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Lebens-Wert ... anders: Band 2
Lebens-Wert ... anders: Band 2
Lebens-Wert ... anders: Band 2
eBook745 Seiten10 Stunden

Lebens-Wert ... anders: Band 2

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Über dieses E-Book

Aus dem gegenseitigen Abschnuppern und der ersten Kennenlernphase entwickelten sich interessante Momente mit abenteuerlichen Geschichten. Wie bei einem Bummelzug, der gemütlich von Station zu Station rollte, beteiligten sich immer mehr Personen, an der außergewöhnlichen Fahrt und die Reise ging weiter! Mauern begannen zu bröckeln, Barrieren wurden verschoben und beim schüchternen Blick aus dem Schneckenhaus, war nicht nur Licht am Horizont, als vielmehr Neugierde, Freude und Lebensmut zu erkennen und für viele wurde es - lebenswert … anders!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Feb. 2020
ISBN9783749733828
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    Buchvorschau

    Lebens-Wert ... anders - Albert Rode

    Kapitel

    11

    Die Auswertung

    Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, was soviel bedeutete, dass es nun schnellst möglich an die Aufarbeitung der unglaublich vielen Zettel ging, denn schnell war die Woche herum, der nächste Dienstag ruckzuck da und die Bewohner, ganz sicher nicht weniger gespannt als ich es natürlich auch war. Aber dennoch oder gerade deswegen, begann der Morgen erwartungsvoll gut und mit einem freudigen Gefühl schlenderte ich motiviert zum Frühstück, wo mich bereits Frau Möller sehnsüchtig erwartete. Die hektische Röte des gestrigen Abends war verflogen und auch sie strahlte über das ganze Gesicht. Selbstverständlich nahm ich direkt an ihrer Seite Platz und noch bevor ich richtig saß, legte sie auch schon los. „Na, das haben wir doch wohl gut hinbekommen gestern Abend" und griente dabei über das ganze Gesicht. Ja, das hatten wir in der Tat und schon wurde sie wieder ernst und schaltete auf Arbeitsmodus um. Dann erklärte sie mir, dass am heutigen Mittwoch einige der potentiellen Helfer nicht mit dabei sein konnten, denn das auswärtige Schwimmen lag ebenfalls am Vormittag auf dem Plan. Ich beruhigte sie, nahm ihr die Planungssorgen ab und versuchte ein wenig von dem Druck und Dampf herauszunehmen, den sie gerade künstlich aufbaute und überhaupt wollte ich mir zunächst auch erst einmal selbst ein Bild von den Notizen und Zetteln machen und mich dann später, am Nachmittag, mit ihr zur weiteren Vorgehensweise erneut treffen und besprechen. So konnte ich schon mal in aller Ruhe vorsondieren und für die unterschiedlichen Bereiche und Themen, Tabellen sowie Listen anlegen. Sie sah mich an, presste den Mund zusammen und stammelte etwas wie: „Naja, eigentlich wollte ich sie ja nicht damit allein …, aber wenn sie meinen", presste die Lippen erneut zusammen, pendelte nachdenklich mit dem Kopf und willigte dann, nach erneutem Zögern doch schlussendlich ein. „Aber nach dem Mittagessen treffen wir uns gleich im Gemeinschaftsraum", sprach sie mit fester und lauter Stimme weiter, aber mit etwas Angst und Sorge in der Stimme, als könnte ihr etwas verloren gehen. Wir einigten uns aufs Kaffeetrinken, wo wir bei einem Stück Kuchen dann die erste Auswertung besprechen wollten. Sie übergab mir eine alte, mit Gummizug verschlossene Kladde, in der sie die Zettel und Notizen des Abends aufbewahrt hatte.

    Als mein Blick durch den Frühstücksraum kreiste, waren natürlich noch andere Personen zu sehen, eigentlich war es genau so wie immer, doch ich war erstaunt, dass mich keiner auf den gestrigen Abend ansprach und es überhaupt keine Reaktion darauf gab. Ok, musste jetzt auch nichts bedeuten, vielleicht warteten sie tatsächlich erst einmal ab, was sich daraus entwickelte. Als ich mein Frühstücksgeschirr weggebracht hatte, bewaffnete ich mich mit einer Flasche Mineralwasser, klemmte mir die Kladde unter den Arm und verabschiedete mich vom Vorstand: „Na, dann bis später, viel Spaß beim Schwimmen, ich werde mal loslegen", hob dabei mahnend den Zeigefinger in die Höh und lachte. „Und gehen sie nicht unter, wir brauchen sie noch". Doch sie rollte nur mit den Augen, nickte wohlwollend und warf ein, fast schon schüchternes oder vielleicht sogar auch peinlich berührtes „bis später" zurück, bevor sie sich wieder mit dem liebevoll bestrichenen Marmeladenbrot befasste.

    Kurz überlegt, wo denn wohl der beste Platz zum Auswerten war und da war sie wieder, die alles entscheidende Frage nach dem lauschigen Plätzchen. Im Haus, im Garten, da gab es zwar viele schöne und durchaus auch lauschige Plätze, doch ich musste davon ausgehen, dass gerade nach der gestrigen Veranstaltung und dann auch noch mit dem Tisch voller Zettel, die Bewohner garantiert wie die kleinen neugierigen Mäuse aus ihren Löchern gekrochen kamen und wie die Aasgeier versucht hätten schon ein paar Vorabinformationen zu erhaschen. Unter diesen Gesichtspunkten waren da plötzlich gar nicht mehr so viele passende und lauschige Plätze, die ich im Köcher hatte. Bei Georg auf dem Deich war es zu windig und der Tisch auch viel zu klein. Blieb nur noch mein Zimmer oder, genau das Scharfe Eck, denn dort konnte man ungestört sein und war trotzdem nicht allein. So packte ich meine sieben Sachen und hatte schon den Motorradhelm in der Hand, doch bis ich das Moped unter der Plane ausgegraben und betriebsbereit gemacht hatte, da war ich zu Fuß bestimmt schon dreimal beim Scharfen Eck, zog mir meine bequemen Laufschuhe an und marschierte mit der umgehängten Tasche los. Ich verließ das Grundstück zeitgleich mit den Schwimmern, die gerade in den Bus stiegen und niemand registrierte, dass ich verschwand, obwohl der Kies unter meinen Schritten so laut knirschte, dass ein unauffälliges Davonschleichen eigentlich gar nicht möglich war. Herr König, der Busfahrer, hatte es mitbekommen, nickte mir zu und hob die Hand, als ich den Bus an seiner Fahrerseite passierte und durch die Scheibe erkennen konnte, wie er sich gerade Notizen auf einem Klemmbrett machte, das vor ihm auf dem Lenkrad aufgestützt lag. Wahrscheinlich der Fahrtbericht oder so etwas, aber auf jeden Fall signalisierte er mir mit dem Blick, dass er mich gesehen hatte.

    Selbst Opa Hentrich war konzentriert und aufmerksam damit beschäftigt den Tross der Wassernixen zu verfolgen oder vielleicht war er nur so wachsam dabei, um wirklich sicher zu gehen, dass Schwester Anna auch wirklich mit in den Bus stieg, denn was hatte er sich neulich leise in den Bart gebrummelt? – „Willst du unbeschwert und sicher durch den Tag kommen, dann musst du immer wissen wo sich der Feind befindet!"

    Ich verließ das Grundstück, war in meinen Gedanken schon ein ganzes Stück weiter, konstruierte gedankliche Listen und Tabellen und irgendwie kam mir der Weg zum Scharfen Eck Tag für Tag kürzer vor oder lag es vielleicht an meinen Gedanken, denn die Strecke blieb doch die gleiche. Aber genau da hatten wir es ja wieder, wenn man beschäftigt ist und etwas zu tun hat, dann vergeht die Zeit wie im Flug, doch wenn man nichts mit sich anzufangen weiß, keine Aufgabe hat, nicht mehr gebraucht wird, dann will die Zeit einfach nicht herumgehen und man blickt alle naselang auf die Uhr. Und genau so war es dann auch, denn im Nu war ich beim Scharfen Eck, stand vor der Tür und kam mir schon irgendwie blöd vor, denn so früh am Morgen vor der Tür einer Kneipe zu stehen, da wurde man ganz schnell in die berühmte Schublade gesteckt, unrechtmäßig verurteilt und abgestempelt. Aber warum machte ich mir eigentlich schon wieder einen Kopf für andere. Was sie über mich und die Situation denken könnten? Ich versuchte mich zu rechtfertigen, eine Entschuldigung zu finden, für etwas was sich nur in den Köpfen der anderen zusammenbraute. Doch manchmal trügt der Schein und es ist anders, als es sich das Auge und die spießige Fantasie zurechtgelegt hat, wie ich an einem schönen Beispiel zeigen kann und darüber hinaus auch noch sehr schöne und persönliche Erinnerungen habe.

