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Khalida: Das Schicksal der Narbentochter
Khalida: Das Schicksal der Narbentochter
Khalida: Das Schicksal der Narbentochter
eBook405 Seiten5 Stunden

Khalida: Das Schicksal der Narbentochter

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Über dieses E-Book

Khalida. Wenn Salomea von der Hauptstadt träumt, denkt sie an Freiheit. Aufgewachsen in den Dörfern ohne Namen ist sie eine Geächtete. Ihr Schicksal bessert sich nicht, als sie bei einem Angriff auf ihre Heimat von mystischen Kreaturen in die Stadt der Verbannten verschleppt wird. Auf ihrer abenteuerlichen Reise erfährt sie Demütigungen und Gewalt, gewinnt aber auch unerwartete Verbündete. Sie muss feststellen, dass ihre Träume eben dies waren: Träume – denn die Wahrheit sieht anders aus. Die menschenverachtende Lebensweise und das widerfahrene Grauen wecken in ihr den Wunsch nach dem Kampf um Freiheit für die Geächteten.

Eine Geschichte über eine mutige Frau, die sich den Missständen ihrer Welt stellt und für Gerechtigkeit einsteht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Dez. 2022
ISBN9783347565364
Khalida: Das Schicksal der Narbentochter
Autor

Angelika Siebel

Angelika Siebel (*1993, geb. Folkers) wurde in Oldenburg geboren und lebt seit 2012 in Hamburg. Nach ihrem Abitur machte sie Berufserfahrungen in verschiedenen Bereichen und Städten, um dann ihrer Leidenschaft nachzugehen und Psychologie zu studieren. 2020 machte sie ihren Abschluss in Klinischer Psychologie und Psychotherapie an der Medical School Hamburg. Seit Oktober 2020 befindet sie sich in der Ausbildung zur tiefenpsychologischen Psychotherapeutin. Bücher waren seit ihrer Kindheit ein heilsamer Weg, um vom Alltag und manchen Lebensherausforderungen abzutauchen. Die Inspiration durch den damals jungen Autor Christopher Paolini wuchs und eines Tages hatte sie einen solch eindrücklichen Traum, dass sie sich das erste Mal selbst ans Schreiben setzte. Für ihr Debüt „Sïmona – Zwischen Krieg und Frieden“ hat die Autorin viel Zeit in die historische Recherche des Zweiten Weltkrieges investiert. Sie selbst beschreibt das Werk als die Verarbeitung ihrer Kindheit und als Rettungsanker in ihrer Jugend. Durch ihr fundiertes psychologisches Wissen greift die Autorin auch in ihrem aktuellen Projekt „Khalida“ psychische Vorgänge, Verarbeitungen und Krankheiten auf, um diese dem Leser näher zu bringen und zur Selbstreflexion herauszufordern.

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    Buchvorschau

    Khalida - Angelika Siebel

    Teil 1

    Prolog

    Ich lebe in einem kleinen Dorf, weit abseits gelegen der großen Stadt des Herrschers. Es sind ganze fünf Tagesmärsche nach Khalida. So wie jedes andere Bauerndorf trägt unser Wohngebiet keinen Namen. Es ist zu bedeutungslos, um einen zu verdienen. Es existiert einzig und allein zum Wohle der Nutznießer.

    Nie hatte ich bisher das Recht, geschweige denn die Möglichkeit, mich weiter als zwei Tagesmärsche von unserem Dorf zu entfernen. Wir bauen Gemüse und Getreide an, verarbeiten zu Mehl und Brot. Wir produzieren Marmelade, Bienenhonig, manche von uns schmieden Waffen und wieder andere stellen kostbares Geschirr her. Alles, was der Adel nutzt, wird in den kleinen Dörfern hergestellt, über die keiner spricht. Die fertige Ware wird dann zu der großen Mauer gebracht und dort von Ausgewählten weiter in die Stadt transportiert.

    Ich würde zu gern einmal Khalida kennenlernen, doch ich weiß, dass ich mir diesen Wunsch aus dem Kopf schlagen muss. So bin ich aufgewachsen.

    Ich heiße Salomea, aber jeder hier nennt mich kurz: Mea. Nur Vater besteht auf meinen vollen Namen. Ich bin 23 Jahre alt und lebe in einer großen Familie, deren Mitglieder nicht mehr alle in diesem Dorf ansässig sind. Zwei meiner älteren Brüder sind in die Bergwerke eingeteilt worden und ich werde sie wohl kaum noch einmal wiedersehen. Meine ältere Schwester lebt bei uns, ist aber durch ihre Melancholie und Lebensmüdigkeit fast permanent bettlägerig. Mutter leidet seit langer Zeit unter einem Husten und setzt ihre Kraft allein für die Pflege meiner Schwester ein. Somit bleibt mehr Arbeit für meine beiden kleinen Schwestern, Vater und mich übrig. Die Jüngste ist gerade einmal acht Jahre alt.

