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Paula und der Westen: Roman/Biografie/Erzählung
Paula und der Westen: Roman/Biografie/Erzählung
Paula und der Westen: Roman/Biografie/Erzählung
eBook431 Seiten5 Stunden

Paula und der Westen: Roman/Biografie/Erzählung

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Über dieses E-Book

Steffen, ein Journalist, bekommt den Auftrag, eine Reportage über das Leben in der DDR zu schreiben. Durch einen Zufall lernt er Paula kennen. Ihre Spur verliert sich aber schnell wieder. Um Material für seine Reportage zu sammeln, begibt er sich auf die Suche nach ihr. Dabei lernt er Menschen kennen, die ihr eine Menge im Leben bedeutet und ihren Lebensweg begleitet haben. Er erfährt von ihrer Mutter, dass sie schon im frühen Kindesalter in Berührung mit dem Westen gekommen ist. Sie erzählt ihm, dass Paula so nach und nach Verwandte und Vertraute verloren hat. Als Kind versteht sie die Zusammenhänge nicht und fühlt sich verraten. Ein halbes Jahr vor dem Mauerbau besuchen sie und ihre Mutter die Großeltern in der Bundesrepublik. Paula lernt den Westen von einer anderen Seite kennen und er gefällt ihr. Von einer Schulfreundin bekommt Steffen Einblicke in das Leben auf dem Gymnasium. Katherina, mit der sich Paula ein Zimmer während der Studienzeit teilt, lernt Steffen im Anschluss kennen. Sie wird Paulas beste Freundin und begleitet sie auf ihrem gesamten weiteren Lebensweg. Noch während ihrer Studienzeit heiratet Paula. Nach dem Studium suchen ihr Mann und sie sich entgegen den Plänen und Vorgaben der Studienvermittlung eine Arbeit in einem volkseigenen Betrieb ihrer Wahl. 1986 und in den Folgejahren bekommt sie die Genehmigung und darf ihren Großvater zum Geburtstag in der Bundesrepublik besuchen. Als sie im Sommer 1989, von der Geburtstagsfeier zurückkehrt, sind die wirtschaftliche und die politische Situation in ihrem Heimatland besorgniserregend. Paula hat die Befürchtung und Sorge für immer dem System ausgeliefert zu sein. Ihr ist bewusst, dass die Gesellschaft in der Form, so wie sie gelebt wird, keine Perspektive hat. Auch aus diesem Grund nimmt sie an der friedlichen Revolution 1989 aktiv teil. Seit März 1990 lebt und arbeitet sie im Westen.
Und wie geht die Geschichte mit Paula und Steffen weiter? Das Ende wird den Leser überraschen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juli 2021
ISBN9783347318960
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    Buchvorschau

    Paula und der Westen - Uta Tetzlaff

    Die Entscheidung gegen Thüringen

    Paula arbeitete in Erfurt im Kombinat Mikroelektronik in der Forschungs- und Entwicklungsstelle. Nur wenige der Produkte von dort waren vollständige Eigenentwicklungen. Auf dem Weltmarkt gab es bereits ein breites Angebot an mikroelektronischen Bauelementen. Das nutzte man in Erfurt und baute die Produkte nach. Dazu war technisches Wissen erforderlich, denn die Hersteller schützten ihre Entwicklungen mit viel technischem Aufwand und waren dabei sehr geschickt. Bereits kurz nach der Grenzöffnung, also schon im November 1989, kam der amerikanische Konzern IBM auf die Firma zu und wollte für die nachgebauten mikroelektronischen Bauelemente horrende Summen an Lizenzgebühren. Das konnte der Betrieb nicht leisten und somit war die Schließung der Firma absehbar. Paulas Mann wollte immer selbstständig sein und kündigte schon im November seine Arbeitsstelle. Er wollte ein Datenverarbeitungsbüro für Lohnabrechnungen, ähnlich der DATEV in Nürnberg aufbauen. Da Erfurt seit 1988 die Partnerstadt von Mainz ist, wandte er sich dazu an den Bürgermeister der Stadt:

    „Wir würden gern ein Joint Venture Unternehmen mit einer Firma aus Mainz gründen."

    Ein Angestellter der Stadt vermittelte ihm daraufhin den Kontakt zu einer Mainzer Firma. Einen Vorvertrag mit dem Eigentümer eines wunderschönen, neu restaurierten Hauses am Domplatz, direkt in der Altstadt von Erfurt, hatte Ulf schnell organisiert. Der Besitzer wollte 100.000,00 DMark und die Option darauf lief Ende Dezember 1989 aus. Als sich die Mainzer Firma Anfang Januar endlich dazu entschloss, ihm den Betrag zur Verfügung zu stellen, war das Objekt nicht mehr zu haben. Und heute würde man das Gebäude, wenn überhaupt, unter zwei Millionen Euro sicher nicht mehr bekommen.

    „Und was machen wir jetzt? Du hast deine Arbeit gekündigt, um ausreichend Zeit für die Gründung eines Joint Venture Unternehmens zu haben. Das hat nicht geklappt und meine Arbeit fällt demnächst weg", bemerkte Paula besorgt um ihre Zukunft und hatte das erste Mal in ihrem Leben Existenzangst.