    11.1__Liebeskummer – nee, Meisterprüfung

    Es war der Tag meiner schriftlichen Meisterprüfung, ein Montagmorgen im März, ich hatte gerade meinen 25. Geburtstag gefeiert, als wir, die angehenden Meister, uns früh morgens gegen sieben Uhr, nervös und mit weichen Knien, wie ein Teenager vor einem ersten Date, auf dem Hof vor unserer Schule trafen. Von dort aus ging es mit einem gecharterten Reisebus in das zirka sechzig Kilometer entfernte Ravensburg, als Stadt der Spielwaren in der ganzen Welt bekannt, nicht zuletzt durch die schönen, großen, aber auch außergewöhnlichen, Puzzle.

    Für uns war es an diesem Tag aber alles andere als Spaß und Spiel, um nicht zu sagen, bitterer Ernst und ebenso war auch die immer größer werdende Anspannung bei fast jedem von uns, die nicht nur im Gesicht, als auch an der ganzen Körpersprache, zu erkennen war. Trafen wir uns noch vor knapp neun Monaten an unserem ersten Schultag, als wir uns zunächst beschnupperten und sich daraus dann die Sympathiegruppen bildeten, so waren wir heute an dem Punkt angekommen, wofür wir die vergangenen Monate hart gearbeitet, gelernt, gepaukt oder was auch immer gemacht hatten. Ich kann nicht sagen was in den Köpfen der Kollegen vorging, für mich war es an diesem Tag schon etwas ganz Besonderes und ich konnte auf jeden Fall für mich behaupten, dass ich in diesem Jahr nicht nur schulisch gereift, sondern auch mit dem nötigen Ernst und Konzentration in diese Prüfung ging. Ich bin mir sicher, dass mein Freund Simon die gleiche Einstellung hatte, der ja vor neun Monaten schon optisch wie ein Manager daher kam und nun, am Tag der Prüfung, war es nicht anders. Auch ich wollte den Prüfern mit dem nötigen Respekt gegenübertreten und möchte behaupten, dass mein Outfit ähnlich wie bei Simon eines Managers würdig war. Weißes Hemd, Pullover, ordentliche Hose, Halbschuhe, natürlich sauber und geputzt und als i-Tüpfelchen hatte ich einen langen weiß/beige farbigen Trenchcoat an und sah ein wenig wie der junge Humphrie Bogart aus. Ok, nun war ich körperlich nicht unbedingt der Größte und der Mantel reichte mir zum Glück auch nur bis in die Kniekehle, sonst hätte ich möglicherweise auch wie ein Gartenzwerg im Regenmatel ausgesehen. Schon beim Treffpunkt vor der Schule, war es hochinteressant, die anderen Kollegen zu beobachten und ähnlich unseres ersten Schultages, spiegelten sich auch an diesem Morgen die verschiedenen Charaktere wieder. Wer vor neun Monaten auffällig und laut war, der war es auch an diesem Morgen, die Schüchternen standen wie gewohnt etwas abseits in der Ecke und die mit den selbstgestrickten Pullovern, den speckigen Jeans und den eigenartig rot, glänzenden Augen, die sich bereits zu Beginn des Kurses gesucht und scheinbar auch schnell gefunden hatten, auch die standen wie am ersten Tag dicht beieinander und waren in dem dicken Qualm kaum auszumachen, der sie wie eine mysteriöse Wolke umschloss. Ich mutmaße mal, dass da nicht nur Zigaretten durch die Runde gingen, dafür war die Rauchentwicklung zu groß, die Augen zu rot und die abgegebenen Kommentare zu einsilbig, monoton und emotionslos. Einige andere hatten noch dicke, vollgestopfte Aktenordner unter den Armen oder standen damit abseits der Gruppe und versuchten noch schnell die letzten wichtigen Dinge in den Kopf zu bekommen, was aber eher nach einer hoffnungslosen Druckbetankung aussah.

    Unübersehbar war dabei, dass sie unglaublich hektisch, aufgeregt und nervös wirkten, wahrscheinlich war ihnen erst wenige Tage zuvor oder vielleicht sogar auch erst einige Stunden vor dem großen Moment, der Ernst der Lage klar und bewusst geworden, dass nun der Tag der Entscheidung gekommen war. Nicht nur die Erkenntnis und der Tag der Prüfung waren gekommen, auch der Reisebus bog langsam und gemächlich um die Ecke und hatte seinen Zielpunkt erreicht. Während der Fahrt versuchte ich mit Simon etwas Ruhe und Entspannung zu finden, um uns auf die Prüfung schon einmal gedanklich einzustimmen. Wir haben wenig gesprochen, viel nachgedacht, aus dem Fenster gesehen und versucht uns nicht von der Hektik und Nervosität der anderen Kollegen anstecken zu lassen. Eigenartigerweise kann ich mich an die Landschaft überhaupt nicht mehr erinnern, es war so eine Situation, die ich schon mehrfach beschrieben habe, die Augen waren dort und der Verstand mit den Gedanken auf einer ganz anderen Baustelle und die hieß – Meisterprüfung.

    Wir erreichten Ravensburg, fuhren auf das Gelände der Stadthalle, da nahm die Anspannung noch einen Schlag zu, der Puls stieg, die Atmung wurde schneller und auch die Herzfrequenz erhöhte ihre Taktzahl, denn nun war nicht nur die Prüfung und der Tag, als auch das Gebäude, zum Greifen nah. Der Bus stoppte, die Türen öffneten sich und es war noch knapp eine Stunde Zeit bis wir unsere Plätze im großen Saal der Stadthalle einnehmen mussten. Vom Bus bis zum Eingang trennten uns vielleicht zweihundert Meter und wie auf dem Weg zum Schafott gingen sie fast ausnahmslos alle gesittet, mittlerweile auch ruhig und konzentriert, dem Eingang entgegen. Ich erinnere mich noch an den einen Kollegen aus Hameln, der mit den dicken, fetten Ordnern unter dem Arm, noch bis zur letzten Minute versuchte, so viel wie möglich an Informationen aufzusaugen. Er rannte an allen vorbei, entweder musste er noch dringend zur Toilette, doch wenig später sahen wir ihn vor dem Prüfungssaal auf der Erde sitzen, um ihn herum die geöffneten Ordner, in die er aufgeregt blickte und wild darin herumblätterte. Ich glaube ich war der einzige, der nicht mit dem Tross der Prüflinge in Richtung Eingang marschierte, drehte mich am Bus zur Orientierung noch einmal um die eigene Achse, ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es noch genügend Zeit war, ging über die Straße genau in die andere Richtung und steuerte direkt auf eine kleine Kneipe zu. Die Eingangstür lag etwa fünf Treppenstufen hoch, die Tür stand zwar auf, doch es sah nicht wirklich nach geöffnet aus, die Stühle standen noch auf den Tischen, die Barhocker waren auf den Kopf gestellt, aber es brannten die Lampen und das unverkennbare Spühlgeräusch der Thekenanlage war klar und deutlich zu hören.

    „Wir haben noch nicht geöffnet", hörte ich eine Stimme, die vom Wirt hinter der Theke kam, der mit einem Handtuch bewaffnet Gläser spülte und putzte. „Ist ok", sagte ich, „brauche nur schnell ein kleines Glas Bier im Stehen" und stand da elegant und souverän wie der Vorstandsvorsitzende der Thyssen-Krupp AG, mit Trenchcoat und Aktenköfferchen. „Liebeskummer?", fragte der Wirt furztrocken und sah mich mit vorsichtig abtastendem Blick von unten nach oben an. „Ne, Meisterprüfung", erwiderte ich ebenso trocken und lachte. – „Schiss?", fragte er weiter, während er mir ein kleines Glas Bier zapfte, doch auch hier konnte ich es nur verneinen und erklärte ihm, dass es meine Art der Vorbereitung und des Herunterfahrens war. Der geringe Malzanteil im Bier sollte etwas Entspannung bringen, vielleicht wollte ich mich auch einfach nur für einen Moment von der Gruppe und der Hektik lösen, mich sammeln und den letzten Augenblick vor der Prüfung mit mir alleine verbringen. Ich bezahlte, steckte mir ein Pfefferminzbonbon in den Mund, bedankte mich und verschwand.