    Doch was sollen wir tun? Jede Familie hat ein Maß an Arbeit zugeteilt bekommen und wer am Ende eines Monats nicht alles erfüllt hat, hat eine schwere Strafe zu erwarten. Einem unserer Nachbarn wurde das Haus weggenommen, die Frau am Rand der Stadt in ein Freudenhaus gebracht und der Mann aus dem Land verbannt.

    Unsere Familie hat die Grundregel, immer mindestens ein Prozent mehr am Monatsende abzuliefern, damit wir den Besuch der Kontrolleure verhindern können. Das hat uns ihre letzte Kontrolle gelehrt. Doch das bedeutet harte Arbeit. Ich schlafe vier bis fünf Stunden in der Nacht und stehe vor Sonnenaufgang auf, um die Tiere zu füttern. Danach wird auf dem Feld gearbeitet. Dann helfe ich in der Mühle oder kümmere mich um meine kranke Schwester. Meistens liege ich nach Sonnenuntergang im Bett, brauche jedoch aufgrund der Schmerzen in meinem Körper viel Zeit zum Einschlafen. Der Rücken schmerzt, die Hände pulsieren und sind blutig, die Lunge brennt und der Kampf gegen die verbotenen Träumereien wird von Nacht zu Nacht härter.

    Dieses Verbot hat uns Vater von Kindesbeinen an eingeschärft. Nicht selten geschah es, dass wir als kleine Kinder Gedanken über ein anderes Leben austauschten und er sogar mit Prügeln nachhalf, um uns davon abzuhalten. Es hat in mir immer Angst hervorgerufen und ich wage es nicht mehr, diese Regel infrage zu stellen. Ich vertraue meinem Vater. Trotz seiner Strenge und Bitterkeit weiß ich, dass er für uns sorgt und das Beste wünscht. Er will uns nur beschützen.

    Doch jede Nacht, wenn ich im Bett liege, lausche und nur darauf warte, dass sie wieder ins Dorf kommen, brennt in mir die Frage: Wenn das mein Schicksal ist, dieses Leben zu führen, warum fällt es mir so schwer, es anzunehmen? Jeder Mensch hat seine Bestimmung, nicht alle können dem Adel angehören, nicht wahr? Wer würde dann das nötige Getreide anbauen? Ich gebe zu, dass mein Herz mit meinem Verstand dennoch einen Kampf austrägt.

    „Akzeptiere das Leben, wie es ist. Sich zu wehren, bedeutet das Ende." Diesen Satz höre ich seit 23 Jahren beinahe täglich. Aber kann das Schicksal wirklich gewollt haben, dass die einen in dauernder Not und Angst leben, während die anderen hinter schützenden Mauern ein behütetes Dasein führen? Wie sieht das Leben aus, wenn man nicht jede Nacht darauf gefasst sein muss, dass sie wiederkommen?

    Ich habe Angst. Große Angst. Vor einem Jahr haben sie drei Frauen entführt. Es sind immer nur Frauen. Was passiert mit ihnen? Sind sie noch am Leben? Und wie treffen sie ihre Auswahl? Letztes Mal hatten sie die Töchter von Marina mitgenommen, doch Marina selbst zurückgelassen. Warum?

    Mein Bruder Leonas hatte einmal eine Theorie aufgestellt, die möglicherweise schon anderen in den Kopf gekommen war, doch es war sicher das erste Mal, dass es jemand wagte, sie auszusprechen. Ich würde niemandem davon erzählen, es ist unser Geheimnis und würde nur mehr Panik verbreiten. Er hatte es mir einmal vor dem Schlafengehen zugeflüstert: „Habe keine Angst. Sie werden dich nicht mitnehmen. Sie holen immer nur die Schönen. Du bist sicher."

    Jede Frau wäre sicherlich tief getroffen, wenn ihr eigener Bruder ihre Schönheit verleugnen würde. Doch er sagte ja die Wahrheit. Ich wusste schon immer, dass ich nicht schön bin. Und so verrückt es klingen mag, es sind für mich aufbauende Worte, die ich mir in jeder Nacht vor Augen halte. Wenn mein Bruder recht hatte – und daran klammere ich mich fest – dann werden sie mich nicht holen. Ich bin nicht schön.