    „Notfalls, wenn nichts mehr geht, dann ziehen wir zu deinen Eltern und bauen auf den Feldern deiner Großeltern Kartoffeln an", versuchte Ulf sie zu trösten.

    Paula fühlte sich verspottet und fand das überhaupt nicht lustig. Dann begaben sie sich auf die Suche nach neuen Arbeitsstellen.

    In der DDR war plötzlich alles problematisch und ungewiss. Ostdeutsche Arbeitskräfte wurden nicht mehr gesucht. Es waren ausschließlich die Wessis gefragt. Für Paula und Ulf blieb nur die Bundesrepublik. Ab Mitte Januar 1990 fuhren sie jeden Samstag kurz über die innerdeutsche Grenze in den nächstgelegenen Grenzort im Westen, kauften die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche Zeitung und eilten anschließend auf dem schnellsten Weg wieder zurück. Zu Hause angekommen studierten sie die Stellenanzeigen und schrieben Bewerbungen. Sie bewarben sich auf Arbeitsstellen in Hamburg, Westberlin, Frankfurt am Main, Fürth und München. Sie versuchten es auch in Österreich und in der Schweiz. Kurz gesagt, sie bewarben sich auf alle Stellen, die ihnen interessant erschienen. Das war eine Sisyphusarbeit. Pro Tag am Wochenende schafften sie zwei vollständige Bewerbungsunterlagen und in der Woche, wenn sie Glück hatten, eine weitere.

    Privatleute besaßen in der DDR keine Druck- und Kopiergeräte.. In den Firmen hatte auch nur ein kleiner Kreis von Mitarbeitern Zugang zum Kopierraum. Paula gehörte nicht dazu. Den Schlüssel für den Raum erhielt Paula von einem befreundeten Kollegen stillschweigend.

    „Lasst euch bloß nicht erwischen und wenn, dann sagt auf keinen Fall, dass ihr den Schlüssel von mir habt", mit den Worten übergab er ihr seinen Schlüssel.

    Er vertraute Paula. Druckerpatronen und Druckerpapier kauften Paula und Ulf in Bürowarenläden bei ihren Besuchen im Westen ein. Der Kopierer, der in der Firma in der Paula arbeitete, stand, war aus dem nicht sozialistischen Ausland importiert. Die Beschaffung der Verbrauchsartikel in der Bundesrepublik stellte somit keine Hürde dar. Wie Einbrecher schlichen sich Ulf und Paula, wenn alle Lichter in dem Firmengebäude ausgeschaltet waren, in Paulas noch existierende Firma und kopierten ihre Zeugnisse und Beurteilungen heimlich.

    „Meinst du, wir können es wagen?", fragte Paul leise mit unsicherer Stimme.

    „Du hast viel zu viel Angst. Wenn jemand kommt, dann sagst du einfach, dass du deinen Schlüssel suchst", antwortete Ulf in einem überzeugenden Tonfall.

    Aber so richtig wohl war ihm dabei auch nicht. Oft warteten sie bis in die späten Abend- und Nachtstunden, bis sie sich in das Firmengebäude hineintrauten. Es war kalt im Januar und Februar 1989. Mit Taschenlampen betraten sie den Kopierraum und tauschten zunächst an dem Gerät die Tintenpatronen und legten ihr eigenes Papier in die dafür vorgesehenen Fächer ein. Wenn sie fertig waren und alles Notwendige kopiert hatten, wechselten sie die Druckerpatronen und das Druckerpapier wieder aus. Alles ging gut. So kopierten sie ihre Zeugnisse und Beurteilungen. Die Anschreiben und Lebensläufe für die Bewerbungsunterlagen wurden handschriftlich erstellt. Das nahm viel Zeit in Anspruch. Aber die Mühe lohnte sich. Sie beide bekamen Arbeitsstellenangebote und nahmen die aus München und Umgebung an.

    Die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 ließen Paula und ihr Mann sich nicht entgehen. Sie gingen wählen und am frühen Morgen des nächsten Tages fuhren sie nach Haar in die Nähe von München. Wohl war Paula dabei nicht, ließ sie doch ihre Eltern und Freunde in der DDR zurück. Sie hatte ein mulmiges Gefühl:

    „Was ist, wenn sich das Blatt wieder wendet? Kann ich dann meine Eltern, alle meine Verwandten und Freunde überhaupt noch einmal wieder sehen? Wie wird die Arbeit im Westen sein? Kann ich das?"

    Sie war aber überzeugt davon, dass sie das schafft:

    „Die kochen auch nur mit Wasser!"

    In Haar stellte Paulas neue Firma ihr ein Apartment zur Verfügung und sie begann am nächsten Tag zu arbeiten.

    ***

    Da Steffen und Paula ins Gespräch vertieft waren, bemerkten sie nicht, dass ein Gewitter aufzog. Als Paula die ersten Regentropfen abbekam, sprang sie auf, schnappte ihre Tasche, rannte los und rief ihm nach:

    „Das Dach von meinem Cabrio ist auf."