    Grundsätzlich hatte ich es gar nicht mit Alkohol, dann schon gar nicht am Morgen und schon mal ganz und gar nicht unmittelbar vor der Meisterprüfung. Aber ich fühlte mich gut, vielleicht auch nur, weil ich mich so etwas herunterfahren konnte, folgte dann meiner Gruppe, die schon im Gang vor dem großen Saal auf Einlass wartete. Die meisten standen dort ruhig, aber sichtlich angespannt, der eine Kollege rutschte wie schon beschrieben mit seinen Ordnern auf dem Boden herum und Bernhard, der ja ursprünglich auch zu unserer kleinen vierer Lerngruppe gehörte, saß in der Ecke, wackelte mit dem Kopf hin und her und lachte leise vor sich hin. Beim Blick in seine Augen konnte man meinen, dass er die letzte Nacht durchgemacht, zu wenig Schlaf bekommen oder aber vor der Busfahrt zu dicht an der ominösen Qualmwolke gestanden hätte, die nicht nur die Augen, als auch sein Hirn benebelt hätte. Tatsächlich hatte es aber einen ganz anderen Grund, denn obwohl er ein ganzer Kerl war, Einzelkämpfer bei der Bundeswehr, mit Überlebenstraining im Wald, sozusagen der „Rambo der Pfalz", so ein harter Hund er auch war, so hatte er ein massives Problem mit Prüfungen. Da wurden die Handflächen feucht und die Zunge trocken, da wurde der Pfälzer-Rambo zum scheuen Reh, das wusste er und stand auch dazu. Als er mich einige Tage zuvor um Hilfe und um einen Rat bat, da empfahl ich ihm, einige Tropfen Baldrian zu nehmen, was er dann auch am Abend vor der Prüfung, einige Male in der Nacht, am Morgen nach dem Aufstehen, beim Treffen an der Schule und noch während der Fahrt im Bus nach Ravensburg tat.

    Besser wäre gewesen, er hätte sich den Beipackzettel für die richtige Dosierung genau durchgelesen, denn hier galt eben nicht, viel hilft viel, denn er war so breit und ruhig gestellt, fast schon sediert, dass er alles nur noch in einem schlafähnlichem Zustand zur Kenntnis nahm und völlig neben sich stand. Man hätte ihm im Gehen die Schuhe besohlen können, so langsam schlich er in den Prüfungssaal und wäre er in die Gruppe der Strickpulloverkollegen mit den speckigen Jeans gekommen, so wäre er von der Bewegungs- und Redegeschwindigkeit überhaupt nicht aufgefallen. Nur die Kleidung hätte ihn verraten und möglicherweise auch der Wissensstand, denn scheinbar hatten eben diese Kollegen, die sich im Dauerdelirium befanden, eine andere Hirnverdrahtung, die sich nicht von Sauerstoff und Vitaminen beeinflussen ließ. Sie kamen mit Narkotika jeglicher Herkunft auf den richtigen Level der Höchstleistung, denn um dem späteren Ergebnis vorzugreifen, hatten alle diese, nennen wir sie mal „Raucher", die Prüfung ausnahmslos, mit Erfolg, bestanden. Doch zurück zum Beginn, zurück zu Bernhard und der ersten anstehenden Prüfung, der Kalkulationsprüfung, die gleich mal mit vier Stunden angesetzt war, da saß er völlig abgedreht vor dem Aufgabenblatt, las, kicherte und kam überhaupt nicht in die Pötte, legte sich zurück, kaute an seinem Stift, starrte dabei unter die Hallendecke, nahm das Aufgabenblatt erneut zur Hand und begann von vorn. Bei der Kalkulationsprüfung war grundsätzlich Tempo angesagt, die Aufgabe hatte es in sich und schnell lief dir da die Zeit davon. Wir waren alle schon wild am Arbeiten und Rechnen, unsere Köpfe rauchten aus allen möglichen Öffnungen, nicht der von Bernhard, der las, kicherte, starrte unter die Decke und zählte die Fliegen.

    Simon, der nur wenige Plätze von mir entfernt saß, hatte allerdings auch erhebliche Startschwierigkeiten oder anders herum gesagt, Kalkulation war nicht das, was er zum Leben brauchte. Sein Steckenpferd waren Gesetze, Rechtskunde, Paragraphen und Politik, ja, das war seine Welt, da war er zuhause – nicht in der Kalkulation. Schon nach wenigen Minuten saß er inmitten unzähliger Papierknödel, die er nach jedem mißglückten Versuch, frustriert fast schon resigniert zusammenknüllte und immer hektischer hinter sich warf. Für eine Fließtextkalkulation mussten wir die Buchstabenmenge einer kleinen Broschüre ermitteln, ich erinnere mich noch daran, dass es eine Werbebroschüre des Ravensburger Puzzle Sortiments war und wie schon erwähnt, war die Kalkulationsprüfung in ein sehr eng getaktetes Zeitfenster gepackt, da durfte man nicht trödeln, keine kostbare Zeit mit dem Zählen der Buchstaben vergeuden.

    Ein annährender Wert, der grob ausgezählt wurde, reichte dafür vollkommen aus und das machte man wie folgt: Gezählt wurde eine repräsentative Seite (Buchstaben in einer Zeile x Menge der Zeilen x Menge der Seiten) und schon hatte man eine relativ gute, kalkulatorische Größe. Es gab tatsächlich einige Strategen in unserer Truppe, die Buchstabe für Buchstabe auszählten und immer wenn sie in der Zeile verrutschten oder durcheinander kamen, das entsprechend lauthals und mit Zorn und Wut der Allgemeinheit mitteilen mussten, was dann wiederum automatisch für sie die erste Verwarnung brachte, die von den Prüfern unnachgiebig, über Lautsprecher, mit der entsprechenden Prüfungsnummer, verkündet wurde. Ertönte die gleiche Nummer ein zweites Mal, hatte man sofort und ohne Diskussion den Raum zu verlassen und die Prüfung, aber auch alle folgenden, war damit dann schlagartig beendet.

    Ich weiß das deswegen so genau, denn fast wäre es mir so ergangen. Als wir den Raum betraten und unsere Plätze einnahmen, passierte etwas, dass es mir heute noch kalt den Rücken runter laufen lässt. Jeder Prüfling saß allein an einem Tisch, zwei Meter in alle Richtungen war freier Raum und dann, immer im Wechsel, auch noch unterschiedliche Berufsgruppen. Auf den Tischen standen Schilder mit der jeweiligen Prüfungsnummer und mit Betreten des Raumes wurde man nur noch mit dieser Nummer angesprochen. Ich war fortan und das für die nächsten drei Tage, die Nummer 227. Vor uns auf den Tischen lagen die Aufgabenblätter, nicht lesbar, mit dem Text nach unten und noch bevor wir die Plätze eingenommen hatten, wurden uns die Spielregeln über die Lautsprecheranlage mitgeteilt. Gerade fühlten wir uns noch wie die angehenden Manager von morgen, doch kaum ertönte die blecherne Stimme zuckten wir alle zusammen und aus dem knisternden Charme der Meisterprüfung wurde ein ängstlicher Haufen eingeschüchterter Menschen, die wie Gefangene einer Strafkolonie sich kaum zu bewegen wagten.

    „Lassen sie die Zettel noch umgedreht auf den Tischen liegen, bis die Prüfung eröffnet ist. Wer sich unwohl fühlt und den Raum jetzt noch verlassen möchte, für den gilt die Prüfung als nicht gemacht und ein nächstmöglicher Termin kann wahrgenommen werden. Wer nach Beginn der Prüfung den Raum verlässt, für den gilt die Prüfung als nicht bestanden." Auch in diesem Fall konnte dann der nächste Termin, in der Regel nach einem Jahr, für einen neuen Versuch ins Auge gefasst werden.