    Ich bin mit schneeweißem Haar auf die Welt gekommen – wie eine alte Frau. Nicht selten bekamen meine Eltern zu hören, sie hätten eine weiße Ratte geboren. Jeder hier im Dorf ist dunkelhaarig. Noch dazu zieht sich eine Narbe über meine rechte Gesichtshälfte. Woher diese stammt, wollten mir meine Eltern nie verraten. Und auch meine Geschwister sagten nicht mehr, als dass es ein Unfall gewesen sei. Lange Zeit hat es mich verärgert, dass mir keiner die Wahrheit erzählte, doch heute habe ich mich damit abgefunden. Wer weiß, welch schreckliche Geschichte sich dahinter verbirgt?

    Es gehört der Vergangenheit an und hier legt man keinen Wert auf das Äußere. Die körperliche Kraft ist das Einzige, was zählt. Wenn Leonas’ Theorie der Wahrheit entspricht, dann habe ich großes Glück.

    Seither sehe ich meinem Spiegelbild entgegen und fahre erleichtert über die lange Narbe, die sich von der Augenbraue bis zu meinem Kinn hinweg zieht. Ich bin blind auf dem rechten Auge, es ist trüb, doch wenn mich diese Entstellung beschützt, dann ist es ein kleines Opfer.

    Kapitel 1

    „Mea, ich muss an die frische Luft. Machst du deiner Schwester bitte das Frühstück?", ruft mir meine Mutter müde die steile Holzleiter hinauf.

    „Ja, mache ich!", rufe ich zurück und höre, wie augenblicklich die klapprige Holztür zufällt.

    Mutter ist überfordert. Ihr eigenes Unglück ist schon groß genug und Teneas Depressionen sind so arg, dass sie die Pflege kaum wertschätzt. Immer mehr Bitterkeit in diesem Haus. In diesem Dorf. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal meine beiden Eltern und meine ältere Schwester habe lachen sehen. Mir sind nur die starren, faltigen Gesichter bekannt, der unzufriedene Ton in ihren Stimmen, das Seufzen, das Ächzen.

    Das ist der Grund dafür, dass ich die meiste Zeit mit meinen beiden Schwestern Liska und Tjarda verbringe. Sie sind in diese dunkle Welt hineingeboren wie jeder andere von uns, doch haben sie ihre kindliche Lebensfreude bisher bewahrt – sie spielen, lachen, sehen die übrig gebliebene Schönheit dieses Lebens.

    Ich gebe zu, dass es auch für mich schwierig ist, nicht der Bitterkeit zu verfallen, doch das ist mein wichtigster Anspruch an mich selbst: niemals das Lachen zu verlieren.

    Nun stehe ich am Herd und rühre in einem Topf den Haferschleim um. Die Sonne geht gerade auf. Ich bin schon seit zwei Stunden auf den Beinen und habe die Tiere gefüttert.

    „Mea, kannst du mir nichts anderes machen als diesen widerlichen Haferschleim?, beschwert sich meine Schwester Tenea. „Ich kann das Zeug nicht mehr sehen! Und meine Zähne vermissen es, in Anspruch genommen zu werden. Warum bringt Vater kein Fleisch mehr mit nach Hause?

    „Sie haben Fußspuren nicht weit vom Dorf gefunden. Es ist jetzt zu gefährlich, auf die Jagd zu gehen. Du musst dich gedulden."

    „Gedulden? Sieh mich an! Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt noch dieses Zeug in mich reinschiebe! Ich verrecke hier! Ich werde nie wieder auf den Beinen sein! Und es scheint reichlich wenig zu interessieren, wie lange ich es überhaupt noch mache."

    Ich seufze und bringe ihr eine gefüllte Schüssel. „Rede so einen Unsinn nicht. Du weißt genau, dass du geliebt wirst. Und jetzt iss."

    „Vielleicht reicht Liebe nicht aus, um einen Sinn im Leben zu sehen."

    Ich bin auch müde. Jeden Tag höre ich mir diese Bitterkeit an. Genervt stehe ich auf und stelle ihr einen Becher Wasser neben das Bett.

    „Du solltest anfangen, darüber nachzudenken. Leonas und Elian hat wohl das schlimmste Schicksal getroffen. Sie sind nun in den gefährlichen Bergwerken. Versuch wieder am Leben teilzunehmen. Unsere Familie braucht dich."

    Mit diesen Worten verlasse ich die Hütte.

    Sonne. Ich atme tief die frische Luft ein und lächle in die Richtung der Person, die mich zu sich und den Schweinen ruft. Anhand der Stimme stelle ich fest, dass es meine jüngste Schwester Liska ist. Erkennen kann ich sie mit meinem Sehvermögen nicht.