    Der Regen wurde stärker und als sie am Parkplatz am Auto ankam, war sie völlig durchnässt. Aus ihren Haaren fielen dicke Regentropfen, ihr Kleid war durchweicht, klebte an der Haut und sie hatte eine Weile zu tun, um die Sitze im Wagen, nachdem sie das Verdeck geschlossen hatte, wieder einigermaßen trocken zu bekommen. Und dann auch das noch! Direkt hinter ihrem parkenden Auto passierte ein Unfall mit zum Glück nur Blechschaden. Da der aber erheblich war, bat man Paula, als Zeugin zu bleiben. Es verging einige Zeit, bis die Polizei kam. Paula war nervös und alles dauerte ihr zu lang. Sie hatte ihre Rechnung nicht bezahlt und von Steffen hatte sie sich auch nicht verabschiedet. Das war nicht ihre Art. Nachdem sie ihre Aussage gegenüber der Polizei getätigt hatte, eilte sie zurück zur Gaststätte und suchte die Kellnerin. Diese teilte ihr dann mit:

    „Die Rechnung hat der Mo scho for ihne gzahlt. Er hat lange uf ihne gewart. I soll ihne den Zettel mit sainer Telefonnummer gem. Sie solln ehn anrufn."

    Paula dachte:

    „Er hätte mir wenigstens seine Visitenkarte geben können", und nahm das Papier und steckte es, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, in die linke Hosentasche.

    Zu Hause angekommen ging sie schnurstracks ins Badezimmer. Dort zog sie sich schnell aus, legte die völlig durchnässten Sachen gleich in die Waschmaschine. Ihr nächster Weg führte sie unter die Dusche. Nach ein paar Minuten unter dem heißen Wasserstrahl erschrak sie. Sie erinnerte sich an den Zettel von Steffen, den ihr die Kellnerin gegeben hatte. Sie sprang aus der Dusche hervor und ohne sich vorher abzutrocknen, versuchte sie die Maschine zu öffnen. Es war zu spät. Das Waschprogramm ließ sich nicht stoppen. Ihre Befürchtung, dass nach der Wäsche nichts mehr auf dem Papier zu lesen sei, trat ein.

    „Schade. Es war so ein schöner Nachmittag", stellte sie betrübt fest, denn sie hätte Steffen gern wieder gesehen. Und bedankt für die Zahlung ihrer Rechnung hatte sie sich bei ihm auch nicht. Aber außer seinem Vornamen und seiner Tätigkeit als Journalist gab es keinen Anhaltspunkt, der zur Suche nach ihm hätte beitragen können. Paula wusste nicht einmal, ob er direkt in München wohnt. Ein paar Tage später dachte sie nur noch selten an das Treffen im Kloster Andechs.

    Paula telefoniert regelmäßig mit ihrer Mutter in Bad Tabarz. Als sie 14 Tage nach dem Treffen mit Steffen wieder anrief, sagte diese plötzlich zu ihr:

    „Weißt du, mit wem ich gerade hier im Garten sitze und Kaffee trinke?", und stellte den Lautsprecher vom Telefon an.

    Paula zählte ein paar Namen auf. Sie dachte zunächst an Schulfreundinnen aus ihrer Jugend.

    Ihre Mutter schüttelte den Kopf und es dauerte eine ganze Weile, bis sie schmunzelnd sagte:

    „Nein, neben mir sitzt Herr Schwarz."

    „Ich kenne keinen Herrn Schwarz."

    Paulas Mutter zuckte mit den Schultern zusammen und nachdem sie sich von dem kurzen Schreck erholt hatte, sagte sie:

    „Ich denke schon. Warte es einmal ab."

    Steffen winkte ihrer Mutter und sie übergab ihm das Telefon.

    „Ich bin es, Steffen. Erinnerst du dich an unser Gespräch im Biergarten im Kloster Andechs."

    Paula war sprachlos.

    „Wie kommst du denn nach Bad Tabarz?"

    „Ich wollte deine Geschichte schreiben. Das Einzige, was ich von dir wusste, war das du in Tabarz gelebt hast. Da der Ort nicht so groß ist und ich mehr über dich wissen wollte, bin ich hierhergefahren. Ich habe ein paar Leute auf der Straße gefragt, wer eine Tochter hat, die hier aufgewachsen ist und seit der Wende in Bayern lebt. Bei den jüngeren Leuten hatte ich kein Glück. In der Kaufhalle am Bäckerstand habe ich mir dann erst einmal einen Kaffee geholt und mit der hübschen Verkäuferin geplaudert. Ich habe ihr dann erzählt, dass ich auf der Suche nach dir bin. Die Frau kannte dich und hat mir geraten, es bei Frau Berger zu probieren. So bin ich zu deiner Mutter gekommen. Aber warum hast du mich nicht angerufen? Ich habe sehnsüchtig auf deinen Anruf gewartet."

    „Das tut mir leid", flüsterte sie leise.