    Es schallte laut, mit tiefer und monotoner Stimme aus den Lautsprechern, es schien wie bei einer Bahnhofsdurchsage von ganz weit her zu kommen, es fühlte sich so kalt an und es war schwer, die Konzentration und Spannung aufrecht zu halten. Es saßen so viele Menschen in diesem Saal, aber trotzdem hatte man das Gefühl, allein und von der Welt verlassen zu sein. Noch während die Spielregeln verkündet wurden, nutzte ich die Zeit und baute meine Arbeitsutensilien und anderen notwendigen Dinge für die Prüfung auf den Tisch. Schreibgeräte, Taschenrechner, Ersatzrechner, Lineal, Notizblock und bevor mir nach dem Startschuss unnötige Zeit verstrich, nahm ich mir die leeren Blätter schon einmal vor und zog links wie rechts die vorgegebenen 2,5 Zentimeter Rand auf jedem Blatt. Konzentriert zog ich Linie für Linie, schrieb auf jedes Blatt meine Prüfungsnummer und bekam die Ansage der Prüfungsleitung nur noch im Unterbewusstsein mit, weit entfernt, ganz weit entfernt hörte ich zwar die Stimme, befand mich aber in meinem ganz persönlichem Tunnel, war nur noch mit meinen Linien beschäftigt und auf den alles entscheidenden, magischen Satz fixiert: „Und die Prüfung beginnt – jetzt!" Doch Pustekuchen, wie man so schön sagt, anstatt des langersehnten Satzes folgte ein ganz anderer, um nicht zu sagen eine deutliche Ansage, die in gewisser Weise auch eine Form von Magie war, doch mehr Schwarze Magie, denn die Lautsprecherstimme verkündete, beziehungsweise ermahnte die erste Prüfungsnummer und das, noch ehe die Prüfung überhaupt richtig begonnen hatte. Mit energischer, fast schon böser Stimme schallte es aus dem Lautsprecher: „Die Aufgabenzettel bleiben auf dem Tisch liegen und dürfen erst in die Hand genommen werden, wenn die Prüfung freigegeben ist!" – Man, was ist das jetzt wieder für ein „Drömmel", dachte ich mir, riskiert hier seine Meisterprüfung, schüttelte den Kopf und beschäftigte mich weiter mit der Vorbereitung meiner Kanzleibogen. Doch dann ertönte die Lautsprecherstimme ein weiteres Mal, noch lauter als zuvor, es war schon fast ein Brüllen: „Prüfungsnummer 227, das ist ihre erste und letzte Verwarnung, wenn sie das nächste Mal ihre Nummer hören, verlassen sie den Raum" und dieser Warnschuss galt dann für alle drei Prüfungstage. Wieder schüttelte ich den Kopf, verzog dabei sogar noch den Mund und konnte diese Leichtfertigkeit des Prüflings „227" überhaupt nicht nachvollziehen, als ich plötzlich aus den Augenwinkeln, mit dem Blick über mein Lineal auf meinem Namensschild die drei fetten Zahlen las: 227, da traf mich fast der Schlag, mein Bleistift flog im hohen Bogen aus der Hand bis über den Tisch und wie zur Salzsäule erstarrt saß ich da mit beiden Händen brav übereinander gelegt und blickte mit eingefrorenem Blick nach vorn zur Prüfungsleitung. Boah, dachte ich, das war dann mal knapp gewesen.

    Heiß und kalt lief es mir den Rücken hinunter, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, dass nun gerade ich der besagte „Drömmel" war. Ich hatte zwar nicht das Aufgabenblatt umgedreht, was vom Prüfer aus nicht zu erkennen war, aber ich hantierte mit Zetteln herum und das war nun mal nicht erlaubt. Ja, das Ding wäre dann fast in die Hose gegangen und ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich anschließend, nach dem Verweis aus dem Raum, mit den Prüfern und meiner Pfefferminz- / Bierfahne hätte diskutieren müssen und wahrscheinlich hätte mich dann auch genau dieser Prüfer noch zuvor beim Verlassen der kleinen Kneipe gesehen. Das wäre dann wieder der „Murphy" mit seinem Gesetz gewesen. Aber hätte, wenn und aber, es blieb zum Glück bei dieser ersten, einzigen und auch letzten Verwarnung.

    Bei der Buchstabenmenge erfuhren wir später, dass es tatsächlich 98.000 Zeichen waren und alle, die sich zwischen 80.000 und 115.000 bewegten, im kalkulatorischen Normbereich unterwegs waren. Ich hatte 95.000 angesetzt und Simon, der an dieser Hürde schon zu straucheln drohte, kämpfte, doch sein Blick verriet nichts Gutes. Ich schrieb meine ermittelte Zahl auf ein Blatt Papier und wollte sie ihm irgendwie zukommen lassen, doch blöderweise saß er ja nicht direkt neben mir und nachdem ich meine einzige Verwarnung bereits verschossen hatte, war dies äußerst gewagt und riskant. Mit Schnalz- und Zischgeräuschen wollte ich auf mich aufmerksam machen, zerknüllte mein Blatt mit der darauf notierten Zahl ebenfalls zu einem Papierball und ließ ihn nach unten, zu meinen Füßen, fallen. Dieser Bereich war von den Prüfern nicht einsehbar. Als Simon zu mir sah, da versuchte ich ihm irgendwie mit dem Finger nach unten zeigend zu signalisieren, dass ich ihm helfen wollte und schoss ihm meinen Papierball zu, der sich allerdings mit seinen gefühlten 5.000 anderen Papierbällen auf dem Boden vermischte. Simon verstand nicht was ich meinte und äußerste sich sogar wütend, lautstark mit dem Zorn der Verzweifelung und dann auch noch passend im Dialekt: „So ein Dreck ein verdammter – I blick`s net" und schüttelte den Kopf energisch herum. Unser Klassenlehrer, Herr Meier, der ebenfalls als Aufsicht durch die Reihen ging, erkannte meinen gutgemeinten Hinweis sehr wohl, bückte sich, fischte genau meinen Papierknödel aus der Menge vom Boden, öffnete, las, blickte zu mir, nickte ruhig und zustimmend und tippte im Vorbeigehen auf Simons Blatt, sah ihn dabei an und sagte: „Nehmmen `se 105.000, das ist eine gute Zahl", wandte seinen Blick ab und ging ruhig und gemächlich weiter. Als er bei mir ankam stoppte er und sprach genauso ruhig und leise, wie er auch durch die Gänge schlich: „Passen `se schön auf", hob dabei mahnend den Finger und ging weiter.

    Ja, manchmal braucht man so einen kleinen Anschubser, der den Einstieg dann erst möglich macht, Simon hatte es geholfen, für den Rest der Prüfung glühte der Stift und sein Hirn war am Rauchen. Und die Moral von der Geschicht`, nein, eine Moral gab es da nicht, vielmehr ein Happy End, denn nach erfolgreich bestandener Meisterprüfung trat Simon schon unmittelbar danach eine neue Arbeitsstelle an und war fortan als Chefkalkulator in einer großen Firma beschäftigt.

    Und so stand ich da nun früh morgens vor der Kneipe zum Scharfen Eck und schmunzelte mit den Gedanken an diese Geschichte und es gab überhaupt keinen Grund nicht hinein zu gehen, warum auch, ich hatte nichts verbrochen, hatte zu arbeiten, suchte ein lauschiges, ruhiges Plätzchen, also trat ich ein! Noch bevor ich einen Guten Morgen wünschen konnte, wurde ich auch schon mit einem: „Ah, der Stammgast", von Sylke begrüßt, die hinter der Theke eine ganze Batterie Gläser zum Spülen aufgereiht hatte. „Genau", antwortete ich, „nur heute habe ich zu arbeiten" zeigte dabei auf meine Umhängetasche und steuerte zielstrebig auf den Tisch in der Ecke zu, wo der Fernseher hing, denn der Tisch schien mir für meine vielen Zettel am besten geeignet. Sylke sah mir neugierig nach und beobachtete aus der Distanz, was ich da so alles auf dem Tisch aufbaute. „Ein Alkoholfreies, wie sonst?", rief sie rüber, ich drehte mich zu ihr, überlegte kurz und entschied mich für einen Kaffee, aber einen großen Kaffee, „Am liebsten einen Pott", rief ich zurück, „nur mit Milch" und lächelte dazu. „Hab` schon verstanden", kam von ihr zurück „und natürlich mit Keks, hab` ich Recht?" und lachte ebenfalls. Natürlich mit Keks, dachte ich, die konnte ja Fragen stellen und rollte mit den Augen, denn der Keks gehörte doch dazu, wie das Salz in der Suppe und baute dabei mein kleines Büro auf.

