbei. Er sieht von außen grau und trist aus, hat aber immer Lakritzstangen und Karamellbonbons vorrätig.

    Ich schaue nach links, um zu sehen, welchen Film es in unserem kleinen Kino gibt, obwohl ich die besten Filme verpasse, weil ich noch nicht vierzehn Jahre alt bin. Etwas weiter vorn geht ein SS-Mann in steifen, schwarzen Reithosen und Schaftstiefeln die Stufen zum Gasthaus und Restaurant Odeon hinauf. SA und SS gehen dort immer ein und aus.

    Auf der Straßenseite gegenüber steht das schöne, herrschaftliche Fachwerkhaus der Familie Sprick, ein Fachwerk von schwarzen Balken, die Quadrate von weißem Lehm umrahmen. Spricks besitzen eine Keksfabrik, und die alte Dame war früher Großmutters Freundin. Am unteren Ende der Schülerstraße ist das Bürgermeisteramt, wo Ewald Beckmanns Vater amtiert.

    Herr Beckmann ist der Bürgermeister unserer Stadt Schötmar in Lippe. Sie hat etwa fünftausend Einwohner und ist eines der weniger bedeutenden Schmuckstücke in unserem kleinen, aber schönen Staat Lippe-Detmold. Vor fast drei Jahren trug der Erfolg der Nazis bei den Lippischen Landtagswahlen entscheidend dazu bei, dass Hitler an die Macht kam. Der Führer selbst sagte, dass dieser Erfolg nicht hoch genug zu veranschlagen sei.

    Unser dunkler Trauerzug biegt nach rechts ab in die Begastraße, vorbei an Potts, unserem größten Geschäft, und bergab, wo Tante Rosa wohnt, umgeben von Ställen und dem Geruch von Kuhdung. Ihr Ehemann Salomon geht im Trauerzug mit. Gegenüber von ihrem Haus, links von uns, liest ein Mann gerade eine Zeitung in einem Schaukasten. Ich habe Exemplare des Blatts »Der Stürmer« gesehen und musste über die Karikaturen dickleibiger, jüdischer »Plutokraten« lachen. Sie ähnelten einigen Leuten, die ich kenne, Onkel Salomon z.B., der jüdisch ist, und auch Vaters Kunde, Herrn Birkholz, der kein Jude ist. Julius Streicher, der federführende Kopf des »Stürmer«, sieht aus wie ein hässlicher Mops und gleicht selbst einer seiner Karikaturen.

    Cousin Helmut und ich trauen uns nie, vor dem Schaukasten stehen zu bleiben. Wenn wir die Begastraße hinunter gehen, um für Onkel Julius Zigarren zu kaufen, gehen wir immer auf die andere Straßenseite.

    Ich mag nicht die Straßen entlang marschieren, während alle Leute uns anstarren. Wären wir doch nur schon auf dem Friedhof. Ich drehe mich um zu Vater und sehe den stufenförmigen Turm von St. Kilian, der protestantischen Kirche, die hoch über der Stadt aufragt. Hinter Vater ein Meer von schwankenden Homburgern. Es sind viele alte, tattrige Männer im Trauerzug. Ganz bestimmt keine SA-Männer, die »mit ruhig, festem Schritt« marschieren wie im Horst-Wessel-Lied, das sie in der Schule singen.

    Der Wagen schwankt, als die Pferde ihn über die Kreuzung ziehen. Die Straße überquert hier zwei Flüsse. Irgendwo zwischen der tief grünen Bega und der schnell fließenden Werre hebt eines der Pferde den Schweif und hinterlässt einen dampfenden, gelben Haufen, den wir umgehen müssen. Pferde haben kein Schamgefühl.

    Etliche Passanten kichern über uns, aber einige ältere Männer nehmen den Hut ab. »Dort geht der dicke Siegfried Silberbach«, höre ich einen Mann zu einem anderen sagen. Ich denke, ganz Schötmar weiß, dass eine große Persönlichkeit zu Grabe getragen wird.

    Endlich erreichen wir die Oerlinghauser Straße. Die jüdische Abteilung des Friedhofs ist eine kleine Enklave, dunkler und dichter belegt als die protestantische und die katholische Abteilung. Es gibt keine Blumen, nur kahle Bäume, Steine und Efeu. Vater geht nicht in die Nähe des Grabes. Ich frage ihn, warum.

    »Als ein Cohen [ein Mitglied der Priesterkaste] darf ich den Weg nicht verlassen. Du darfst, aber nur solange du noch nicht Bar Mitzwah bist.«

    Der Sarg knarrt, als die Männer ihn vom Wagen heben. Es gibt keine Kränze. Der Rabbi beginnt mit den Gebeten. Onkel Walter kann kein Hebräisch. Er bewegt seine Lippen und tut nur so. Vater sagt seine Gebete schnell herunter. Es fließen Tränen, aber nicht bei mir.

    Ein dickes, kleines Rotkehlchen lässt sich auf der Planke über dem Grab nieder und hat keine Angst vor dem Gesang und den vielen Menschen.²

    »Selbst die Vögel wollen Abschied nehmen«, dröhnt der Rabbi. Was für ein Spaß. Das Rotkehlchen bleibt bei seinem großen dicken Bruder, bis die Planke entfernt und der Sarg in das Grab hinabgelassen wird. »Möge er ruhen in Frieden!« Ein heulender Onkel Walter beginnt, die Erde ins Grab zu schaufeln. Mit viel Lärm schlägt der Kies auf den Sarg. Der dicke Siegfried, mein lärmender Großvater, nimmt endgültig Abschied.

    Siegfried

    Kapitel 2

    Die Trauergäste

    Die Besucher treten durch die hohe Haustür ein und steigen die breiten Steinstufen hoch, an denen zartblättrige Zimmerlinden Wache halten. Sie gehen durch die Buntglastüren und strömen in die Finsternis. Der hohe Spiegel in der Diele ist mit einem weißen Laken verhüllt. Alle Vorhänge sind zugezogen. Kerzen flackern.