    Sie konnte gar nicht fassen, dass Steffen sich so viel Mühe gab, um sie wieder zu sehen. Sie war verwundert und ein Lächeln zog durch ihr Gesicht. Dann berichtete sie ihm die Geschichte vom verwaschenen Papier, bedankte sich für die Zahlung der Rechnung in der Gaststätte und fragte neugierig:

    „Und was hat dir meine Mutter über mich so alles erzählt?"

    „Ganz viel! Sie ist ganz stolz auf dich. Ich sitze schon den ganzen Tag mit ihr zusammen und habe alles aufgeschrieben. Heute am späten Nachmittag schreibe ich das alles in Reinform. Wir haben uns auch schon wieder für morgen verabredet."

    „So also. Na, dann schick mir mal die Geschichten, wenn du mit deinen Aufzeichnungen fertig bist, wie sie meine Mutter dir geschildert hat. Da habe ich bestimmt auch noch einiges klarzustellen. Meine Mutter hat alle Daten wie Telefonnummer, E-Mail usw. von mir. Lass dir das von ihr geben."

    Steffen schickte Paula seinen Bericht über ihre Kindheit aus der Sicht von ihrer Mutter, so wie er es sich notiert hatte per E-Mail. Paula rief ihn am Abend, als er wieder im Hotel war an und dann fragte sie ihn spöttelnd:

    „Was möchtest du schreiben? Meine Sicht vom Leben in der DDR oder die meiner Mutter?"

    „Schon deine. Aber deine Mutter hat mir so viele schöne Episoden aus deinem Leben erzählt, die möchte ich alle für meine Reportage mit verwenden."

    Dann sprach Paula über ihre Großeltern von der Schule und ihrer sorgenfreien Kindheit. Im Anschluss diskutierten beide bis in die späten Abendstunden am Telefon über das von Steffen Geschriebene. Einerseits reizte es Paula, dass über sie eine Geschichte verfasst wird, andererseits hatte sie auch ein seltsames Gefühl dabei. Als sich beide über die Texte geeinigt hatten, vollendete Steffen das Kapitel über Paulas frühe Kindheit.

    Der Westen ist schuld

    Den ersten warmen Frühlingstag 1954 wählte Paula für ihren Start ins Abenteuer Leben. Nachdem sie ihre Eltern begutachtet und für akzeptabel befunden hatte, schlief sie beruhigt und zufrieden ein. Ihr Vater, ein junger, adretter Mann, war vom ersten Augenblick an sehr besorgt um sie. Mit seinen beunruhigenden Äußerungen und seiner Angst um das kleine Wesen wirkte er nervös. Ihre Mutter war viel gelassener und unmissverständlich gab sie ihn zu verstehen:

    „Jetzt beruhig dich erst mal. Warum soll es unserem Baby nicht gut gehen?"

    „Unser Kind schreit nicht", flüsterte er leise.

    „Wenn es einem Baby gut geht, dann weint es nicht. Wenn unsere Paula schreien würde, dann solltest du dir mehr Sorgen machen."

    Paula ging es gut. Schreien, das war nicht ihre Art, sich bemerkbar zu machen. Im Gegenteil, sie erkannte schnell, dass sie mehr Erfolg hat, wenn sie sich ruhig verhält. So war sie und das sollte sich auch in ihrem späteren Leben nicht ändern. Sie war ein aufgewecktes, ansonsten friedliches, stilles Wesen. Besonders die Aufmerksamkeit ihres Vaters konnte sie in ihrer ruhigen Art effektiv erreichen. Spektakel hob sie sich für in ihren Augen wichtige, durchzusetzende Entscheidungen auf. Ihre Mutter war so weniger zu beeindrucken. Sie kannte Paula auch viel besser. Sie gab nach Paulas Geburt ihre Arbeit als Maßschneiderin und Designerin in einem Modehaus auf und kümmerte sich um den Haushalt und um ihren Liebling. In erster Linie umsorgte sie Paula. Sie war ab dem Zeitpunkt das Wichtigste, der Mittelpunkt in ihrem Leben. Von ihrer Mutter wurde sie liebevoll behütet, verwöhnt und bestrickt. Sie konnte auch streng sein. Während Paulas Vater seinem kleinen Mädchen alles verzieh und durchgehen ließ, übernahm sie die Erziehung der Tochter.