    „Begleitest du mich? Ich will nach Trüffeln suchen", fragt sie und zieht einen alten Eber aus dem Gatter, der größer ist als sie selbst.

    „Bist du dir denn sicher, dass wir so nah am Dorf welche finden? Wir können nicht mehr in den Wald. Sie sind ganz in der Nähe. Es ist zu gefährlich."

    „Aber sie kommen nur nachts. Es wird uns nichts passieren."

    Immer wieder bewundere ich die nur geringe Furcht dieses kleinen Mädchens. Liska weiß genau, was hier geschieht. Ich hingegen habe mehr Angst. Was ist, wenn sie eine Ausnahme machen und beginnen am Tag anzugreifen?

    Der Eber zieht in Richtung Wald, die Leine rutscht aus Liskas Händen und er trabt los. Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Also – kommst du mit?"

    Ich zögere, sehe zur dunklen Waldgrenze und nicke.

    „Na gut. Aber verhalt dich bitte ruhig und wir gehen sofort zurück, wenn ich es sage. Verstanden?"

    „Verstanden. Du wirst sehen! Wir werden was finden! Er ist ganz aufgeregt!"

    „Hoffentlich", seufze ich und blicke mich verunsichert um.

    Jetzt bleibt der Eber stehen und wühlt im Laub unter einem Baum. Ich lehne mich an den Stamm und beobachte die Umgebung, während Liska begeistert ihren Beutel füllt.

    Mehr als einmal bilde ich mir ein, einen Schatten zu sehen, zucke zusammen und stelle dann fest, dass es nur der Wind oder ein Tier gewesen sein muss. Ich wünschte, sie wären schon gekommen und wieder abgezogen. Die Anspannung steigt und ich fürchte die nächste Nacht, die Schreie, das Durcheinander. Was, wenn sie jemanden aus meiner Familie mitnehmen? Was, wenn wir uns nicht rechtzeitig verstecken?

    Ich schrecke auf. Etwas raschelt in einem Busch weiter von uns entfernt.

    „Komm, Liska. Das reicht jetzt."

    Sie sieht erschrocken auf, nickt und zieht an der Leine des Ebers. Nach ein paar Metern sehe ich mich um, kann aber wie immer nichts in der Ferne erkennen. Keine Gefahr, dennoch will ich so schnell wie möglich ins Dorf zurück.

    Am Abend packen wir unsere Taschen, verstecken Kleidung und das Geschirr in den Strohbetten, richten die Vorratskammer her und essen dann gemeinsam Suppe mit Kartoffeln.

    Es herrscht angespanntes Schweigen während der gesamten Mahlzeit, selbst Tenea bringt kein Wort heraus. Es wird immer dunkler und als das Sonnenlicht verschwindet, springen wir nacheinander auf, spülen das Geschirr und schicken Liska, Tjarda und Tenea in die Vorratskammer. Meine Eltern und ich werden uns dem Zug zur Höhle anschließen, bevor das Dorf überrannt wird.

    „Salomea, hilf mir, den Schrank vor die Kammertür zu schieben", sagt mein Vater und ich packe schnell mit an. Die Kammer ist zu klein für uns alle und einen anderen Zufluchtsort gibt es nicht. Deshalb sind wir drei gezwungen, das Dorf zu verlassen. Ich kenne die Gefahr dabei, doch ich versuche, mich immer wieder mit dem Gedanken zu beruhigen, dass wir es die letzten Male in das Versteck geschafft haben, ohne bemerkt zu werden. Wir müssen früh losgehen und uns möglichst leise verhalten.

    Die Tür springt auf.

    „Los! Beeilt euch! Nebel zieht auf und wir haben noch einen weiten Weg vor – "

    Der Satz des Schmiedes bricht ab. Das hohe und lange Heulen lässt mich erstarren. Sie kommen zu früh. Es ist nicht einmal Mitternacht!

    Nach einem kurzen Augenblick des Entsetzens packen wir unsere Taschen und stürmen aus der Hütte.

    „Habt keine Angst! Wir kommen wieder!", rufe ich meinen Schwestern zu, ehe Vater mich am Ellenbogen packt und hinauszieht.

    „Sei still!, schimpft er. „Wir müssen uns den dichten Nebel zunutze machen.

    Hoffentlich werden sie die anderen drei nicht finden. Hoffentlich wird unsere Hütte stehen, wenn wir wiederkommen.

    „Zwei Gruppen sind schon auf dem Weg. Wir bilden die letzte. Ich konnte niemanden mehr zurückhalten, als das erste Heulen erklang, erklärt der Schmied namens Ted im Flüsterton. „Ihr Frauen bleibt immer schön hinter uns!