    Sie kommen von nah und fern, nicht nur von Schötmar und seiner vornehmen besseren Hälfte, Bad Salzuflen, dem Solebad. Sie kommen von Lemgo, Lage, Herford, Barntrup und von Detmold, der Hauptstadt unseres kleinen Staats.

    »Er war ein guter Mann«, murmeln sie.

    »Er hatte einen guten Shem [Hebräisch für ›Name‹].«

    »Sein Bellen war schlimmer als sein Beißen.«

    »Ich kenne keinen Mann, der eine Färse so gut beurteilen konnte wie er.«

    »Mitten in der Nacht holte er sein Vieh vom Bahnhof ab.«

    »Solche wie ihn gibt es heute nicht mehr.«

    Es waren auch Nichtjuden da, Bauern und Großgrundbesitzer, die Großvaters Kunden oder Lieferanten gewesen waren, und auch einige Nachbarn. Sie kamen nach Einbruch der Dunkelheit, aber sie kamen. Großvater hatte wirklich einen guten »Shem«, und das, sagt Mutter, ist das Beste, was ein Mann hinterlassen kann.

    Die Frauen unserer Familie und Onkel Walter sitzen auf niedrigen Hockern ohne Rückenlehne und nehmen die Beileidsbekundungen entgegen. Meine Mutter, Tante Grete und die Großtanten mit geröteten Gesichtern geben Klagelaute von sich. Onkel Walter, der gut aussehende Riese, unterdrückt Tränen für den Vater, der ihn lange Zeit so schlecht behandelt hatte. Einige einheimische Wichtigtuerinnen in langen, altmodischen Kleidern schließen sich dem Wehklagen der Familie an. Da jeder Neuankömmling Loblieder auf Großvater singt, schwillt das Wehklagen auf neue Höhen an. Die gemurmelten Gebete der Frommen, angeführt von Vater, gehen in dem Lärm unter.

    Großmutter, die auch ohne Rückenlehne ganz aufrecht dasitzt, ist gefasster. Ich glaube, sie ist erleichtert, dass der lange Kampf vorbei ist. Vielleicht wird sie ihren Kontrahenten irgendwann vermissen. Ihre Schlachten mit Großvater gaben ihrem Leben Schwung. Ihr graues Haar ist mit Hilfe mehrerer Kämme sorgfältig auf ihrem Kopf hochgesteckt. Ihr langes, blasses Gesicht ist noch ein wenig länger und blasser; ihre Schlupflider bedecken ihre Augen noch ein wenig mehr. Sie weint, aber nicht so sehr, dass sie hässlich aussieht wie einige Leute, die ich kenne.

    Von links nach rechts: Emmy und Grete stehend und Bertha sitzend

    »Ich war nie eine Schönheit«, sagt Mutter oft. »Meine Schwester war eine und sieht immer noch gut aus«. »Du bist schön, Mutti«, kontere ich, »genauso schön wie Tante Grete, nur anders.« Heute sehen beide nicht gerade blendend aus. Beide haben gerötete Augen und Spuren von Tränen im Gesicht. Sie machen komische Klagelaute, alles Vokale. Immer Konkurrentinnen um die Liebe des Vaters, übertreffen sie sich nun in der Lautstärke ihres Wehklagens bei seiner Beerdigung.

    Ich kann verstehen, dass Tante Grete weint. Sie weint leicht. Aber Mutter – nie zuvor habe ich Mutter weinen sehen. Es macht mich ganz elend, sie weinen zu sehen. Weinen ist etwas, das ich tue, wenn ich falle und meine Knie verletze. Mutter hat sich und alles in ihrer Umgebung immer so unter Kontrolle. Ich weiß nicht, wie viele jener kleinen Spitzentaschentücher sie heute gebraucht hat.

    Normalerweise ist ihr langes, geflochtenes Haar zurückgekämmt und zu einem festen Knoten gedreht, der mit Kämmen und Haarnadeln festgesteckt ist. Heute hängt es ihr über die Ohren herab. Der Knoten ist lose. Die Kämme haben sich gelöst. Tante Gretes Haar sieht besser aus, denn sie trägt einen kurzen Bubikopf. Insgeheim beneidet Mutter sie um ihre Freiheit. Vater würde Mutter niemals erlauben, ihr Haar abzuschneiden, und mir würde es auch nicht gefallen. Ich liebe ihr langes, dunkelbraunes Haar, wenn sie es herabfallen lässt und kämmt.

    Heute steht alles auf dem Kopf. Mutter trägt nie schwarz. Dunkelbau, ja, sehr oft, aber nie schwarz. Sie sagt, es steht ihr nicht, und sie hat Recht. Doch da sitzt sie nun in einem schlabberigen, schwarzen Sommerkleid. Ich weiß nicht, wo sie das her hat. Sie sieht schrecklich aus. Wahrscheinlich friert sie auch.

    Sie geht in die Küche und versucht, mit unserer Köchin Erna zu sprechen, aber sie fängt wieder an zu weinen. Ich schleiche mich an sie heran. Sie schaut mich an, sieht mich jedoch nicht. Das macht mir am meisten zu schaffen. Sie beachtet mich nicht. Und all dies wegen eines jähzornigen alten Mannes, der ewig durch das ganze Haus brüllte und, überhaupt, der jahrelang krank gewesen war. Wenn deine Mutter, von der alles abhängt und die das Fundament deines Lebens ist, anfängt, sich wie eine verrückte Frau zu benehmen, macht dich das stutzig.

    Trauer wirft auf alles einen Schatten. Wie konnte ich mir vorstellen, was Mutter an jenem Tag fühlte? Niemals den geliebten Vater wieder zu sehen, der in ihrer Kindheit mit ihr gespielt hatte, ihr als jungem Mädchen schöne Kleider gekauft und ihr geholfen hatte, als sie heiratete, der sie in ihrem ganzen Leben geliebt und bewundert hatte. Dreißig Jahre später, fast auf den Tag genau, als Mutter unerwartet im Alter von 72 Jahren starb, sollte ich dieselbe untröstliche Trauer durchleben.