    Die kleine Familie wohnte in einer herrschaftlichen Stadtvilla im zweiten Stock in Waltershausen, einer Kleinstadt in Thüringen, ohne nennenswerte Sehenswürdigkeiten, ohne bemerkenswerte Atmosphäre und Besonderheiten. Ihr Vater war dort als Lehrer tätig. Die Schüler gaben ihm den Spitznamen „Exakt", da er korrekt und fair allen gegenüber war. Die Wohnung der jungen Familie bestand aus einer geräumigen Küche, einem Schlaf- und einem Wohnzimmer. Wie an einer Perlenkette waren die Zimmer hintereinander aufgereiht. Von der Küche aus ging es ins Schlafzimmer und von dort aus ins Wohnzimmer. Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Die Räume waren groß, die Zimmer sehr hoch und die paar Möbel, die sich die Eltern in der Zeit leisten konnten und angeschafft hatten, sahen darin verloren aus. Paulas Mutter gab sich viel Mühe, die Wohnung gemütlich zu gestalten. Bei den hohen, großen Räumen war das gar nicht so einfach. Brennmaterial war knapp, wurde zugeteilt und reichte nicht aus, um in Küche und Wohnzimmer eine mollige Wärme zu erzeugen. Die kleine Familie bekam Holz und Kohle von Paulas Großeltern geschenkt und das sowohl mütterlicher wie väterlicherseits. Sie wohnten nur wenige Kilometer entfernt von der Stadt Waltershausen. Der Transport der Brennmaterialien stellte ein Problem dar. Da in den Familien niemand ein Auto besaß und mit dem Handwagen in der Bahn oder im Bus nur kleinere Mengen transportiert werden konnten. Oft wurde einzig und allein die Küche geheizt. Das Treppenhaus in der Villa war großzügig angelegt und es wirkte nicht nur kalt, das war es auch.

    Die jungfräuliche Vermieterin, eine alte, eingebildete Schrulle, war nicht kinderfreundlich:

    „Der Kinderwagen kann hier nicht stehen bleiben.", raunzte sie Paulas Mutter an.

    In dem riesigen, mehr als 40 Quadratmeter großen Flur im Hauseingang, in dem er niemanden gestört hätte, durfte der Wagen nicht geparkt werden. Den musste Paulas Mutter jedes Mal in den zweiten Stock schleppen. Im Treppenhaus durfte nur leise geflüstert werden und im Mietvertrag war das Bohnern der Treppen mit Bohnerwachs im Hausflur schriftlich verankert. Paulas Mutter hatte jede zweite Woche stundenlang damit zu tun.

    Paula liebte es, draußen an der frischen Luft zu sein. Neugierig sah sie aus ihrem Kinderwagen in die Umgebung und da gab es allerhand zu entdecken. Zum Glück lernte Paula schnell laufen und so wurde der Wagen nur noch selten benötigt und der aufwendige Transport durch das Treppenhaus konnte vermieden werden. Begeistert hüpfte die Kleine an der Hand ihrer Mutter die Straße entlang. Gern ging sie mit zum Einkaufen. Die Waren in den Läden interessierten sie weniger, aber der Weg zu den Geschäften führte an einem magischen Ort vorbei, an einer Eisdiele. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeikamen, erhielt Paula ein Eis. Da ihre Mutter vorsichtig war und auf keinen Fall wollte, dass ihre Kleine zu Schaden kam, bekam sie keine gefrorene Eiscreme, sondern eine Kugel leckere, süße Schlagsahne auf eine Eiswaffel. Paula liebte ihr „Eis". In Erwartung auf den sahnigen Geschmack leckte sie sich schon im Voraus die Lippen, wenn es hieß, wir gehen einkaufen. Sie war gerade zwei Jahre alt.

    Eines warmen Tages, als sie sich auf den Weg in die Stadt begaben und Paula sich auf ihr leckeres Eis freute, war die Eisdiele verschlossen.

    „Die sind vorletzte Nacht in den Westen abgehauen! Die haben hier alles stehen und liegen gelassen. Angeblich haben sie das Haus dem Juwelier vermacht", behauptete eine geschwätzige Nachbarin, die wieder einmal alles ganz genau wusste und gerade vor der Eisdiele stand, ihrer Mutter gegenüber.

    Paula war klar, dass sie jetzt kein Eis mehr bekommen würde, fing leise an zu weinen und wurde richtig wütend. „Warum sind die weg? Denken die nicht an die Kinder, die das Eis so lieben?", haderte sie.

    Sie wusste zwar nicht, was Westen bedeutete, aber etwas Gutes konnte es keinesfalls sein.

    „Blöder Westen, urteilte Paula verzweifelt, „der ist schuld, wenn ich jetzt kein Eis mehr bekomme.

    Eine weitere Eisdiele gab es in der Kleinstadt Waltershausen nicht. Paula hätte sich auf den Boden werfen können und schreien, so elend war ihr zumute. Das tat sie nicht, denn ohne Eisdiele konnte ihre Mutter ihr kein Eis kaufen. Sie war unendlich traurig und Tränen standen in ihren Augen. Paulas Mutter tat das furchtbar leid. Um sie zu trösten, versprach sie:

    „Ich kaufe dir Erdnüsse."

    Da diese teuer waren, bekam Paula sie nur zu besonderen Anlässen. Sie liebte sie. Vielleicht hätte sie sich, wenn ihre Mutter sie vor die Wahl gestellt hätte, Eis oder Erdnüsse für die leckeren Nüsse entschieden. Das Knacken der Schale und das Abreiben der braunen Haut an den Nusskernen konnte sie schon gut. Aber allein die Tatsache, nie wieder so ein köstliches Eis zu bekommen, trübte ihre Laune gewaltig. Paula war zufrieden, aber glücklich war sie nicht. Ihr Eis gab es nie mehr.