    Dann konnte es losgehen, ich nahm mir einige Zettel zur Hand und natürlich war auch ich gespannt, was da nun für Wünsche der Bewohner zu Tage kamen. Gerade als ich den ersten Zettel lesen wollte, da kam auch schon Sylke mit dem Kaffee um die Ecke. „Boahh, das sieht ja echt voll nach Arbeit aus", sagte Sylke, stellte das kleine Tablett auf den Tisch, das heißt, sie musste erst ein wenig Platz machen und ein paar von den Zetteln nach hinten schieben. Ich spürte ihre Neugierde und bevor sie zu zerplatzten drohte, erzählte ich ihr von meiner Idee, von den Gedanken und vom Dienstagabend. „Ja und nun sitze ich hier und will mal sehen, was die Bewohner notiert haben", zwinkerte zu ihr rüber und nahm den ersten Zettel in die Hand.

    Sylke nickte wohlwollend zurück, ging zurück zur Theke. „Na, da bin ich aber auch mal gespannt", rief sie noch über die Schulter zurück, bevor sie sich wieder an das Geschirr und die Gläser machte.

    Auf dem ersten Zettel stand nicht etwa nur ein Wort oder ein formulierter Wunsch, nein, es war sogar eine kleine Geschichte mit der die Auswertung meiner Zettel begann:

    „Ich erinnere mich sehr gern an meine Großeltern", stand da geschrieben, „an die Zeit, als ich als kleines Mädchen gemeinsam mit meinem Bruder dort die Wochenenden verbringen durfte. Der Opa hatte sich für uns Kinder zerrissen und die Oma, sie stand in der Küche am Herd, hatte gebacken und gekocht und es gab so viele schöne und durchaus auch einfache Sachen. Es gab so viele alte Erinnerungen, aber an ein Essen denke ich voller Wehmut zurück, denn dieses Essen würde ich sehr gern noch einmal genießen, doch leider ist es hier in Deutschland nicht so bekannt."

    Und am Ende des Zettels, stand unten rechts geschrieben: „Plaaten in de Pann" und mit noch kleinerer Schrift direkt dahinter, „… und der Opa hat es auch geliebt!"

    Ich fand das sehr emotional. Da las ich gerade den Wunsch einer älteren Dame, wie sie von den Wochenenden bei den Großeltern träumte, schwärmte und ihr Herzenswunsch ein altes Gericht aus den Kindertagen war. Unglaublich, wie genügsam dieser Absender war. So las ich einen Zettel nach dem nächsten und beschloss die Informationen in eine Art Tabelle zu schreiben, die wiederum in unterschiedliche Kategorien aufgeteilt war.

    11.2__Wunschliste – Auswertung

    Essenswünsche:

    - Erbsen und Klöße

    - Arme Leute Sauce

    - Steckrübensuppe

    - Plaaten in de Pann (Bratwurstschnecke / Mettwurstscheiben mit Bratkartoffeln)

    - Graupensuppe

    - Reisbrei mit Zimt und Zucker

    - Quark und Kartoffeln

    - Senfeier

    - Königsberger Klöpse

    Kuchen:

    - Käsekuchen mit Schokostreusel

    - Schmandkuchen

    - Apfelkuchen

    - Kalte Schnauze, Kalter Hund

    - Fettkrapfen

    - Apfelstrudel

    - Frankfurter Kranz

    - Rhabarberkuchen

    - Zuckerkuchen

    Ausflüge / Tagesfahrten / Städtereisen:

    - Auf ein Weingut zur Weinprobe

    - Bierseminar / Brauereibesichtigung

    - Bio Bauernhof

    - Planetarium

    - Gartenausstellungen

    - Berlin: Deutscher Bundestag, Wannsee, Ku’damm,

    - München zum Oktoberfest, Seniorenstammtisch

    - Paris

    Workshops:

    - Handarbeiten

    - Basteln

    - Töpfern

    - gemeinschaftliches Puzzeln

    - Malen

    - Blumenzucht

    - Weihnachtsbäckerei

    Unterhaltung:

    - Gesellschaftsspiele

    - Dia - Vorträge aus fremden Ländern

    - Kino / DVD

    - Lesungen

    Bewegung / Gesundheit:

    - Tanztee

    - Fahrradtour (E-bike)

    - Salzgrotte

    - Wattwanderung

    - Jazzaerobic

    - Ernährung

    Theater, Kunst, Kultur:

    - Theater Besuche

    - Musicals

    - Konzerte

    - Ausstellungen

    Geist, Wissen:

    - Sprachkurse

    - Geistige Olympiade

    - Schach

    Reisen:

    - Afrika

    - Eisenbahnfahrt im Orient Express

    - Der Panamakanal

    - Leuchtturm „Roter Sand" mit Übernachtung

    - Flussschifffahrt Elbe / Rhein / Donau

    - Kameltour durch die Wüste mit Übernachtung in einer Oase

    - Rheinfall von Schaffhausen, Fahrt um den Bodensee mit Insel Mainau

    - 6 Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn von Novosibirsk nach Wladiwostok

    - Christenreise, wo alles begann: Bethlehem, Berg Sinai, See Genezareth,

    - Einmal auf der Chinesischen Mauer stehen

    - Mit dem Hausboot durch Holland

    - Das Gespenst von Canterbury: Eine Nacht auf den Spuren von Edgar Wallace

    Verschiedenes:

    - Weihnachtsstube (Glühwein, Punsch und leckere Kekse)

    - Teekreis

    - Frühschoppen oder Spätschoppen (Geschichten im Kaminzimmer)

    - Patenschaften

    - Hauszeitung, Rundschau

    Kuriositäten:

    - Erste Hilfe Kurs mit Frau Dr. Stern (stabile Seitenlage, Mund zu Mund Beatmung)

    - Eine Nacht im Kaufhaus eingeschlossen (gern auch als Seniorengruppenreise)

    - Mit dem Großsegler ums Kap Horn

    … und dann hatte ich auch schon den letzten Zettel in der Hand, der ordentlich zweimal geknickt und eigentlich ein kleiner Brief war. Mit sehr kleiner aber sauberer und gleichmäßiger Schrift war ein ganz besonderer Wunsch formuliert:

    Mein Herzenswunsch ist, einmal das Taj Mahal in Indien sehen.

    11.3__Lydia Westergaard und das Taj Mahal

    Dieser Wunsch hatte mich sehr berührt und nachdenklich gemacht, obwohl noch einige andere Reisewünsche dabei waren. Vielleicht lag es aber auch daran, weil es mit einer eindrucksvollen Geschichte sehr romantisch erzählt und formuliert wurde. Eigentlich hätte dieser Wunsch auch zum Abendprogramm ins Kaminzimmer gepasst.

    Seit meiner frühsten Kindheit begleitet mich der Wunsch das ferne Indien, insbesondere das „Taj Mahal zu sehen – einmal davor stehen zu dürfen. Ich kann nicht sagen wodurch dieser Wunsch sich so geprägt oder gefestigt hat, waren es die alten Kinderfilme, „Der Tiger von Eschnapur oder „Das indische Grabmal", die natürlich noch in schwarz/weiß ausgestrahlt wurden. Ich kann es nicht sagen, aber dieser Traum rückte natürlich von Jahr zu Jahr immer weiter nach hinten und wurde für mich immer unwahrscheinlicher. Es gab viele andere wichtige Dinge, die Kinder, das Haus, die Enkelkinder Lydia, irgendwann werden wir es schaffen, sagte mein Mann, doch dann kam die schwere kurze Krankheit und als ich seine Hand hielt bevor er einschlief, da sagte er noch mit schwacher Stimme: Und ich hätte dir doch so gern das Taj Mahal gezeigt – doch dann schloss er die Augen und ging allein auf seine letzte Reise.

    Natürlich ist es ist hier sehr schön, alle sind sehr nett, freundlich und liebevoll, aber ich glaube, dass Reisen für uns Senioren nicht mehr möglich und auch nicht mehr gedacht ist und so habe ich mich schweren Herzens damit abgefunden, dass das „Taj Mahal" wohl für immer ein unerreichbarer Traum bleiben wird und ich es nur noch in meiner Phantasie bereisen werde, wenn ich die Augen schließe und es mir ganz fest vorstelle.

    Bei der Frage jedoch nach meinem Herzenswunsch, da durfte ich für einen Moment in den alten Erinnerungen schwelgen, diesen Wunsch formulieren und ihn wenigstens für eine kurze Zeit träumen.