    Ich schleiche mich in eine Ecke in der Nähe der Küchentür, beobachte und höre zu. Ich studiere die Turmmuster auf den Fliesen und klimpere mit den Murmeln in meiner Tasche. Ich könnte mit Helmut im Hof spielen, aber dann wüsste ich nicht, was ich verpassen würde. Ich könnte aufs Spielen verzichten oder sogar auf den glasierten Apfelkuchen, aber nicht darauf, genau mitzubekommen, was drinnen vor sich geht. Das ist das Schreckliche daran, wenn man vor allen anderen zu Bett gehen muss. Man verpasst, was sie unten reden. Aber manchmal schleiche ich in meinem Schlafanzug auf den Treppenabsatz und kriege ein wenig von ihrer Unterhaltung mit.

    Ein schwarzes Bündel watschelt auf Großmutters Platz zu. Das ist Tante Alma von gegenüber. Sie braucht einige Zeit, um ihr Ziel zu erreichen. Tante Alma schleppt eine Menge an Gewicht mit sich. Ihr großes Doppelkinn berührt Großmutters sorgfältige Frisur, als sie ihr Worte des Trostes zuflüstert. Großvaters Bemerkungen über das Fleisch und die Würste, die sie in ihrem Laden verkauft, sind vergessen oder vergeben.

    Ein Lichtstrahl streift die schiefergrauen Fliesen. Kurz bevor eine Hand die Vorhänge fest zuzieht, fällt er auf eine Reihe frischer, nasser Stiefelspuren. Sie führen geradewegs von der Glastür zu Großmutters Platz. Tante Alma hat gesündigt. Sie hat eines von Mutters Zehn Geboten übertreten: »Du sollst deine Füße auf jeder Fußmatte, der du begegnest, abwischen, vor allem bei nassem Wetter.« Mutter wird es in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht bemerken. Wenn wieder Normalität einkehrt, wird sie die Fliesen dafür segnen, dass sie die Hauptlast des Schneematsches getragen und ihre kostbaren Wohnzimmerteppiche geschützt haben.

    Auf Tante Alma folgt eine etwas modernere Version ihrer selbst. Hertas großes Doppelkinn droht das ihrer Mutter noch zu übertreffen. Ihre Kleider haben gewöhnlich tiefe Dekolletés, aber heute trägt sie ein schwarzes bis zum Hals zugeknöpftes Kleid. Mutter und Tochter haben eine rote Hautfarbe, die mich an das Fleisch erinnert, das sie verkaufen. Stachelige, schwarze Haare sprießen aus den braunen Hautflecken auf ihren Wangen und ihrem Doppelkinn wie seltsame Baumgruppen, verstreut auf fruchtbaren Feldern. Herta, eine sehr weit entfernte Verwandte, geht auf die dreißig zu, höchste Zeit für sie, zu heiraten. Mutter versucht schon ewig lange, einen Mann für »die arme Herta« zu finden. Doch bisher gibt es keine Interessenten. »Es is kein Pott so schief, es passt’n Deckel druff«, sagt Mutter in ihrem Dialekt. Es ist eines ihrer Lieblingssprichwörter, doch Herta ist weiterhin der lebendige Gegenbeweis.

    Tante Alma und Herta gehen in die Küche, wo die Häppchen bereitstehen. Mutter spricht von ihrer Wohnküche, als Entschuldigung dafür, dass sie die Gäste dort bewirtet, besonders bei nassem Wetter. Die Küche hat weiße Fußbodenfliesen, die sofort gewischt werden können, wenn sie beschmutzt werden – und das werden sie. Doch das ist heute nicht Mutters Aufgabe. Sie hat andere Sorgen. Die Köchin macht die Honneurs mit dem Aufnehmer. Und danach werden die Fliesen noch poliert, sodass man umso leichter ausrutscht.

    Ich schleiche unseren dickleibigen Gästen nach, nicht weil ich hungrig bin, sondern weil es Spaß macht zu sehen, wie sie sich vollstopfen – eine Abwechslung in all der Düsternis. Herta ist ein Fresssack wie ich. Sie versucht, sich einen ganzen Berliner in den Mund zu stopfen. Dann geht sie auf die Petit Fours los und rundet das Ganze mit einem Stück Topfkuchen ab. Einen jeden Ehemann wird Herta bei den Lebensmittelrechnungen teuer zu stehen kommen.

    Herta hat keinen Ehemann gefunden. Wie so viele Juden und Jüdinnen unserer Gemeinde wurde sie ermordet. Am 30. März 1942 wurde sie deportiert, vier Monate später ihre Mutter im Alter von zweiundsiebzig Jahren. Von Herta hat man zuletzt etwas im Warschauer Ghetto gehört. Tante Alma wurde in der Nähe von Minsk ermordet, weit entfernt von Lippe-Detmold. Sie waren harmlose, hart arbeitende Frauen. Möge mir mein lockerer Ton verziehen werden.

    Plötzlich wird es ganz still. Ein hoch gewachsener, gebrechlicher älterer Herr hat die Diele betreten. Sein Zylinder verleiht seiner Größe noch mehr Größe und seiner Würde noch mehr Würde. Er kommt zu mir herüber und streichelt mir über den Kopf, als wäre ich der Haupttrauernde. Ich bin Herrn Rosenwalds großer Liebling und ein geschätzter Kunde der Rosenwald-Damen, die sehr großzügig Süßigkeiten verteilen. Vater hört auf, sich auf und ab zu bewegen und geht durch die Diele, um den Neuankömmling zu begrüßen. Er unterbricht seine Gebete nicht wegen Kleinigkeiten. Herr Rosenwald ist das ranghöchste Mitglied der jüdischen Gemeinde in Schötmar. Er ist die jüdische Gemeinde.³

    Bei Festen sitzt Herr Rosenwald mit Zylinder und Gehrock auf seinem Ehrenplatz in der Nähe des Toraschreins. Von dort hat er alle, die in die Synagoge kommen, im Blick und, wie Vater sagt, macht sich von denen, die nicht da sind, eine Notiz in seinem Gedächtnis. Er muss vor langer Zeit aufgegeben haben, Großvaters Abwesenheit zu notieren. Nun bekommt dieser seine Quittung. Er kann nicht mehr brüllen: »Hör auf mit dem Hokuspokus! Hau ab, Rosenwald! Fort mit euch, all ihr nutzlosen alten Weiber!« Er liegt hilflos in seiner Holzkiste. Sein Kampf gegen die Orthodoxen und ihre Bräuche ist vorbei.