    Paula war zwar ein ruhiges Wesen, aber allein das Herumlaufen und gelegentliche Hüpfen in der Wohnung, wie es kleine Kinder tun, führte zu Konflikten mit der Vermieterin. Unglücklicherweise wohnte sie direkt unter Paulas Familie. Der große, parkähnliche Garten, der zum Haus gehörte und in dem Paula so gern gespielt hätte, durfte von ihr und den anderen Mietern nicht betreten werden. Sehnsüchtig sah die Kleine oft aus dem Fenster in die Parkanlage.

    „Da will ich spielen", rief sie begeistert.

    „Das geht nicht, der Park gehört uns nicht", erklärte ihr ihre Mutter und war traurig, ihrer kleinen Tochter diesen sehnsüchtig geäußerten Wunsch nicht erfüllen zu können.

    „Kaufst du mir einen Park?", bohrte Paula weiter.

    „Einen Park kann ich dir nicht kaufen, aber einen schönen Spielplatz für dich werden wir finden", versuchte ihre Mutter sie zu trösten.

    Irgendwann wollten sich Paulas Eltern nicht länger den Marotten der „alten Schreckschraube", wie ihre Mutter sie heimlich nannte, beugen. Sie bauten am Ortsrand von Tabarz, direkt im Thüringer Wald gelegen, sechs Kilometer von Waltershausen entfernt, ein Einfamilienhaus. Die Gemeinde zählte zu den bekanntesten Urlaubsorten in der DDR. Durch den Anschluss an die Thüringer Waldbahn war der Ort gut zu erreichen. 1929 wurde die 22 Kilometer lange Bahnstrecke in Betrieb genommen. Sie diente vor allem dem Transport der Feriengäste vom Hauptbahnhof der Deutschen Reichsbahn in Gotha bis in die Ferienorte Friedrichroda und Tabarz. Jeder DDR-Bürger, der die Möglichkeit hatte, seinen Urlaub in einem der zahlreichen Ferienheime und Unterkünfte des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) zu verbringen, nahm das gern an. Es gab damals kaum Werktätige, die nicht Mitglied in der Gewerkschaft waren, denn der FDGB-Feriendienst vermittelte den Werktätigen des Landes subventionierte Urlaubsreisen im Inland. Dafür ließ der Staat Ferienheime in den schönsten Regionen der DDR errichten In Tabarz im Thüringer Wald wurde ein großes, modernes Ferienheim mit mehr als 100 Zimmern gebaut. Es gab in dem Ort viele weitere Unterkünfte in alten Villen. Privatleute vermieteten ihre freien Räumlichkeiten dem FDGB. Das war für sie ein lukratives Geschäft.

    Von den Umzugsvorbereitungen ins neue Heim bekam Paula wenig mit. Die Umzugsfirma hatte bereits Möbel ins neue Haus geschafft und kam, um die restlichen Sachen abzuholen. Erst als der größte Teil im Umzugswagen verstaut war, wurde Paula geweckt. Dann transportierten die Arbeiter ihr Bettchen in den Wagen. In der Küche gab es, nachdem alles ordnungsgemäß verstaut worden war, Getränke und belegte Brötchen für alle. Voller Vorfreude saß Paula mit den Arbeitern der Umzugsfirma am Küchentisch und frühstückte. Anschließend durfte sie das erste Mal in einem Auto mitfahren. In dem großen Lkw auf den Schoß ihrer Mutter, von dem aus sie alles gut sehen konnte, fuhr sie aufgeregt und voller Vorfreude in das neu gebaute Haus.

    Das war ab jetzt ihr Zuhause. Paula war begeistert, dabei waren das Haus und der eigene Garten für sie weniger von Interesse. Die Umgebung war viel interessanter und wie für sie geschaffen.

    „Darf ich auf der Wiese Blumen pflücken?", drängelte sie Vater und Mutter.

    „Ja, aber nur bis zu dem kleinen Busch hinter unserem Gartenzaun", legten die Eltern fest.

    Unmittelbar hinter dem Gartenzaun des Hauses lag eine große Wiese mit ein paar kleinen Sträuchern, die als Kuhweide genutzt wurde. Direkt dahinter schloss sich ein großflächiges Waldstück an, das sich bis zum nächsten Ort hinzog. Jeden Tag weidete Paula den Radius, in den sie spielen durfte, aus. Sie fragte immer wieder nach:

    „Darf ich bis zu dem Baum gehen?"

    „Ja, da sehen wir dich", erlaubten ihr ihre Eltern.

    Und was einmal freigegeben wurde, war für Paula für immer genehmigt. Die nahe gelegenen Waldbahnschienen im Osten, eine alte Eiche im Westen, der Wald und die große Wiese hinter dem Haus im Süden sowie ein kleiner Hügel im Norden begrenzten nach ein paar Monaten Paulas Revier. Dort durfte sie sich frei bewegen. Vom Balkon aus im ersten Stock konnten ihre Eltern sie sehen. Das gesamte Gelände wurde Paulas Spielplatz.