    Er sieht mich und die vier anderen einschärfend an. Ich schlucke, als ich ihre Schönheit bemerke. Haben sie eine Chance? Wir sind die Letzten.

    Wieder ein Heulen.

    Ich halte mir erschrocken die Hand vor den Mund, um den hohen Schreckenslaut in meiner Kehle zu ersticken.

    „Los jetzt!"

    Ich sehe noch einmal zurück zur Hütte und ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich. „Lebt wohl", flüstere ich.

    Aus irgendeinem Grunde glaube ich, heute Nacht nicht mehr heimzukehren.

    Kapitel 2

    Es ist dunkel, die Laterne in meiner Hand ist erloschen. Der Nebel ist so dicht, dass auch die anderen das Dorf nicht mehr erkennen. Der Schmied am Anfang der Gruppe ist verschwunden.

    Es ist bitterkalt, mein Atem löst sich sichtbar vor mir wieder auf. Der Schal, den ich trage, wärmt nur wenig, die Mütze habe ich in der Hektik vergessen. Ich öffne das Haar, um wenigstens so meine Ohren vor der Kälte zu schützen. Es beginnt zu schneien.

    Unheimliche Stille zieht sich durch den Wald. Das Einzige, was ich höre, ist mein Atem und hin und wieder das Knacken eines Astes, auf den jemand tritt. Eine Frau vor mir schluchzt leise, eine andere hält ihre Hand, wird jedoch von einem Mann von ihr getrennt.

    „Wir müssen in der Gruppe bleiben, aber dürfen nicht zu nah beieinander laufen. Sollten sie uns in diesem Nebel auf dem Weg überfallen, hat jeder eine größere Chance, noch davonzukommen, wenn er nicht zu nahe am möglichen Opfer steht", erklärt der leise.

    Ein langes und lautes Heulen dringt durch die Dunkelheit. Eine Frau schreit panisch auf und läuft los.

    „Nein! Nicht! Bleib stehen!", zischt der Mann.

    Doch zu spät: Die Gruppe löst sich auf, alle rennen in verschiedene Richtungen. Ich will meine Füße zum Laufen bringen, kann sie jedoch nicht vom Fleck bewegen.

    Als sich die Starre löst, habe ich alles aus den Augen verloren. Die Stimmen sind verstummt, ich drehe mich panisch um mich selbst und suche nach einer Gestalt. Niemand.

    Nur die Dunkelheit und dichter Nebel.

    Ein grausamer hoher Schrei und ein Knurren zerreißen die Stille. Panisch laufe ich los. Jetzt heult es von allen Seiten. Sie sind da. Ich höre weitere Schreie, Schritte, kann aber nichts erkennen.

    Kurzerhand entschließe ich mich, den Rand des Weges ausfindig zu machen und mich an einen Baumstamm zu kauern. Klein. Unsichtbar. Geräuschlos. Hässlich.

    Dich wird keiner mitnehmen, Mea. Keiner wird dich bemerken. Keiner wird dich auswählen. Bleib hier sitzen und warte, bis sie weg sind. Gleich wird alles vorbei sein.

    Schreie, Knurren, Heulen. Ich halte mir die Ohren zu und presse die Knie fest an mich. Mein Körper zittert wie Espenlaub.

    Haben sie jemanden erwischt? Wo sind meine Eltern?

    Das Heulen wird lauter. Ich sehe entsetzt auf, als ich einen Windstoß wahrnehme. Viele dunkle vierbeinige Silhouetten springen, nur wenige Meter entfernt, durch den Nebel an mir vorbei. Schnell rutsche ich hinter den Baumstamm und halte die Luft an. Sie stürmen in Richtung Dorf. Gleich bin ich in Sicherheit. Mein Herz überschlägt sich, meine Hand ist fest auf den Mund gepresst, ich versuche, mich nicht zu bewegen, um zu verhindern, dass sie Witterung aufnehmen.

    Dann ist es endlich still. Ich bleibe sitzen, warte. Auf was, weiß ich nicht.

    Jemand ruft: „Mea?"

    Es ist ein leiser Ruf, aber ich erkenne genau die Stimme meiner Mutter. Ich springe auf. Erleichtert laufe ich auf den Weg.

    „Ich bin hier!", zische ich in die Dunkelheit hinein. Doch sehen kann ich niemanden.

    „Mea, mein Schatz! Du lebst!", schluchzt meine Mutter weit entfernt.

    „Ja! Mach dir keine Sorgen mehr! Ich komme zu euch!"

    Ein Knurren erklingt. Erschrocken drehe ich mich um und stolpere zurück. Das Knurren wird lauter.