    Sie hüllten ihn in den Gebetsschal, den er zu Lebzeiten nie trug – die größte Niederlage.

    »Sie sollten eine dicke Scheibe fetten Speck essen, der sie zu Männern macht«, pflegte er zu sagen. In seinen jungen Jahren gab er ein solches Beispiel von Männlichkeit. Es machte ihn nicht beliebt bei denen, die die Speisegesetze einhielten. Großvater war trotzig und widerspenstig. »Sie meinen, wenn sie koscher essen und in die Synagoge gehen, könnten sie Gott und die übrigen von uns täuschen – ein Haufen alter Scheinheiliger.«

    Es war alles Teil eines Feldzugs gegen eine besondere alte Scheinheilige, »die ihre Nase nie aus dem Gebetbuch nimmt. Warum kann sie nicht mal zur Abwechslung etwas Nützliches tun?«, höhnte Großvater. »Immer murmelt sie über diesem Teufelsbuch.«

    Jenes Buch – ich habe die Überreste mit den Narben des Kampfes noch auf meinem Bücherregal stehen – Großmutters Ausgabe des Israelitischen Gebetbuchs, Hebräisch auf der rechten Seite, Deutsch auf der linken, mit einem Anhang »Deutsche Gebete für den privaten und öffentlichen Gottesdienst« am Ende. Es hat jetzt einen etwas moderigen Geruch. Das Leder blättert ab, der Einband bröckelt – das letzte Relikt des Kulturkampfes, der in meiner Kindheit zu Hause vor so langer Zeit tobte.

    Warum dann aber stattet uns der Hüter unseres Glaubens zum Andenken an den »Speckesser« einen Besuch ab? Vielleicht macht Großmutters Frömmigkeit Großvaters Mangel an dieser mehr als gut. Doch ich glaube, es geht noch um mehr. Großvater war groß und stattlich. Er war nicht zu übersehen, genauso wenig wie eine Dampfwalze. Er mag nicht auf dem Weg zu den Gerechten im riesigen Schoß Abrahams sein, aber er ist immer noch eine Respektsperson. Da ist also Herr Rosenwald, er macht eine steife Verbeugung und versichert Großmutter, dass es nie mehr jemanden wie Großvater geben werde.

    Ich kann sehen, was Herr Rosenwald meint, als Onkel Julius hereinkommt. Er wird nie die Stiefel tragen können, die Großvater gerade hinterlassen hat. Onkel Julius oder Jüller, wie er in der Familie genannt wird, ist Großvaters jüngerer Bruder. Er ist kleiner als Großvater und hat das rote Haar der Silberbachs. Er hat ein fleckiges Gesicht und sein roter Schnurrbart hängt herab. Ausnahmsweise ist er ohne Zigarre. Großvater schätzte die Begabungen seines Bruders nicht hoch ein, doch ich habe Onkel Walter zu Mutter sagen hören: »Jüller mag kein Genie sein, aber er ist ein umsichtiger Mensch. Er ist nicht so dumm, wie Vater ihn darstellt.«

    Onkel Julius’ kleine, runde Augen sind ausdruckslos, als er sich direkt neben Großmutter zu den bei ihr sitzenden Trauergästen plumpsend hinsetzt. Sie ist nicht allzu erfreut. Der Duft von »Schlemmerhappen«-Zigarren in seiner Kleidung ist mit etwas weniger Angenehmem vermischt. Onkel Julius hat seinen Darm nicht mehr ganz unter Kontrolle.

    Jemand entscheidet, dass die Diele kein Ort für Jugendliche ist. Wir werden in eines der Dienstbotenzimmer im zweiten Stock verbannt, weit weg vom Geschehen. Es ist ein kleiner Raum mit einem Bett, einem Stuhl, einer Kommode mit einer Waschschüssel und einem Krug mit Wasser. Von hier oben hört man selbst bei offener Tür nichts von dem, was unten geredet wird. Wir sitzen auf dem Bett, als Helmut, mein Cousin, Freund und Rivale, plötzlich ohne jede Warnung einen durchdringenden, hohen Schrei ausstößt. Er schreit weiter laut auf und verkündet seine Trauer. Will er zwei Stockwerke tiefer gehört werden? Ich will nicht zurückstehen und schreie mit, aber ich kann es Helmut an Lautstärke oder Eifer nicht gleichtun. Ich grabe meine Fingernägel in die Innenseite meiner Hände, aber die Tränen wollen nicht fließen. Ich versuche es mit Mutters Klagelauten, aber mein Herz ist nicht dabei. Ich empfinde keine Trauer, nur Unbehagen angesichts des Wahnsinns, der meine Welt überrollt hat. Ich will, dass alles wieder normal wird.

    Vater sagt, dass es eine Seele gibt, die er auf Hebräisch »ruach« nennt. Er sagt, dass sie wie Atem ist, obwohl sie nicht atmet. Er sagt, dass sie weiter wirkt nach dem Tod, aber er erklärt nicht, wie sie das macht, ohne Leib und ohne zu atmen. Ich frage mich, ob sie schreien kann. Was wird Großvater tun, wenn er niemanden mehr anbrüllen kann? Brüllen war sein Leben.

    Mutter sagt, diese ganze Sache mit der Seele ist altmodischer Aberglaube, sie gehört nicht in die moderne Zeit. »Wer stirbt, stirbt sich«, sagt sie. Sie muss diesen Satz erfunden haben. Er klingt nicht richtig, aber ich weiß, was sie meint. Wenn man tot ist, ist man tot und niemand kümmert sich um dich. Ich glaube, ich vertraue Vater. Man kann nicht ein Leben wie Großvater leben und dann einfach für immer verschwinden.