    In Tabarz wohnten auch ihre lieben Großeltern und ihre Tante Elli, die Schwester ihrer Mutter. Alle sorgten sich um Paula, bemutterten und verwöhnten sie. Wenn Paulas Mutter zum Zahnarzt musste oder anderweitig verhindert war, übernahm ihre Schwester die Betreuung ihrer Nichte und kümmerte sich rührend um das kleine Wesen. Die Tante hatte lange dicke, naturblonde, wellige Haare, war attraktiv und noch auf der Suche nach dem richtigen Lebensgefährten. Über Mangel an Bewerbern konnte sie sich nicht beklagen. Ihre kleine Nichte nahm sie mit zu ihren Verabredungen. In Paulas Begleitung testete sie die Kinderliebe und Toleranz der Bewerber. Bei einem solchen Treffen bettelte Paula:

    „Pati, so nannte sie ihre Patentante Elli, „ich habe Durst, kaufst du mir rote Brause?

    Der junge Mann dachte, er hätte sich verhört und fragte verwundert:

    „Wie nennt dich deine Tochter."

    „Das ist nicht meine Tochter, das ist Paula, das Kind meiner älteren Schwester."

    Über die Antwort war ihr Verehrer sehr erfreut. Kurz darauf heirateten die beiden. Paula konnte den neuen Onkel Kurt von Anfang an gut leiden und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er machte Scherze, alberte mit ihr herum und zog sie gern auf. Das liebte sie.

    Paula war ein zufriedenes Kind, das geborgen in einer liebevollen Familie aufwuchs. Oma Gertrud, die Mutter ihrer Mutter und Oma Clementine, die Mutter ihres Vaters verwöhnten sie. Unterschiedlicher hätten die Großmütter nicht sein können. Oma Gertrud kleidete sich mondän. Weiße Handschuhe und Absatzschuhe gehörten zu ihrer Grundausstattung und der Friseurtermin alle 14 Tage war ein fester Bestandteil in ihrem Terminkalender. Da durfte nichts dazwischen kommen und das tat es auch nicht. Oma Clementine hingegen war kleidungstechnisch minimalistisch ausgestattet. Ihren Wintermantel trug sie geschätzte 30 Jahre. Mit Hausschuhen und Kittelschürze ging sie einkaufen und ihre Frisur brachte sie selbst mit einem Brenneisen in Form. Manchmal gelang ihr das nicht so, wie von ihr gedacht und die Haare wurden dabei mit dem heißen Eisen angesengt. Da der Geruch sehr intensiv war, roch das ganze Haus dann dementsprechend. Wenn die Familie zu den Großeltern zu Besuch kam, flog ihnen schon an der Eingangstür der stechende Duft in die Nase.

    „Oma hat mal wieder ihre Haare angesengt", bemerkten ihre Eltern dann gleichzeitig.

    Paula störte das nicht, sie liebte ihre beiden Großmütter. In dem Punkt, was sie an betraf, waren die beiden gleich. Sie verwöhnten und verhätschelten ihr Enkelkind. Mit Wasser panschen durfte sie bei ihnen nach Herzenslust und es war kein Problem, wenn sie dabei nass oder dreckig wurde. Sogar beim Feuer anzünden und beim Backen durfte Paula mithelfen. Dass sie ihre kleinen Hände vor der Zubereitung nur oberflächlich wusch und die dadurch nicht immer vollständig sauber waren, störte die beiden Omas nicht. Ihre Mutter war da viel strenger. Ganz lieb hatte Paula, wie viele kleine Mädchen ihre beiden Großväter. Opa Wilhelm, der von allen nur Helbele genannt wurde, und Opa Willy. Im Garten von Opa Willy, dem Vater ihres Vaters, lernte sie alles über Pflanzen und Obstbäume. Mit ihm beobachtete sie Tiere, fütterte Ziegen und durfte länger als bei ihren Eltern aufbleiben.

    „Heute Abend suchen wir Glühwürmchen", versprach er ihr und Paula freute sich.

    Um Glühwürmchen zu finden, muss es erst dunkel sein und im Sommer ist es dann spät am Abend. Das freute sie besonders. Da musste sie nicht schon um 19.00 Uhr ins Bett gehen. Opa Willy war sehr liebevoll, aber auch korrekt und streng. Herumalbern und Schabernack treiben, das konnte sie mit ihm nicht. Fehler wurden von ihm sofort korrigiert.

    Er war Prokurist, Buchhalter und Controller zugleich in einer Firma mit mehr als 300 Mitarbeitern. Ihm fiel jedes Fehlverhalten sofort auf. Opa Helbele, der Vater ihrer Mutter, war das ganze Gegenteil. Korrekt war er auch, aber er nahm alles mit einem gewissen Humor und interpretierte die Vorschriften auf seine eigene Art und Weise. Streng war er und Fehler ließ er bei seinen Mitarbeitern nicht durchgehen, aber bei Paula war das anders. Zu ihr war er immer sehr lieb, tolerant und zeigte ihr auch das, was ein Kind nicht tun sollte.