    „Nein, flüstere ich. „Nein! Jetzt gleicht es einem hysterischen Ruf.

    „Mea?!" Die Stimme meiner Mutter wird verschluckt, als ein großer dunkler Wolf auf mich zu gesprungen kommt. Ich rapple mich auf und versuche, den Ast über mir zu ergreifen. Keine Chance. Schon liege ich ausgestreckt auf dem Boden, das Gesicht im Schnee.

    „Nein, schluchze ich verzweifelt. „Nein, nicht mich, bitte!

    Ich bekomme kaum Luft, die Panik verschluckt meine Stimme. Nicht mich. Ich ziehe die Beine an, vergrabe das Gesicht. Was wird jetzt passieren?

    Etwas Nasses, Kaltes stupst mich an. Entsetzt sehe ich auf, direkt in die Augen des zwei Meter großen Wolfes vor mir. Er zieht schnaufend den Kopf zurück, als würde ihn erschrecken, was er sieht, und nähert sich dann wieder langsam. Es ist nichts Tierisches, das sich in seinen Augen widerspiegelt. Zu viel Intelligenz liegt darin. Die kalte Nase beschnüffelt mein Gesicht und mein Atem setzt aus, als die warme Zunge meine vernarbte Gesichtshälfte berührt.

    Ich bewege mich keinen Zentimeter, erst als der dunkle Wolf mich anstupst und ich erschrocken zurückweiche. Er legt den Kopf schief und mustert mich. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinem ganzen Körper. Was für ein Ausdruck! Doch ich kann ihn nicht deuten. Es scheint eine Mischung aus Abscheu und Mitleid zu sein.

    Ein Knurren ertönt neben uns im Busch und ein zweiter Wolf springt heraus. Ehe er sich auf mich stürzt, eilt der Erste vor mich und knurrt seinen Artgenossen an.

    Völlig verwirrt schaue ich zwischen den beiden hin und her. Dann dreht sich der Erste zu mir um. Dieses Mal liegt mehr Abscheu als Mitleid in seinen Augen. Er pirscht knurrend und mit gebleckten Zähnen auf mich zu. Dann sinkt er zu Boden, den Blick nicht von mir abwendend. Der andere Wolf kommt näher und schubst mich nach vorn, sodass ich an die Flanke des Ersten falle. Panisch weiche ich zurück in der Gewissheit, dass er mich angreift. Ich springe auf und will losrennen, doch der Wolf ist schneller und springt vor mich. Jetzt bin ich umzingelt. Wieder geht der Wolf vor mir zu Boden, der andere drängt mich von hinten an seine Seite. Ich verstehe: Ich soll auf seinen Rücken steigen und eine Wahl bleibt mir nicht.

    Nie haben meine Hände so gezittert, nie hatte ich solche Schwierigkeiten zu atmen und meinem Herzschlag hinterherzukommen. Ich greife fest in das weiche, leicht zottelige Fell und presse die Beine an die Seiten des großen Wesens.

    Wo wird es mich hinbringen? Was haben sie mit mir vor? Warum lassen sie mich am Leben? Ich bin hässlich!!

    Tränen fließen über meine Wangen, als sich der Körper unter mir erhebt und mit einem Sprung nach vorn seinen Lauf durch den Wald aufnimmt.

    Eiskalte Luft peitscht mir ins Gesicht. Der Nebel ist dicht, die vom Himmel fallenden Schneeflocken werden immer dicker, doch der Wolf scheint sich davon nicht beirren zu lassen. Ein Heulen hallt durch den Wald. Schatten erscheinen links und rechts von mir. Wie viele hatten sie mitgenommen?

    Jetzt werden die Schritte des gigantischen Wolfes unter mir langsamer und kommen zum Stehen. Ich schaue mich um und erahne ein paar weitere Menschen auf den Rücken anderer Wölfe. Ihren Zustand kann ich aus dieser Entfernung nicht ausmachen.

    Dann werde ich von einem hellen Licht geblendet. Es ist mitten in der Nacht. Etwas kommt aus einem Erdloch unterhalb eines großen Eichenstammes hervor, in der Hand eine Fackel. Ein Mensch? Unmöglich.

    Oder doch?

    Tatsächlich. Und es folgen ihm noch mehr. Ich bin zu erschöpft von dem anstrengenden Ritt und meine Hände sind wie gefroren. Dann berührt mich eine warme Hand und löst meine Finger aus dem Fell. Völlig hilflos rutsche ich hinab auf den Boden und schaue dem fremden Gesicht entgegen. Erschrocken weicht der Mann zurück. Ehe er auf den Gedanken kommt, mir aufzuhelfen, wendet er sich an einen anderen. Sie flüstern etwas, ich verstehe aber nichts. Es ist mir egal in meinem Zustand, ich ersehne nur das Warme. Dann werde ich am Ellenbogen gepackt und auf die Beine gerissen.