    Kapitel 3

    Die gebratenen Tauben

    Großvater streckte sich wie ein gut gesättigter Löwe und rülpste. Er hatte gerade etwas verzehrt, was wie eine ganze Kalbsbrust aussah – kein Gemüse, kein Brot, nichts zu trinken – nur Fleisch, Kartoffeln und Soße. Er schaute auf den Berg von Knochen, der vor ihm auf dem Teller lag, dann über den Tisch zu seinen drei Enkelsöhnen. Seine dunklen Augen lächelten. Die Knochen waren sauber abgenagt, selbst die Knorpel waren verschwunden. Was für ein schönes Beispiel für die jüngere Generation.

    Er wischte sich den Mund mit einer großen Leinenserviette. Es war zu spät. Jedes Mal, wenn er geräuschvoll ein in Soße getauchtes Stück Fleisch zu sich genommen hatte, hatten sich im Dickicht seines Schnurbarts braune Perlen gebildet, waren dort eine Weile hängen geblieben und dann, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, auf der grauen Hopfensackweste gelandet, die seinen riesigen Rumpf fest umschloss. Die Revers seines schwarzen Baumwolljacketts hatten ebenfalls ab und zu ihr Teil abbekommen.

    Nicht weit entfernt, entlang den Straßen, die zum Kurpark führten, rieselten Tröpfchen von Solewasser von den dornigen Reisigaufbauten, den berühmten Gradierwerken Bad Salzuflens. Großvater hatte es irgendwie fertiggebracht, mit Tröpfchen seines Essens seine eigene Gradierwerkversion zu kreieren.

    Zu Hause hätte Mutter ihm die Serviette in sein kragenloses Hemd gesteckt, aber Großvater war nicht zu Hause. Wir besuchten ihn in der Pension Adler, so hieß sie wohl, in Bad Salzuflen – der gut aussehende Walter in langen Hosen, der kleine Helmut mit seinem kantigen Gesicht in grauen Shorts und ich, pummelig und pausbäckig in meinem Matrosenanzug. Großvater verbrachte eine Woche in Vollpension, womit er sich selbst eine Freude machte, und die anderen ihre Ruhe hatten. Die Pension Adler hatte ihm ein besonderes Preisangebot gemacht, einen extra hohen Preis, der seinem Appetit entsprach. Eine kleine jüdische Pension in einem unbedeutenden Badeort konnte von Gästen, die bei einer Mahlzeit eine ganze Kalbsbrust aßen, nicht gut normale Preise verlangen, ohne Verluste zu machen.

    »Ich habe ihnen gesagt, ›es macht mir nichts aus, ein paar Mark mehr zu bezahlen, aber ich will essen, was ich essen will‹«, erzählte uns Großvater stolz. »Ich kann nicht von diesen lächerlichen Portionen leben, die sie ihren feinen Damen servieren, die nur kleine Häppchen zu sich nehmen. Ich will eine Riesenportion.« Nach der Leistung des Abends zu urteilen war es eine Mahlzeit für Riesen, die Großvater bekam. Zu Hause in Schötmar waren seine Rationen nicht annähernd so großzügig und saftig. Wie wir alle hatte er unter Ernas Kochkünsten zu leiden. In der Pension Adler ging es ihm gut.

    Mir ging es nicht so gut. Großvater hatte darauf bestanden, dass wir zum Abendessen blieben. »Geben Sie ihnen anständige Portionen«, hatte er der Besitzerin befohlen, die sich in ihrem langen Kleid dicht über den Esstisch beugte, umgeben von dunklen Brokatvorhängen und Mahagonimöbeln.

    Kalbsbrust war nicht mein Lieblingsgericht. Ich machte mir keine Sorgen, dass ich das Baby einer Kuh essen würde. Meine Eltern hatten mich nicht dazu gebracht, so zu denken. Aber das Fleisch war mit allerlei Ungenießbarem bedeckt, und wenn man erst einmal darunter gelangt war, lohnte sich die Mühe kaum noch. Der Geschmack war zu fade. Ich habe nie verstanden, warum Großvater, Mutter und Onkel Walter von dem schrecklichen Zeug schwärmten.

    Ich schob meinen Teller nahe an die Tischkante, ließ ein Stück hinunter auf den Teppich fallen und stieß es mit dem Fuß ins Dunkel. Helmut bemerkte mein Spiel und kicherte. Mutter wäre entsetzt gewesen.

    Löwen und Herren im fortgeschrittenen Alter neigen dazu, nach einer schweren, fleischreichen Mahlzeit apathisch zu werden. Ganz anders Großvater. Während sein riesiges Verdauungssystem zu arbeiten begann, wurde er immer lebendiger und gütiger. Als er mit dem letzten Knochen fertig war, blickte er auf und sah, wie ich in meinem Stück Kalbsbrust stocherte und versuchte, das Fleisch von der Haut, den Knorpeln und von zu weichen Stücken zu befreien. Er lächelte mir zu. Mir! Seinem am wenigsten geliebten Enkelkind.

    »Iss auf, mein Junge«, sang er mit freundlichster Stimme. »Es wird einen Mann aus dir machen.«

    Wenn ein Mann zu sein bedeutete, wie Großvater zu werden, wollte ich keine Männlichkeit, aber ich verschlang mein Essen. Es brachte nichts, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die gute Stimmung des Abends zu verderben. Wie üblich vergaß Großvater bald alles, was mich und Helmut betraf, der sein Bestes tat, um unsichtbar zu sein. Großvaters Aufmerksamkeit galt seinem ältesten und liebsten Enkelsohn, dem männlichen Walter. Mit ihm konnte er von Mann zu Mann reden.

    »Du kannst nicht danach gehen, was Jüller sagt«, dröhnte er. »Er ist ein kleiner Fisch, sieht nicht über den Tellerrand hinaus.« Großvater pfiff halblaut und tat seinen Bruder mit einer Handbewegung ab.

    »Höre auf mich. Ich werde dich beraten. Ich werde dir Starthilfe geben. Man kann immer noch gute Geschäfte machen, selbst in diesen Zeiten.

    Man muss mehr Färsen halten und sie schneller wieder verkaufen. Dafür braucht man Kapital. Doch mach dir keine Sorgen; ich bin da und werde dir helfen.« Großvaters Augen glänzten und leuchteten visionär wie bei Mutter, wenn sie Pläne machte.