    Vielen Dank dafür, dass mir diese Möglichkeit zuteil wurde Lydia Westergaard

    Es war nur ein Wunsch unter vielen, aber dennoch war er anders. So liebevoll und warm verpackt, die Ehrfurcht vom „Taj Mahal" war deutlich zu spüren, aber auch Trauer und Leid lagen hier so dicht beieinander, ja fast schon mit einem Hauch von Resignation. „… aber ich glaube, dass das Reisen für uns Senioren nicht mehr möglich und auch nicht mehr gedacht ist", wiederholte ich in Gedanken den traurigen Satz von Frau Westergaard. Nicht mehr möglich, ok, irgendwann gibt es ganz klar körperliche Grenzen, da sagt der Körper dann schon was noch oder besser gesagt was eben nicht mehr so einfach möglich ist, doch der Zusatz „ … und auch nicht mehr gedacht ist", der machte mich sehr nachdenklich und ich markierte diesen Punkt auf meiner Liste, um ihn an einem der nächsten Dienstagabende vielleicht mit in die Diskussion zu nehmen.

    Ich war so vertieft und mit den Aufzeichnungen beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekam, wie sich die nette Bedienung Sylke direkt neben mir, das heißt, ganz in der Nähe meines Tisches, ebenfalls mit einem Pott Kaffee in der Hand dazugeschlichen hatte und mich bei meinem Tun beobachtete. Als ich sie bemerkte und zu ihr aufsah, da kam nur ein fast schon erschrockenes: „Störe ich?", über ihre Lippen, doch ohne die Antwort von mir abzuwarten, sprach sie auch gleich weiter und kommentierte die vielen Zettel: „Boah, ganz schön viele Wünsche", sagte sie, blickte dabei auf meine Liste, zog die Mundwinkel auseinander und nickte beeindruckt. Dann las ich ihr den letzten Wunsch von Frau Westergaard vor und war auf ihre Reaktion und Einschätzung gespannt. Während ich las rutschte sie auf den vor ihr stehenden Stuhl, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab, hielt dabei den Kaffeepott in beiden Händen und hörte aufmerksam zu. „Oh, das hört sich aber traurig an", war ihre erste Reaktion, presste die Lippen zusammen, wippte mit dem Kopf auf und ab, bevor sie weiter sprach: „Naja, das ist auch nicht so einfach mit dem Älterwerden, da geht eben vieles nicht mehr so wie man gern möchte. Und Indien, naja, das ist auch nicht mal gerade um die Ecke und so weite Reisen mit alten Menschen", da stoppte sie, presste die Lippen erneut aufeinander als wollte sie auf die möglichen Schwierigkeiten aufmerksam machen – „also ich stelle mir das nicht so einfach vor." Dann verstummte sie und beide blickten wir still in den leeren Raum, so wie es auch Opa Hentrichs Lieblingsbeschäftigung war. „Obwohl", sagte sie nach einer kurzen Denkpause, „einen Versuch wäre es wert, man müsste es halt mal ausprobieren" und fuhr mit dem Finger am Henkelmann auf und ab. „Taj Mahal – Indien, hmm, also wenn es dazu kommt, dann wäre ich dabei", sprach sie lachend weiter und blickte genau wie ich immer noch ins Nichts, bevor sie sich wegdrehte und zurück zur Theke ging.

    Aber nein, das war natürlich unmöglich, Betreuung, Versorgung, Pflege, Mobilität, Finanzierung, rechtliche Grundlagen, die Sprache, ach, da gab es so viele Dinge die man hätte bedenken müssen und von denen bestimmt nicht alle zu lösen waren, was wahrscheinlich auch die Menschen hier wussten und vielleicht kam auch gerade deswegen der nüchterne Zusatz zu Stande: „ … und auch nicht mehr für uns gedacht ist." Das machte mich sehr traurig, war ich doch vor einigen Minuten noch so begeistert und motiviert, dass es eine so rege Beteiligung, mit so vielen Rückmeldungen gab, so musste ich versuchen diese negativen Dinge nicht zu sehr an mich heranzulassen, aber das war leicht gesagt, denn zu gern hätte ich alle diese Wünsche erfüllt, wenigstens aber die meisten, im Besonderen aber zumindest die „Herzenswünsche", doch wo war die Grenze? Waren es nicht alles „Herzenswünsche", ob groß, ob klein, ob Reise oder nur ein leckeres Essen, das an die Kindheit erinnerte? Ja, es war verzwickt, verdammt schwer, fast schon ein Teufelskreis und je mehr man darüber nachdachte, umso mehr wünschte man sich, gar nicht erst damit angefangen zu haben, denn der traurige Moment, auch nur einen dieser Wünsche als nicht realisierbar abzulehnen, den Menschen damit vielleicht ihre letzte Chance und Hoffnung zu nehmen, erneut Leid und Schmerz zuzufügen, dass machten dann auch die vielen anderen erfüllbaren Wünsche leider nicht besser. Wenn man nun jedoch einen Rückzieher machte und nur aufgrund dessen das Buch schloss, war es auch der falsche Weg, denn leider zeigte sich auch hier wieder einmal das alte Sprichwort in all` seiner Weisheit als auch Härte: „Licht und Schatten liegen so dicht beieinander!" Bevor nun ein Wunsch aber gleich abgelehnt oder zunichte gemacht wurde, gab es ja vielleicht auch noch eine Zwischenlösung, einen Kompromiss sozusagen, doch was für ein Kompromiss hätte es zum Taj Mahal geben können? Einen Dokumentarfilm oder ein Buch darüber zeigen – nein, in diesem Fall war es leider ein klares „NEIN", so traurig es auch war, aber dieser Wunsch war tatsächlich unlösbar und konnte nicht erfüllt werden.

    Da waren die anderen Wünsche, selbst die aus der Kategorie: „Kuriositäten", schon eher machbar, wenn ich an den Wunsch des 1. Hilfe Kurses mit Frau Dr. Stern denke, ein Wunsch, der ganz sicher von einem Mann formuliert, aber ganz sicher auch von allen anderen Männer im Haus ohne mit der Wimper zu zucken unterschrieben würde. Und da entspannten sich meine Gesichtszüge auch gleich wieder, das alte Schmunzeln war zurück und ich stellte es mir bildlich vor, wie die Herren der Schöpfung, als sterbender Schwan auf dem Boden des Sanitätsraums lagen, den Mund spitzten und mit geschlossenen Augen auf die Mund zu Mund Beatmung der Frau Dr. warteten.

    Das wäre doch mal eine tolle Idee, wenn sich dann die Tür des Raumes öffnen würde und anstatt der Frau Dr. als Vertretung Herr Dr. Möller in den Raum treten würde und ich muss kein Prophet sein, aber ich denke, wir könnten dann von einer plötzlichen Wunderheilung sprechen, denn die Herren der Schöpfung würden höchstwahrscheinlich und ohne fremde Hilfe, mit einem sportlichen Schwung aus den Knien wieder auf die Beine kommen! Vielleicht sollte ich das mit Frau Dr. Stern einmal genaue so besprechen, schmunzelte erneut und schloss die Mappe mit den Aufzeichnungen.

    Der Vormittag war fast gelaufen, die Liste erstellt und die Anspannung der letzten Tage ließ spürbar nach. Einige Fragezeichen waren verschwunden, ein paar neue kamen hinzu, wie würde der erste Gruppenabend angenommen werden, gab es überhaupt ein weiteres Interesse, beziehungsweise Beteiligung? Doch nun hatte ich einen Anfang, allerhand Punkte auf der Liste stehen, mit denen man ganz sicher etwas anstellen konnte. Im Scharfen Eck war ich immer noch der einzige Gast und steuerte mit meinem Pott Kaffee auch nicht gerade zur Umsatzsteigerung bei und gerade, als ich bezahlen wollte, da sagte die nette Bedienung, begleitet von einem unübersehbaren Augenrollen: „Der geht auf`s Haus" und pustete dabei tief, fast schon genervt, aus. „Das Trinkgeld hole ich mir aber beim nächsten Mal", rief sie mir noch lachend nach, während ich schon in meine Jacke rutschte und fast schon durch die Tür am Ausgang verschwunden war. „Ich werde daran denken", erwiderte ich, wünschte einen schönen Tag, winkte noch einmal zurück und ging. Auf dem Weg zurück zum Haus, sortierte ich gedanklich noch einige dieser gerade zuvor notierten Wünsche und musste ganz besonders beim 1. Hilfe-Kurs noch einmal deutlich schmunzeln, als ich mir das Szenario mit Herrn Dr. an Stelle von Frau Dr. vorstellte!