    Paulas Opa Helbele kam ursprünglich aus Bayern, aus Fürth. Die Liebe hatte ihn nach Thüringen verschlagen. Oma Gertrud hatte viel Verwandtschaft in Bayern und dort hatten sich beide kennen und lieben gelernt. Da die Großmutter ein bildhübsches, immer adrett gekleidetes, liebenswürdiges Wesen war, um die den Großvater viele beneideten, zog er zu ihr nach Thüringen, nach Tabarz. Anders hätte er sie nicht bekommen. In die Stadt nach Fürth wollte sie nicht. In Tabarz lebte er mit seiner Frau und seinen drei Kindern in einer Mietwohnung. Sein heimlicher Wunsch war es, in seine alte Heimat nach Bayern zurückzukehren. Unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg kaufte er mit einem Bekannten eine Knopffabrik in München. Kurz vor dem Umzug der Familie änderte er seine Pläne. Der Zweite Weltkrieg brach aus.

    „Wir ziehen nicht nach München. Dort ist es zu gefährlich", entschied er und Oma Gertrud packte die schon in Kisten verstauten Gegenstände wieder aus und stellte sie an ihren gewohnten Platz.

    Mit Ausnahme von Oma Gertrud waren alle sehr traurig, denn sie hatten sich schon sehr auf die Großstadt gefreut. Der Großvater wollte seine Familie nicht in Gefahr bringen und mit ihnen im Krieg in einer Großstadt leben. In München war es ihm zu unsicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Bombenangriffen kommen würde, war in dem kleinen Thüringer Ort viel geringer. Dort gab es wenig Industrie und keine strategischen Ziele, für die sich ein militärischer Angriff gelohnt hätte. Opa Helbele verkaufte seinen Anteil an der Knopffabrik und von dem Geld erwarb er ein für die damalige Zeit komfortables Wochenendhaus. Dorthin zog er mit seiner Familie. Er sollte Recht behalten. Die Knopffabrik in München und die neue private Wohnung hatten den Krieg nicht heil überstanden und waren nach Kriegsende völlig zerstört. An der Stelle, wo das Wohnhaus und die Fabrik standen, war nur noch ein Trümmerhaufen. Opa Helbele hatte die richtige Entscheidung getroffen. Der kleine Ort Tabarz blieb vom Krieg weitestgehend verschont. Unmittelbar nach Kriegsende übernahm Paulas Großvater in der Gemeinde die Leitung vom Sägewerk. Er liebte den Wald, kannte sich mit Holz gut aus, ließ viel aufforsten und freute sich, wie sich der Baumbestand von den Folgen des Raubbaus im Krieg erholte.

    Mit ihrem Opa Helbele hatte Paula viel Spaß. In seiner ironischen Art zog er sie oft und gern auf. Nicht nur einmal sah er sie entsetzt an und mit ernster, erschrockener Miene behauptete er:

    „Du bist ganz schwarz im Gesicht", und Paula rannte zum Spiegel.

    „Wo denn?", fragte sie ihn verwundert.

    Er antwortete mit einem Grinsen auf seinen Lippen:

    „Na da die kleinen schwarzen Punkte in deinem Gesicht", und zeigte auf Paulas Sommersprossen.

    Ein anderes Mal erklärte er ihr:

    „Im Garten habe ich ein seltsames Tier gesehen. Es hat zwei kleine Hörner."

    Paula suchte den ganzen Tag nach dem Wundertier.

    Ihr Großvater erklärte ihr auch, wie sie sich Ausreden zu Nutzen machen kann, ohne dabei zu lügen. Als Paula wieder einmal in die Milchhandlung geschickt wurde und Milch holen sollte, war die Kanne nur noch halb gefüllt, als sie zu Hause ankam. Ihre Mutter fing gleich an zu schimpfen:

    „Du hast die Kanne wieder herumgeschleudert. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das nicht sollst. Jetzt gibt es keinen Pudding zum Nachtisch."

    Dass es keinen Pudding gab, störte Paula nicht. Aber dass die Mutter so zornig war und mit ihr schimpfte, das mochte sie ganz und gar nicht. Ihr Großvater hörte die Worte seiner Tochter und nahm Paula zur Seite:

    „Das musst du anders machen. Wenn du die Milch verschüttet hast, dann nimmst du einen kleinen Schluck aus der Kanne und erzählst deiner Mutter, dass du von der Milch getrunken hast. Dann schimpft sie nicht mit dir. Und wenn du noch erwähnst, dass die Milch lecker geschmeckt hat, dann ist alles gut."

    Er war ein richtiges Schlitzohr und hatte Freude daran, dem kleinen Enkelkind allerlei Schabernack beizubringen. Er zeigte ihr, wie man Faxen macht und wie man Grimassen schneidet:

    „Stell dich in die Ecke, schlag die Beine übereinander und mach ein lustiges Gesicht", und dann verzog er sein Gesicht und grinste dabei.

    Das sah so lustig aus, dass Paula jede Fratze gleich versuchte nachzumachen

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