    »Man muss unbedingt geeignete Leute haben, die für einen auf die Suche gehen. Mach dir keine Sorgen, was sie kosten. Sie sind ihr Gewicht in Gold wert. Sie finden für dich gut aussehende Färsen, Schnäppchen, von denen du nie etwas hören würdest. Die Bauern wollen dir nur die Plautzen verkaufen, die dürren, alten Tiere.«

    Ich rutschte unruhig auf meinem Platz. Mutter hatte mich gelehrt auf den Viehhandel herabzusehen. Vater hatte mir beigebracht, zu Poesie, Oper, Geschichte und französischer Kultur aufzuschauen, und in nichts von all dem war Großvater eine Autorität. Ich saß in der Falle, als er stundenlang von schwarzbunten Rindern, rotbunten Rindern, Friesländern und Emmentalern erzählte, welche Kühe die beste Milch und welche das beste Fleisch gaben und welche Fleischstücke. Kühe, Kühe, Kühe.

    Ich streichelte Kühe nie, wie ich Hektor, unser Zugpferd, streichelte. Greve, unser Fuhrmann, wusch und schrubbte Hektor, niemand aber schien jemals Kühe zu waschen. Sie rochen nach Dung und waren oft grün verkrustet mit dem Zeug. Und sie hatten die scheußliche Angewohnheit, mit ihrem schmutzigen Schwanz nach mir zu schlagen. Kühe waren weit entfernt von Mutters Hygiene- und Reinlichkeitsstandards. Doch wenn ich in ihre großen, traurigen, glänzenden Augen mit ihrem rot umrandeten blauen Schimmer schaute, wusste ich, dass es gute Tiere waren. Vielleicht war es die schiere Größe ihrer Augen. Ich hatte gelernt, dass große Augen ein großes Herz bedeuten.

    »Hüte dich vor Menschen mit kleinen Augen und spitzer Nase«, hatte Mutter gesagt. Sie hielt allerdings auch nicht viel von Stupsnasen.

    »Bevor du ein Tier kaufst, schaue dir immer die Venen in der Nähe des Euters an«, riet Großvater Walter und fuhr fort, die Kennzeichen einer Plautze im Detail zu beschreiben.

    »Du bist eine Plautze«, flüsterte ich dem dünnen Helmut zu.

    »Und du bist ein fettes Schwein«, kam es prompt zurück.

    Walters runde Augen funkelten hellwach, als er Großvaters Worte der Weisheit in sich aufsog. Nichts von dem, was Großvater gesagt hatte, konnte neu für ihn gewesen sein. Er hatte seinem Vater schon seit Jahren beim Viehhandel geholfen. Aber Großvater war Großvater und seine Worte hatten Gewicht. Walter stellte sich hinter Großvaters Stuhl und legte ihm seine Hände um den Hals. Ich konnte nicht verstehen, warum er ihn so gern hatte, war jedoch nicht überrascht, dass Großvater Walter mochte. Alle mochten Walter.

    Walter wusste mit Großvater umzugehen. Er hatte keine Angst vor ihm – wie ich sie hatte. Wie sein Vater nannte er ihn Alter, und Großvater schien das zu gefallen. Ich hätte nie gewagt, ihn anders als Opa zu nennen. Großvater wollte unbedingt auf dem Laufenden gehalten werden, und Walter erzählte ihm alles, was so vor sich ging – ob Gutes oder Schlechtes.

    »Hör nur, was mir neulich auf dem Markt in Dortmund passiert ist.« Walter glättete sein welliges, schwarzes Haar, das dünner und dunkler war als meines. Er machte das immer, wenn er aufgeregt war.

    »Ich kaufte drei gut aussehende Färsen, aber sie zogen drei ganz andere aus dem Stand. Wo wir gerade über Plautzen reden. ›Diese habe ich nicht gekauft. Ich habe jene drei dort gekauft‹, sagte ich und zeigte auf meine Färsen. ›Wovon redest du?‹, entgegnete der Auktionator.

    Andere Leute kamen vorbei und sagten zu ihm: ›Wir haben gesehen, wie dieser junge Bursche jene drei Färsen gekauft hat. Wir können es bezeugen.‹

    Sie hielten mich nicht für einen Juden, aber der Auktionator wusste es. Es gab einen gewaltigen Tumult. Ich habe am Ende gewonnen, aber wir sagten, ›vergiss es‹, wir wollten keinen Ärger.« Großvater, der Kämpfer, stimmte zu.

    »Man muss wissen, wann man sich in eine Schlacht begibt und wann auf den Rückzug. Heutzutage, wo die Chancen gegen uns stehen, ist es am besten, Ärger zu vermeiden. Ich hoffe, wir werden noch einmal bessere Tage sehen, aber man weiß es nie. Ich habe Onkel Hermann [meinen Vater] gedrängt, in Frankreich ein Geschäft zu eröffnen. Er spricht französisch und es schadet nicht, ein zweites Standbein zu haben.«

    Er schenkte Walter ein wohlwollendes Lächeln. »Wenigstens bist du für deine Rechte eingetreten, mein Junge. Das stärkt den Charakter.«

    Walter war kein Junge, der sein Licht unter den Scheffel stellte. In der Schule machte er, was auf dem Viehmarkt nicht möglich war.

    »Als ich nach Schötmar kam«, sagte er stolz, »wurden Günther Wallhausen und Egon Hamlet regelmäßig von den Jungen in ihrer Klasse verprügelt. Das hörte bald auf, als ich auf der Bildfläche erschien und den gemeinen Kerlen eine blutige Nase verpasste.«

    Günther und Egon waren jüdische Jungen, Söhne von Nachbarn. Mit versteinertem Gesicht ließ ihr Beschützer seine Muskeln spielen, als er die Geschichte erzählte. Ich wünschte, ich könnte so mutig sein wie er.

    Als Jude durfte Onkel Walter nicht mehr auf Märkten einkaufen, dem jungen Walter aber war es irgendwie gelungen, sich eine eigene »Legitimationskarte« zu verschaffen, die Lizenz für den Viehhandel. Walter war ein sehr überzeugender Typ.