    Zur weiteren Vorgehensweise wollte ich eine Abschrift dieser Liste an meine treue und motivierte Mitarbeitern Frau Möller übergeben und sie in den nächsten Tagen damit beschäftigen, arbeiten und sich auseinandersetzen lassen. Mir war natürlich klar, dass sie alle diese Punkte auch erst noch mit ihren Freunden besprechen würde und das sollte sie auch, denn am nächsten Dienstag hätte ich gern schon einige Dinge dieser Liste in der Gruppe oder in Arbeitskreisen angeregt und zur Diskussion gestellt. Ja, ich glaube, das war gar keine so schlechte Idee, Arbeitskreise zu bilden, denen sich die Bewohner anschließen und dabei selbst entscheiden konnten, woran sie sich beteiligen wollten.

    Die Arbeitskreise konnten heißen, ja eigentlich so, wie ich sie auch schon in meinen Listen genannt hatte, vielleicht mit Ausnahme der „Kuriositäten", denn das wäre sonst ganz sicher die größte, wenn nicht sogar eine reine Männergruppe geworden!

    – Essen

    – Kuchen / Cafe / Winterstube / Stammtisch

    – Workshops

    – Theater / Kunst / Kultur

    – Geist / Wissen

    – Ausflüge / Tagesausflüge / Städtereisen

    – Bewegung / Gesundheit

    – Unterhaltung

    Bei der Rubrik „Reisen" hatte ich ehrlich gesagt einen Klos im Hals und wollte den Punkt gar nicht erst als Arbeitsgruppe anbieten, klammerte ihn zunächst aus, machte ihn für den Moment zur Chefsache – und damit war nicht der Vorstandschef gemeint!

    Als zusätzlichen Arbeitskreis konnte ich mir die Gruppe Hauszeitung / Redaktionsarbeit ebenso gut vorstellen, vielleicht gab es ja den einen oder anderen, der sich bei diesem Thema oder mit dieser Aufgabe gut aufgehoben und zu Hause fühlte. Ich dachte da an die Bewohner, die sehr mitteilsam waren, alles hörten, auch das – oder besonders das, was sie nichts anging, die von Geburt an einen Röntgenblick hatten und nichts, aber auch gar nichts für sich behalten konnten, die sogenannten „Quasselstrippen". Ok, Opa Hentrich gehörte jetzt nicht unbedingt dazu, aber da gab es schon noch ein paar ganz andere Kaliber, wenn ich so an meine Vorstandsvorsitzende dachte. Aber auch das „Sturmtief Helga" war eine prädestinierte und bestens geeignete Kandidatin, die perfekte Voraussetzungen mitbrachte, wenngleich sie auch nicht zu den Bewohnern zählte, aber das war ja auch nicht zwingend erforderlich.

    11.4__Sekretariat Frau Schiller

    Je mehr ich darüber nachdachte, desto interessanter fand ich die Arbeitsaufteilung, die für die Bewohner ja schon selbst eine neue Aufgabe und Veränderung bedeutete. Parallel wollte ich Herrn Günther informieren, das heißt, zuerst einmal einen gemeinsamen Termin abstimmen, um ihn vom ersten Treffen, den Reaktionen und meinen weiteren Gedanken, zu berichten. Und frei nach dem Motto: „Was du gleich kannst besorgen, das verschiebe nicht auf …" steuerte ich zielstrebig zum Verwaltungsbüro. Ich klopfte, trat ein und stand vor Frau Schiller, der guten Seele, wie sie von allen nur genannt wurde und blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht: „Oh, was ein seltener Besuch", sagte sie, stand auf und kam mir mit der ausgestreckten Hand sogar noch einen Schritt entgegen. Ja, da hatte sie auch Recht, denn überall strunzte ich im Haus herum, kannte fast schon die verborgensten Ecken, wusste wo die geheimen Frühschoppen und Stammtische abgehalten wurden, wusste wie geschickt ich dem Scheuerlappengeschwader ausweichen musste, doch den Weg ins Sekretariat, zur guten Seele Frau Schiller, den hatte ich tatsächlich noch nicht gefunden, gab ihr die Hand und begrüßte sie: „Sie haben ja Recht", erwiderte ich und schaute dabei verlegen, wie in Flagranti erwischt nach unten auf den Boden. „Und ich kann ihnen noch nicht einmal sagen, warum das so ist", sprach ich weiter und versuchte eine plausible Erklärung dafür zu finden. „Alles gut", antwortete sie immer noch mit dem gleichen Lächeln, „ich werde noch einmal darüber hinwegsehen und außerdem bin ich ja nur halbtags und dann auch nur drei Tage in der Woche hier", dabei zwinkerte sie mir zu und bot mir einen Kaffee an. Ok, dachte ich, wenn ich schon mal hier war und so nett eingeladen wurde und ganz ehrlich, jetzt konnte ich auch nicht gleich wieder verschwinden, nahm ich die Einladung an und setzte mich rechts an ihre Schreibtischseite.

    Wir kamen ins Gespräch und wie es nun mal so ist, auch vom Hundertstel ins Tausendstel. Wir sprachen über meinen Aufenthalt, über meine Woche und meine Gedanken, wir sprachen über Herrn Günther, über Mathilde, sprachen über fast alles was ging, über Gott und die Welt – nicht aber über sie. So entwickelte sich ein lockeres, ja schon fast munteres Gespräch und als ich sie direkt auf ihr Leben ansprach, was es denn da Aufregendes zu berichten gäbe, da kippte die Stimmung schlagartig. Sie verstummte, blickte auf den Boden und das fast schon dauerhaft freundliche Gesicht veränderte sich von der einen Sekunde auf die nächste.

    Verstört drückte sie die Finger von der einer zur anderen Hand. War es Angst, Nervosität, Kummer oder etwas von allem, auf jeden Fall bekam die gerade noch so muntere Runde einen stillen, traurigen und faden Geschmack. So eine Situation, bei der man die Zeit hätte zurückdrehen wollen. Schnell war mir klar, dass ich nicht nur mit einem Fuß in das berühmte Fettnäpfchen getreten bin, sondern bereits mit beiden Beinen etwa knietief darin stand und überhaupt nicht wusste, wie ich da wieder herauskommen oder wenigstens die Stimmung in eine andere Richtung bekommen konnte. Im Grunde genommen war in so einer Situation alles was man machte falsch und da war ich heilfroh, dass sie es dann war, die die unangenehme Stille unterbrach. „Jeder hat seine Geschichte, der eine mehr, der andere weniger und ein jeder trägt sie mit sich herum, muss sie verstehen und so akzeptieren, wie es ist", dann war es wieder still und ich hätte mich ohrfeigen können, doch ich konnte ja nicht ahnen, dass ich mit meiner Frage alte Wunden aufriss. „Nun, ja", sprach sie weiter, hob dabei die Stimme und versuchte etwas Energie und Fröhlichkeit zu zeigen, was aber in so einer Situation in der Regel nicht wirklich echt und ehrlich scheint. „Und wenn ich meine Geschichte verstanden habe und die Zeit dafür reif ist", sprach sie weiter und richtete den Blick auf, „dann werde auch ich meine Geschichte erzählen", verzog sie die Mundwinkel zu einem künstlichen Lächeln und versuchte von den traurigen Gedanken abzulenken.

    „Aber was ist überhaupt der Grund ihres Besuchs?", fragte sie mit der gleichen munteren und kraftvollen Stimme wie zuvor weiter. Und gerade als ich loslegen wollte, da öffnete sich die Tür und Herr Günther kam mit wehenden Rockschürzen hinein. Beide zuckten wir zusammen und auch er blickte überrascht, denn mit mir hatte er im Sekretariat ganz sicher nicht gerechnet. „Und genau er ist der Grund meines Besuchs", rief ich lachend, zeigte mit dem Finger auf Herrn Günther und war froh, aus der traurigen Nummer von zuvor doch irgendwie heil herausgekommen zu sein. „Und genau DAS habe ICH befürchtet", war seine ebenso spontane, wie auch schlagfertige Antwort, ging an uns vorbei, was schon fast ein Laufen war und rief dabei über die Schulter: „Hab` nur was vergessen, bin gar nicht da", kam mit einer Mappe in der Hand aus seinem angrenzendem Büro zurück, stoppte kurz „und bin schon wieder weg." Aber natürlich ließ er uns nicht einfach wie zwei Deppen stehen, fragte höflich um was es ging, doch ich spürte, dass er nicht nur in Eile, sondern auch angespannt wirkte und ich signalisierte ihm, dass ich ihn morgen, wenn er Zeit hätte zur Berichterstattung aufsuchen wollte.