    „Wer seid ihr?", frage ich und stelle fest, dass meine Stimme einer eingeschüchterten Krähe gleicht.

    Der Mann antwortet nicht.

    Es fällt mir schwer, etwas zu erkennen. Alles um mich herum ist verschwommen, flackernd, hell.

    Dann werde ich in den Höhleneingang geführt. Eine hölzerne Treppe führt hinab in einen beleuchteten Tunnel.

    Kapitel 3

    4 Monate zuvor.

    „Salomea! Komm in den Schatten! Du hast auf dem Feld nichts zu suchen! Deine Verbrennungen werden nur noch schlimmer! Wechsle dich mit Elian ab, der packt in der Mühle gerade Säcke mit Mehl ab!", rief Vater Johann mir vom Feldrand zu.

    Die Mittagshitze würde noch auf sich warten lassen, doch Vater hatte recht. Meine beinahe durchsichtig wirkende Haut nahm jeden Sonnenschein auf und verbrannte schon am frühen Morgen nach nur wenigen Minuten. Es frustrierte mich, dass ich dadurch nur selten und kurze Zeiträume an der frischen Luft arbeitete. Ich liebte die Natur und die Feldarbeit, so hart sie war, sagte mir weitaus mehr zu als die staubige Luft im Innern der Mühle. Vor allem in der Sommerhitze musste ich meine Arbeiten ins Hausinnere verlagern, da es im Dorf kaum schattige Plätze gab.

    Einige Tage zuvor hatte ich diese Tatsache ignoriert und mich dabei so verbrannt, dass sich Brandblasen über meine Arme zogen. Mein Vater war stinksauer, als er diese Beeinträchtigung sah, war ihm doch sofort klar, dass ich so die nächsten Tage nicht mit voller Kraft arbeiten würde. Aber ich hatte es im Haus nicht mehr ausgehalten. Es war Waschtag und meine Schwester Tenea und das Husten meiner Mutter hatten an dem Tag so solche Aggressionen hervorgerufen, dass ich die Wäsche mit hinaus ins Freie genommen hatte. Stundenlang hatte ich die Wut, über der Spiegelung der Sonne im Wasser, an den dreckigen Kleidungsstücken ausgelassen.

    Seufzend stieß ich die Harke in die Erde und überließ die Kartoffeln meinem Bruder, der aus der Mühle kam und mich aufmunternd abklatschte.

    „Pass auf, Leonas hat heute besonders gute Laune", sagte er lachend und sah an seiner von Mehl bestäubten Kleidung hinab. Ich wollte in das Lachen einsteigen, sah dann aber Vaters finstere Miene neben mir, der es gar nicht guthieß, wenn wir bei der Arbeit herumalberten. Ehe er einen Vortrag begann, verschwand ich schnell hinter der Mühlentür.

    Hier war es heißer. Heute Mittag würden wir zu kämpfen haben. Aber daran wollte ich jetzt erst mal nicht denken. Ich sah die Silhouette die schweren Mehlsäcke zubinden und auf einen Karren werfen.

    „Ah, Mea! Kannst du bitte ein paar weitere Säcke flicken? Elians Arbeit ist weitaus nicht so ordentlich wie deine, wenn es ums Nähen geht."

    „Ja, kann ich machen", antwortete ich und setzte mich neben meinen Bruder auf den etwas kühlen Steinboden.

    „Wie geht es deinen Armen?", fragte Leonas und pausierte, um zu trinken. Ehe ich reagierte, bückte er sich und nahm meinen Arm.

    „Das sieht immer noch nicht gut aus. Oh Mann, Mea. Du musst wirklich besser aufpassen. Hol dir nachher ein paar Kartoffeln vom Wagen, Liska soll sie dir reiben und neue Wickel machen, wenn ihr bei eurer heimlichen Geschichtsstunde heute Abend seid."

    „Du weißt davon?", fragte ich erschrocken.

    „Tjarda und Liska konnten ihren Mund nicht halten, lachte Leonas. „Keine Sorge, ich verrate euch nicht. Ich muss sagen, die Geschichten, die Konradin erzählt, reizen mich, auch einmal mitzukommen. Aber ich komme mir als erwachsener Mann reichlich blöd dabei vor. So lasse ich mir die Geschichten lieber später von einer aufgeregten Liska oder Tjarda erzählen. Ich bin nur froh, dass du die beiden noch begleitest, so weiß ich, dass sie nichts Dummes anstellen.