    »Diese Bestien! Es gibt nichts Schlimmeres, als einem Menschen seinen Lebensunterhalt wegzunehmen«. Großvater ballte seine Fäuste, als sie über Onkel Walters Notlage sprachen. »Wenn ich nur jünger wäre, ich würde es ihnen zeigen.«

    »Das kannst du nicht, Alter, sie würden dich zusammenschlagen.«

    »Ich weiß«, erwiderte Großvater verbittert. »Ich weiß. Es ist nur so dahergeredet«

    Glücklicherweise erlebte er es nicht mehr, dass die »Bestien« zu noch Schlimmerem fähig waren.

    »Aber ich bin stolz auf dich, mein Junge«, sagte Großvater zu Walter. »Mein Enkelsohn ist jetzt ein richtiger Viehhändler.«

    »Und ich bin stolz auf dich«, erwiderte sein Gesprächspartner in dieser gegenseitigen Bewunderungsgesellschaft. »Du hast einen sehr guten Ruf. Auf dem Markt in Aurich kam neulich ein Mann auf mich zu. Rate mal, was er mich fragte?« Großvater war nicht in Ratestimmung.

    Walter fuhr fort: »Er fragte mich, ›bist du zufällig mit Siegfried Silberbach verwandt?‹ ›Ich bin sein Enkelsohn‹, erwiderte ich. ›Ich war mal bei deinem Großvater angestellt‹, erzählte mir der Mann. ›Nie habe ich einen Mann so hart arbeiten sehen. Er hörte überhaupt nicht auf. Manchmal sah er drei oder vier Nächte lang kein Bett. Wenn er spät abends von seinen Einkaufsfahrten nach Hause kam, ging er nicht etwa zu Bett, sondern brach gleich wieder zur nächsten Geschäftsreise auf. Er wollte die Tiere, die er gerade gekauft hatte, so schnell wie möglich wieder verkaufen. Was für ein Mann!‹«

    Großvater strahlte seinen Enkelsohn und Bewunderer an und verkündete seine Philosophie: »Von nichts kommt nichts. Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Natürlich musst du auch deinen Verstand benutzen, aber es bringt nichts, nur auf dem Hintern zu sitzen und nachzudenken. Die gebratenen Tauben fliegen dir nicht ins Maul. Du musst rausgehen und sie fangen. Du machst einen Plan und dann handelst du entsprechend.«

    Walter nickte mit seinem hübschen Kopf. All das über Arbeit und die gebratenen Tauben hatte ich früher schon mal gehört, aber ich wurde munter, als Großvater mit seiner Geschichte fortfuhr:

    »Der Mann hatte Recht. Wenn andere schliefen, war ich wach. Ich gewöhnte mich daran, nachts auf zu sein. Die Viehtransporte kamen gewöhnlich morgens um drei oder vier an. Ich ließ meine Waggons an die Rampen rangieren. Das Vieh war vierundzwanzig Stunden von Friesland aus unterwegs gewesen. Die Kühe waren sehr durstig. Es war schädlich für sie, besonders wenn sie trächtig waren. Je schneller sie entladen wurden, desto besser. Sie brauchten Wasser und Ruhe.«

    Die Tage waren nicht allzu fern, an denen Vater und Onkel Walter erleben sollten, wie es sich anfühlte, durstig in Viehwaggons eingesperrt zu sein. Zu Großvaters Zeit wurden Viehwaggons noch ausschließlich zum Transport von Vieh benutzt.

    »Wenn die Kühe erst einmal alle ausgeladen waren, trieben wir sie durch die Straßen.« Großvater schlug mit seinem Stock in die Luft. Wir saßen nicht mehr am Tisch, sodass das Porzellan der Pension Adler nicht in Gefahr war.

    »Die Tiere hatten die Begastraße oder die Schülerstraße noch nie gesehen. Es war alles fremdes Terrain für sie. Einige rannten hierhin, andere dorthin. Ich rief den Jungen laut zu, ›passt auf, passt auf!‹ Wie ihr wisst, ist meine Stimme zur ihrer besten Zeit nicht sehr leise, und ich war nicht sehr beliebt bei den Nachbarn.«

    Großvater erhob sich auf seinen wackligen Beinen und äffte die wütenden Bürger nach: »Der dicke Siegfried hat vergessen, seine Gebete am Tag zu verrichten«, stöhnte er in ihrem Dialekt, »dafür macht er es nun mitten in der Nacht. Hört nur, wie er sich die Kehle aus dem Hals schreit morgens um halb drei, wenn anständige Leute schlafen.«

    Großvater ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. Ein weiterer, seltener Ausdruck von Zufriedenheit huschte verstohlen über sein rotes Gesicht, als er sich an seine ruhmreichen Tage erinnerte: »Während andere schnarchten, verdiente ich mein Geld.«

    Kapitel 4

    Die Mesalliance

    Lokaler Klatsch besagte, dass Großvater der leibliche Sohn eines Grafen von der Schulenburg war. Seine Mutter, Emilie, die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers, war außergewöhnlich schön.

    »Wenn sie in Schötmar einkaufen ging, blieben die Leute stehen, um sie anzustarren«, erzählte mir Mutter. Ganz plötzlich heiratete dieses reiche, schöne Mädchen einen unscheinbaren, rothaarigen, nicht sehr erfolgreichen Viehhändler. Es ging das Gerücht, dass sie einen Ring brauchte, weil sie mit einem Kind des Grafen schwanger war.

    Großvaters überlebensgroße Persönlichkeit verlieh der Geschichte Glaubwürdigkeit. Er stellte seine eher langweiligen Geschwister in den Schatten, und keiner seiner Nachkommen hatte die roten Haare, die bei den echten Silberbachs immer wieder auftauchten.