    „Prima, freue mich", rief er über die Schulter, war dabei schon fast wieder an der Tür und mit einem, „habe am Nachmittag Zeit", war er auch schon wieder verschwunden. Zu hören war nur noch das Klacken der Tür und die Schritte die sich im Gang von uns entfernten. Frau Schiller sah mich an, presste die Lippen zusammen, runzelte die Stirn zu ein paar Falten und sagte: „Der Aufsichtsrat hat zum Appell gerufen" und bewegte dabei den Kopf bedenklich hin und her. Eigentlich brauchte sie gar nichts erklären, ich hatte die Situation schon richtig eingeschätzt und verstanden und kannte solche Momente nur zu gut aus meiner Vergangenheit. Ich bedankte mich bei Frau Schiller für den Kaffee, die Zeit und meldete mich für den nächsten Tag zum erneuten Besuch an. „Da habe ich meinen freien Nachmittag", sagte sie, zog die Augenbrauen hoch, lächelte und wünschte mir mit dem Chef für morgen einen schönen Nachmittag, bevor sie die Tassen wegräumte und sich wieder an die Arbeit hinter den Computer setzte.

    Ich notierte mir den Termin in meinem Handy, 16 Uhr, Herr Günther und beschloss die restliche Zeit bis zum Mittagessen mit Opa Hentrich`s Lieblingsbeschäftigung zu verbringen. Nichts tun, nur geradeaus gucken, wenig reden und nachdenken. Aber natürlich nicht vor dem Haus bei Opa Hentrich, nachher fühlte er sich dadurch belästigt oder sogar nachgeäfft und suchte mir den lauschigen Platz im hinteren Gartenbereich, setzte mich nicht nur auf die Bank vor der Hibiskushecke, sondern machte es mir richtig bequem, legte die Beine seitlich auf, verschränkte die Arme entspannt vor dem Körper und blickte verträumt ins Nichts! Gedanklich legte ich mir noch einmal die ausgewerteten Punkte zurecht, blieb aber immer wieder beim Taj Mahal, dem Herzenswunsch von Frau Westergaard, hängen. Der verträumte Moment war nur von kurzer Dauer, ein Blick auf die Uhr, 12:30 Uhr, Mittagessen hatte schon begonnen und so marschierte ich mit den Gedanken zum Essensraum. Es gab Königsberger Klopse mit Kartoffeln und natürlich mit Kapern. Ich setzte mich allein an einen Tisch, wurde von niemanden angesprochen, noch nicht einmal von meinem Vorstand Frau Möller. Und kaum hatte ich darüber nachgedacht, warum das so war, da kreiste auch schon mein Blick suchend durch den Raum. Wo war sie überhaupt? Ich konnte sie nicht finden, war sie vielleicht schon durch, was jetzt nicht sonderlich schlimm, ganz im Gegenteil, auch mal ganz angenehm ohne sie sein konnte, denn ohne respektlos zu wirken oder ihr zu nahe zu treten, einfach nur mal ruhig zu sitzen und nicht ständig reden oder zuhören zu müssen, war auch mal schön.

    So konnte ich die Klopse in aller Ruhe genießen und sie mir förmlich auf der Zunge zergehen lassen und was Frau Möller anging, die lief mir schon nicht weg, da war ich mir aber so was von sicher, denn spätestens zum Kaffeetrinken wollten wir uns ja sowieso treffen.

    Wo liegt eigentlich das Taj Mahal, stellte ich mir selbst die Frage? Na klar, in Indien, aber wo genau und ich spürte, dass mich dieses Taj Mahal immer fester umklammerte und neugierig machte. Ich beschloss nach dem Essen einfach mal auf der Weltkarte nachzusehen, um mich zu informieren und natürlich auch um vorbereitet zu sein, denn ich war mir ganz sicher, das es noch das eine oder andere Gespräch darüber geben würde. – Zurück im Zimmer, Laptop aufgeklappt, Google Earth angeklickt und schon lag mir die Welt zu Füßen, beziehungsweise auf dem Bildschirm vor mir und wenn ich da an meine Schulzeit zurückdachte, wow, da hatte sich schon einiges getan. Nicht nur an der Jahreszahl, als vielmehr an der Technik des Erdkundeunterrichts, wie es damals bei uns ab der fünften Klasse hieß.

    11.5 __Dr. Schorse

    Nur zu gut erinnere ich mich noch an unseren damaligen Lehrer, den wir beim Wechsel von der Grundschule, zur Mittelschule bekamen. Dr. Georg Wikat, er war groß, sehr groß, groß in alle Richtungen, sah ein wenig aus, wie die geklonte Mischung der Comicfigur Obelix und dem alten deutschen Schauspieler Theo Lingen, groß war auch sein Umfang, wenig Haare, seitlich bis weit über das Ohr wegrasiert. Wenn morgens ein alter in die Jahre gekommener, dunkelgrüner VW Variant auf den Schulparkplatz fuhr, ein Auto, das fast ebenso alt, wie klapperig schien, mit dem FDP Aufkleber in der einen Ecke und einem fetten Aufkleber genau in der Mitte der Heckscheibe, mit dem Aufdruck: „Lasst Hess frei!", dann standen da immer gleich ein paar von ihm zuvor beauftragte Schüler, die ihm beim Tragen der Aktentasche oder sonstiger Unterlagen behilflich waren, denn er bewegte sich schwankend, nur sehr langsam vorwärts, als hätte er mit einer alten Kriegsverletzung zu kämpfen. Später stellte sich heraus, dass es seine gesundheitsbedingten Gewichtsprobleme waren, die mitunter sogar nur mit Krücken zu bewältigen waren.

    Ein Doktor als Lehrer, spätestens hier wurde uns klar, dass die wohlbehütete Grundschulzeit mit Klettergerüst und Drehspinne auf dem Schulhof Vergangenheit war und auch die liebe Frau Hauer, die uns als Klassenlehrerin und fast schon wie eine Ersatzmutti an die Hand nahm und bis zur vierten Klasse begleitete, nicht mehr dabei war. Der Ernst des Lebens hatte spätestens hier begonnen und schien nun Dr. Wikat zu heißen. Er wirkte nicht nur groß, sondern auch streng, doch auch hier sollte sich schon sehr bald herausstellen, dass er zu den Top 5 der begehrtesten Lehrer im Ranking zählte, so war es jedenfalls bei mir. Er hatte so eine ehrliche, manchmal schon fast kindliche Art an sich, dann aber auch wieder die raue Schale der Kriegsvergangenheit. Ein Lehrer der alten Schule, der seine eigenen Methoden und Techniken hatte, die nicht ganz unumstritten, aber durchaus erfolgreich waren. Früher war es so, dass man bei einer nicht gemachten Hausaufgabe einen Strich in das legendäre rote Lehrerbuch bekam und bei drei erfolgreich gesammelten Strichen gab es dann einen Eintrag ins Klassenbuch, was grundsätzlich in Ordnung war, der jedoch daraus resultierende Brief an die Eltern nicht. Der bedeutete grundsätzlich immer Stress, traf die Eltern, aber auch einen selbst, immer im ungünstigsten Moment, zog einen langen und ausgiebigen Redebedarf mit sich und endete in der Regel mit saublöden Sanktionen. Kurz gesagt, Brief an die Eltern war doof und musste in welcher Form auch immer verhindert werden. Und zum Glück hatten wir da mit Dr. Wikat, genau den richtigen Partner an unserer Seite, der sein eigenes, innovatives System nicht nur erfolgreich, sondern auch über die Jahre der alten Schule, schlagfertig verfolgte – ein System das nicht unbedingt mit der Zeit ging, aber manche Dinge im Leben sind halt so, ändern sich nie und bleiben einfach zeitlos.

    Wie gesagt, er war ein Lehrer der alten Schule, hatte seine eigene Methode, die weitaus unbürokratischer und mit deutlich weniger Verwaltungsaufwand behaftet war: Eintrag ins Klassenbuch, Brief an die Eltern – pffff sagte er mal: „Kann man machen, muss man aber nicht", denn seine Methode war ebenso lehr-, wie auch erfolgreich, auf jeden Fall aber schnell, kurz und schmerzlos – naja im Normalfall. Beim besagten dritten Strich musste man zu ihm nach vorn ans Lehrerpult treten und es begann die Prozedur mit der obligatorischen, alles entscheidenden Frage: „Eintrag ins Klassenbuch und Brief an die Eltern oder?" und genau dieses „oder" war eine sehr interessante, als auch lukrative Möglichkeit, eine Freikarte für alle Hausaufgabenfaulen und Schnarchnasen, der „Joker" sozusagen, denn wir entschieden uns nicht nur

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