    Ich lächelte verlegen und führte meine Arbeit fort. Nach einer Weile nahm Leonas wieder das Wort auf: „Ich habe gehört, dass die Kontrolleure bereits fünf Tage früher kommen."

    „Was?", fragte ich entsetzt.

    „Ja, die Menschen in der Stadt scheinen mit ihren Lebensmitteln an ihre Grenzen zu kommen."

    „Wie kann das sein? Die letzte Lieferung war groß und vielseitig! Was muss geschehen sein, dass die Menschen dort hungern?"

    „Ich weiß es nicht, antwortete er. „Aber es muss wirklich schlimm sein. Selbst wir müssen dieses Jahr nicht hungern, wenn unsere Vielfalt auch wesentlich geringer ist als die der Ware, die wir in die Stadt liefern. Vielleicht können uns die Kontrolleure Auskunft geben.

    „Vielleicht haben andere Dörfer ihren Dienst nicht ausreichend leisten können, sodass wir das nun ausgleichen müssen?, mutmaßte ich. „Was ist, wenn wir bei der Ankunft der Kontrolleure nicht genug geleistet haben? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Gnade zeigen werden.

    „Mach dir keine Sorgen, Mea. Noch ist es nicht so weit. Und unsere Familie muss sich jetzt hauptsächlich auf die Kartoffelernte konzentrieren. Heute Mittag habe ich die Mehlsäcke soweit fertig, dann gehen wir alle zusammen aufs Feld. Liska und Tjarda werden deine Arbeit übernehmen müssen."

    „Aber –", warf ich ein, doch er unterbrach mich.

    „Mea. Sieh dich an. Du kannst nicht in die Sonne. Schau du im Dorf, wo noch Hilfe benötigt wird."

    „Aber ich will unserer Familie Unterstützung leisten! Ich kann helfen!"

    „Ich weiß, dass du tüchtig arbeiten kannst. Daran zweifelt keiner. Aber du bremst uns in deinem Zustand nur aus."

    Zorn stieg in mir auf. Warum musste ich so sein, wie ich war? Ich würde nie meinen Platz im Dorf finden, wenn ich weder draußen arbeiten noch gut sehen konnte. Mein Augenlicht war so schlecht, dass ich mit meinem verbliebenen Auge alles nur verschwommen wahrnahm. Gesichter erkannte ich nur, wenn Personen direkt vor mir standen. Insbesondere das Sonnenlicht beeinträchtigte mein Sehvermögen. Ich hasste mich dafür, dass ich nicht in der Lage war, die volle Arbeit zu leisten, die die Familie benötigt hätte.

    „Schön, sagte ich wütend und stand auf. „Geh.

    „Ich kann das hier noch fertig machen, Mea."

    „Nein. Sie brauchen dich auf dem Feld. Zum Säcke nähen und Mehl portionieren reichen sogar meine unbrauchbaren Hände aus."

    „Mea! So war das nicht gemeint."

    Ich schnaubte und ließ mich von ihm in den Arm nehmen. Er drückte mich fest an sich. Leonas war nicht nur ein Bruder, sondern mehr eine Vaterfigur für mich, als es mein Vater je sein würde. Er schenkte mir die Liebe, die ich brauchte. Er nahm sich Zeit für mein Herz. Und durch den großen Altersunterschied war es gar nicht merkwürdig.

    „Du weißt genau, dass deine Hände nicht unbrauchbar sind. Du wirst gebraucht und du kannst das Dorf wie jeder andere unterstützen. Reiß dich zusammen und erinnere mich nicht an unsere bittere Schwester Tenea. Das passt nicht zu dir."

    Ich seufzte erneut. „Du hast recht … die Schmerzen der Verbrennungen nagen an meinen Nerven. Tut mir leid, war nicht so gemeint."

    Er lächelte mich an und verließ die Mühle.

    Nach dem Abendessen, als sich der Großteil der Familie erschöpft von der schweren Feldarbeit in die Kissen fallen ließ, schlich ich mich mit Liska und Tjarda hinaus. Sie waren müde, wollten aber keinesfalls den Geschichtenabend von Konradin verpassen. Die Dorfbewohner hatten sich weitestgehend in ihre Hütten zurückgezogen, nur wenige saßen draußen um ein Feuer herum und ließen den Tag bei dorfgebrautem Whiskey ausklingen.

    Konradins Hütte lag am Rande des Dorfes und über eine Planke konnte man unbemerkt direkt hinauf durch das Dachbodenfenster klettern. Nur wenige Eltern sahen

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