    Mutter glaubte fest an diese Geschichte und verbürgte sich dafür, ebenso wie unsere Nachbarin Bertha Wallhausen. Frau Wallhausens Wissen über das Schötmar unserer Tage war so umfassend, dass es unvorstellbar schien, dass sie nicht ebenso gut über Ereignisse informiert sein sollte, die sich dort lange vor ihrer Geburt zugetragen hatten. Mutter war stolz auf ihre adlige Abstammung und schrieb ihr Interesse an königlichen Familien diesem Erbe zu. In späteren Jahren neckte ich sie:

    »Ein uneheliches Kind als Vater zu haben, ist nichts, auf das man stolz sein kann, Mutter.« Es änderte nichts, sie fühlte sich der Elite zugehörig.

    Jung Siegfried war ein zielstrebiger, junger Viehhändler ohne große Ressourcen. Er brauchte Kapital, um zu expandieren und er brauchte auch eine Frau. Großmutter würde beide Ansprüche erfüllen.

    »Im Album von Frau Obermeyer

    Hat er ihr Bild erschaut.«

    So heißt es im Hochzeitsgedicht meiner Großeltern. Es war eine höfliche Fiktion. Großvater Siegfried war kein Tamino, der über dem Portrait von Pamina/Bertha seufzte. Die Wahrheit war eher bodenständig. Er war knapp bei Kasse. Frau Obermeyer, Großmutters Cousine, wusste, dass er Geld brauchte und sie einen Ehemann. Ihre Eltern wollten nicht, dass ihre Tochter sitzen blieb, und verkauften sie an den jungen Rüpel vom Land. Arrangierte Ehen können gut ausgehen. Diese nicht. Mutter fasste es so zusammen: »Wir hatten zu Hause alles, aber glücklich waren wir nicht.«

    Großmutter kam aus einer vergleichsweise kultivierten Familie jüdischer Textilhändler, die von der alten Stadt Hildesheim nach Hehlen an der Weser gezogen waren. Es bestanden entfernte Verbindungen zur Bankiersfamilie Warburg in Hamburg. Meine Urgroßmutter Phillipine erhielt eine jährliche Zuwendung von der Warburg-Stiftung.

    Bertha Bach war eine konventionelle, fromme Frau mit engem Horizont, die allem, was nach Fantasie roch, sofort einen Dämpfer versetzte. Ihr Freier war ein grober, ungestümer und ehrgeiziger junger Mann mit großen Gesten und ohne Interesse an Religion – das Gegenteil von Bertha.

    »Oma hätte jemanden ihrer Herkunft und ihres Alters heiraten sollen«, sagte Mutter. »Sie war sieben Jahre älter als Opa. Heirate niemals eine ältere Frau«, warnte sie. »Es wird nicht gut gehen. Frauen altern schneller als Männer.« Mutter heiratete vorsichtshalber einen älteren Mann. Vater war neun Jahre älter als sie.

    Siegfried und Berta

    »Mein Vater war ein Mann mit Visionen, den seine nörgelnde, engstirnige Frau nie zum Zuge kommen ließ. Ich liebe meine Mutter, aber sie war nicht die richtige Frau für ihn. Das schöne Haus, in dem wir wohnten, wäre nie gebaut worden, wenn sie sich durchgesetzt hätte. ›Wir brauchen kein solches Haus‹, argumentierte Oma. ›Es ist völlig in Ordnung, wo wir jetzt wohnen. So viel Geld auszugeben, ist der reine Wahnsinn.‹ Auf Schritt und Tritt kämpfte sie gegen meinen Vater. Er gewann jene Schlacht, aber verlor viele andere.«

    Sowohl Mutter als auch Onkel Walter erzählten gerne die Geschichte von Gut Ribbentrup. Ihre Versionen unterschieden sich leicht, aber in folgendem waren sie sich einig: Die von Ribbentrups waren hoch verschuldet. Ihr Familiengut in Ehrsen stand zum Verkauf. Großvater machte ein Kaufangebot. Als Großmutter davon hörte, bekam sie einen Wutanfall: »Dein Größenwahn wird uns alle ins Armenhaus oder ins Gefängnis bringen!«, schrie sie. Großvater nahm keine Notiz davon und setzte die Verhandlungen hinter ihrem Rücken fort. Wie es das Unglück wollte, war er unterwegs auf einer seiner Geschäftsreisen, als ein Bote von Herrn von Ribbentrup kam, und Großmutter dessen Nachricht annahm. Diese besagte, dass ein höheres Angebot eingegangen sei, aber Großvater immer noch die erste Wahl habe. Als er nach Hause kam, sagte Großmutter nichts. Großvater verlor das Gut.

    Mutter fuhr fort: »Er war wirklich wütend und schrie sie an, aber es war zu spät. Da von Ribbentrup nichts von meinem Vater gehört hatte, nahm er das andere Angebot an. Wäre es zu jenem Handel gekommen, wäre Vater nach der Inflation noch ein wohlhabender Mann gewesen.«

    In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg war Großvater ein sehr reicher Mann geworden. »Er kam mit Taschen voller Goldmünzen nach Hause«, erzählte mir Mutter, »und seine Hosentaschen waren auch mit Gold vollgestopft.«

    »War das Gesicht des Kaisers auf den Münzen?«, fragte ich.

    »Ich war nicht an dem Gesicht auf den Münzen interessiert, sondern nur daran, was man damit kaufen konnte«, erwiderte Mutter. »Man kann damit Kleider kaufen. Lass dir ein schickes, maßgeschneidertes Kleid in Detmold machen«, sagte Großvater, als ich die Münzen betrachtete. »Ich möchte, dass mein Fräulein Tochter noch schöner aussieht, als sie schon ist.« Sein »Fräulein Tochter« ließ sich das nicht zweimal sagen.

    Zu Großvaters Zeit war der Viehhandel weitgehend in der Hand von Juden, viele von ihnen waren reich – darunter viele Silberbachs wie er selbst. Zu seinen besten Zeiten stellte er sie alle in den Schatten. Rastlose Energie, Zielstrebigkeit, ein gutes Auge und ein kluger Verstand – das waren aus der Sicht von Onkel Walter die Geheimnisse seines Erfolgs. »Mein Vater konnte sehr liebenswürdig sein. Er verstand es den Bauern das Gefühl zu geben, dass er die besten Preise zahlte, und den Bierbrauern⁴, dass er das beste Vieh

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